: Ein Tankrüsel war sie nicht
Trotzdem zählte die „Ernestina“ in Rinteln einmal zu den wichtigsten geistigen Zentren Deutschlands – zumindest in puncto Hexen
VON CORNELIA KURTH
Oft, wenn ich durch die Straßen und Gassen meiner kleinen Stadt Rinteln an der Weser gehe, dann wünsche ich, eine Zeitmaschine führte mich so dreihundertsiebzig Jahre in der Zeit zurück. Oh, ich weiß, im 17. Jahrhundert durchströmten die Truppen des Dreißigjährigen Krieges die Stadt, und mehr als einmal wurden die Bürger übel ausgeraubt; es gab Jahre der Pest und der Überschwemmung, und manche Hexe wurde hier jämmerlich dem Scheiterhaufen übergeben.
Aber damals war Rinteln mit seinen knapp dreitausend Einwohnern eine richtige Universitätsstadt! Im Juli des Jahres 1621 gründete der ehrgeizige Fürst Ernst von Schaumburg eine Hochschule, die er nach sich selbst „Ernestina“ nannte, und stattete sie mit dem schwer zu ergatternden (und teuer zu bezahlenden) kaiserlichen Privileg aus, ohne das keine akademischen Grade wie Magister- und Doktortitel verliehen werden durften. Wie wohl lebte es sich in einem bäuerlichen Städtchen, dessen Bürger noch ins Mittelalter zu gehören schienen, dessen Fürst es aber zum Ausgangspunkt für Forschung und Bildung machen wollte?
Schon ein oberflächliches Durchstöbern alter Dokumente zeigt, dass sich die Rintelner Bürger vor Ort alles andere als begeistert oder gar stolz darüber gaben, dass das alte innerstädtische Benediktinerkloster zur Universität werden sollte. Nicht nur sahen sie, zu Recht, höchst unangenehme Kosten auf sich zukommen, es empörte sie auch, dass es plötzlich zum Beispiel hieß, diejenigen unter ihnen, die überwiegend von der Landwirtschaft lebten, sollten nun gefälligst die Misthaufen vor ihren Ackerbürgerhäusern beseitigen, bevor die anspruchsvollen Akademiker daran Anstoß nehmen könnten. Auch am Warenangebot, mit dem bisher doch alle zufrieden gewesen waren, wurde von den fürstlichen Planern arrogant herumgemäkelt, und für den Bau einer geforderten Apotheke musste sogar ein Kredit aufgenommen werden.
Darüber hinaus wurden die Studenten eindeutig in vieler Hinsicht bevorzugt! Normale Bürger, die ihren Nachttopf, wie es damals üblich war, aus dem Fenster auf die Straße entleeren wollten, hatten vorübergehende Passanten dreimal laut mit dem Ruf: „Kopf weg!“ zu warnen. Wie ungerecht nun, dass Studenten, die bei einem Professor logierten, das Vorrecht genossen, schon nach einem einzigen Ruf den Unrat auskippen dürfen! Zumal Wort und Tat oft allzu schnell aufeinander folgten …
Hinzu kam, dass die Sperrstunde für Universitätsangehörige nicht galt und die armen Nachtwächter ihre liebe Not hatten, ihre Aufgabe zur Zufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung zu erfüllen. So manchen nächtlichen Streich spielten ihnen die trunkenen Studenten, und wenn man sie zur Rechenschaft ziehen wollte, dann lachten sie nur: Ein grundsätzliches Problem im Miteinander bestand nämlich darin, dass Studenten der normalen Gerichtsbarkeit entzogen waren. Schulden, die sie machten, waren schwerlich einzutreiben, Schäden, die sie verursachten, wurden kaum ersetzt, und kam manch einer für besonders üble Vergehen in den durchaus vorhandenen Universitätskarzer, dann ging es dort, nach allem, was man hört, recht lustig und weinselig zu.
Anderseits beschwerten sich auch die Akademiker nicht schlecht: bornierte Bauern, die einen schon in der Frühe mit dem aufdringlichen Knallen von Dreschflegeln wecken, so beschrieb später ein Professor voller Verachtung die wackeren Rintelner, die sich mit diesen morgendlichen Arbeitslärm wahrscheinlich (nicht anders als heutzutage nur zu gern die Straßenarbeiter …) dafür rächten, dass die Langschläferstudenten des Nachts mal wieder aus der extra für sie eingerichteten „Universitätskomisse“ herausgetorkelt kamen, unverschämt krakeelten und hier und da ungestraft die Fensterscheiben einwarfen.
Auch waren die Studenten nicht gerade erfreut, dass ihre ursprünglich großzügig angesetzten Stipendien bald arg gekürzt wurden und kaum Geld für eine halbwegs brauchbare Bibliothek zur Verfügung stand. Aber was sollte man tun? Der Krieg hatte die Kassen erschöpft, und von den Professoren waren keine Steuereinnahmen zu erwarten. Im Gegenteil, sie erhielten mietfreie „Professorenhäuser“ und schnappten den Bürgern auch noch studentische Untermieter weg, ohne dass ein Anteil der eingenommenen Miete in die Stadtkasse zurückgeflossen wäre.
Soviel die Stadthistoriker auch suchen in den alten Berichten, es scheint, dass weder die Universitätsangehörigen ein gutes Wort für die Bürger der Stadt noch die Rintelner ein nettes Angedenken an die Studenten hinterlassen haben. Auch im Heimatmuseum fällt in der entsprechenden Abteilung als Erstes ein großes Gemälde ins Auge, das Studenten beim Saufen zeigt.
Was nun die Inhalte der Lehre betrifft, so wäre man als ein heutiger mit der Zeitmaschine zurückversetzter Mensch allerdings ziemlich irritiert: Wie noch bis ins 19. Jahrhundert hinein an den meisten deutschen Universitäten gab es auch in Rinteln einzig die klassischen Fakultäten, nach deren Studium auch mit „heißem Bemühn“ schon Doktor Faustus klagte, er sei „so klug als wie zuvor“: Philosophie, Juristerei, Medizin und Theologie. Grundsätzlich seien die Lehrveranstaltung eher rückständig gewesen, so urteilen Historiker heute. Immerhin, die Uni bildete Pastoren, Lehrer, Mediziner und Verwaltungsbeamte für ganz Nord- und Mitteldeutschland aus, zum Teil kamen die Studenten sogar aus Norwegen, Dänemark, dem Baltikum, Holland und Frankreich. Einer der Professoren schreibt über die Studenten (allerdings ist das bereits im Jahr 1761), sie seien „stille und gesittet, und auch ihr Fleiß scheint ganz gut zu sein“. Der Rintelner Geschichtsschreiber Walter Maack sagt: „Rinteln ist gewiss unter den deutschen Universitäten eine der kleinen und keine der hellen Leuchten gewesen. Ein Trankrüsel aber war sie auch nicht, eher eine freundlich wärmende Lampe, von der Behagen ausging. Dass sie dennoch ihre Pflicht getan und Tausenden, die sich im Leben bewährten, das Rüstzeug gegeben hat in redlichem Mühen und ehrlicher Arbeit, darf man der Ernestina nicht vergessen.“
Einer der Rintelner Professoren allerdings, Hermann Goehausen, ein ganz junger Jurist aus dem katholischen Ostwestfalen, trat bereits 1630 mit einer eigenen Veröffentlichung auf einem überaus heiklen Gebiet hervor: der Frage nämlich, in welchen Fällen Menschen als Hexen oder Zauberer angeklagt werden durften und mit was für Mitteln sie gegebenenfalls „befragt“ werden sollten. Im weiten Umkreis, bis hin nach Minden, Lemgo, Loccum, ja Bremen, waren es die Juristen der „Ernestina“, die zu Rate gezogen werden mussten. Dass kaum jemand der Anklage entkam und dass praktisch immer die „peinliche Befragung“, die Folter, angeordnet wurde, war eindeutig Professor Goehausens fragwürdiges Verdienst.
In messerscharfer Argumentation zeigt er in seinem jahrzehntelang tonangebenden Buch „Processus juridicus“, dass man Hexen nur dann als solche erkennen könne, wenn man die Verdächtigten der Folter unterwerfe. Ohne dieses großartige „Mittel der Wahrheitsfindung“ gäbe es in der naturgemäß nur schwer nachweisbaren Hexerei keine Geständnisse (und ganz ohne Geständnis sollte die Verurteilung zum Tode nun auch nicht erfolgen). Die Erfolgsquote an überführten Hexen war sehr befriedigend.
Diese Praxis der Rechtsprechung änderte sich auch nicht durch eine weitere in Rinteln gedruckte Veröffentlichung zum Thema, die dafür aber berühmt wurde als ein beeindruckendes Dokument der Aufklärung und vielleicht auch manchem Studenten zu denken gab: Beim mutigen Rintelner Universitätsbuchdrucker Peter Lucius erschien, zunächst anonym, Friedrich von Spees Streitschrift gegen die Hexenverfolgung („Cautio Criminalis“, 1631). In einem geradezu verzweifelt brillanten Diskurs nennt Spee, ein Paderborner Jesuitenpater, der nur zu oft „Hexen“ auf dem Weg in den Tod begleiten musste, alle verfügbaren Argumente, die auch heute noch gegen die Folter sprechen. Vielleicht hatte er Goehausen ja sogar überzeugt, mit dem er ja einer Meinung darin war, dass ohne Folter weder Geständnis noch Nachweis der Hexerei möglich sei, aber Goehausen starb kurz nach Veröffentlichung des Buchs.
Kann die kleine Stadt heute stolz sein auf ihre historische Universität? Als das an Universitäten reiche Preußen eine große Lehranstalt in Berlin plante, schickte es 1789 einen Beamten auf Deutschlandreise, damit er alle vierzehn außerpreußischen Universitäten einer Art „Uni-Ranking“ unterzöge. In seinem Buch über die „Academia Ernestina“ (1982) zitiert der Historiker Professor Gerhard Schormann genüsslich aus den erhaltenen Berichten, die ein wahrlich tragikomisches Bild der deutschen Hochschullandschaft geben. Bis auf die aufstrebende und finanziell bestens ausgestattete Göttinger Universität kommen alle anderen über die Note „mangelhaft“ nicht hinaus. Nicht nur niedrige Professorengehälter, dürftige Ausstattung an Lehrmitteln, todlangweilige Vorlesungen, die obendrein recht häufig ganz ausfielen, und uninteressierte Studentenschaften mit einem „rohen, wilden“ Lebenswandel musste der Beamte registrieren, sondern auch Professoren, die durch „Eitelkeit“ und „Streitsucht“ das akademische Streben zum Erliegen brachten.
Über Rinteln gibt es keine überlieferte Bewertung, und das ist wahrscheinlich nur gut so. Und doch habe ich mich als Rintelner Bürgerin in letzter Zeit manchmal gefragt, was wohl wäre, wenn die „Ernestina“ nicht im Jahr 1810, kurz nachdem sie mit allen Kräften den Anschluss an einen modernen Anspruch gesucht hatte, für immer ihre Tore geschlossen hätte. Schließlich haben auch die heute bedeutsamen Universitätsstädte Marburg, Heidelberg oder Gießen nicht den geringsten Grund, das Uni-Ranking von 1789 an die große Glocke zu hängen.
Schuld daran, dass die „Ernestina“ es nicht von einer mittelalterlichen Lehranstalt zu einer Forschungsuniversität schaffte, hat Jérôme Bonaparte, den man mit gutem Grund „König Lustig“ nannte. Der jüngste Bruder des Besatzers war von 1807 bis 1813 König des neu geschaffenen Königreichs Westfalen, und hätte er nicht so viele Finanzmittel für seinen aufwändigen Hofstaat gebraucht und neben fast allen kleinen Hochschulen in seinem Einzugsgebiet auch die „Ernestina“ geschlossen, dann brauchte ich zumindest nicht darüber zu fluchen, dass es hier keinen einzigen anständigen Buchladen gibt.
CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt, wie gesagt, in Rinteln an der Weser und schreibt dort Porträts, Selbstversuche und Kurzgeschichten
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