: Die Vatersucherin
aus Berlin SANDRA LÖHR
Töchter – von Fußstapfen, Erbhöfen und Altlasten (letzter Teil)Menschen, die ihre Eltern nie kennen gelernt haben, wollen mehr erfahren. Der Wunsch ist besonders stark, wenn das Leben eines Kindes bei den Stief- oder den Adoptiveltern schwer war
Es ist ein Zufall, dass sie ihn entdeckt. Erst sieht sie nur den Namen des Onkels in einem Buch. Und weil sie seit 14 Tagen alleine durch ihre Geburtsstadt Wien streift, in der sie keinen Menschen mehr kennt, und sich freut, in dem Antiquariat eine Spur ihrer abgerissenen Familiengeschichte zu finden, zeigt sie auf den Namen und sagt zu dem Inhaber: „Anton Kuh. Das war mein Onkel!“ Der alte Mann nickt und sagt: „Anton Kuh habe ich damals oft im Café Central gesehen, zusammen mit diesem Kokainsüchtigen Dr. Gross.“ Und dann zeigt er ihr eine 1978 erschienene Biografie über Otto Gross, „Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung“ steht auf dem Umschlag. Sie erkennt den Namen und weiß, dass sie ihren Vater gefunden hat.
Sophie Templer-Kuh war damals, im August 1982, gerade alleine aus den USA nach Europa zurückgekehrt. Eine allein stehende Jüdin Mitte 60, die während der Nazizeit ausgewandert ist. Es muss ein seltsamer Moment für sie gewesen sein, als sie das Buch durchblättert und vom Leben dieses Mannes liest, den sie nie kennen gelernt hat, weil er zu früh gestorben ist. Sie liest über seine Verbindungen mit Menschen wie Franz Kafka, Sigmund Freud, Max Weber und darüber, dass er sich vom Patriarchat, von der Familie und der tabuisierten Sexualität des Bürgertums lösen wollte und mit seinem radikalen Leben provozierte. Als Sophie Templer-Kuh das Buch entdeckt, das ihr zum ersten Mal ausführlich vom Vater erzählt, hat sie eigentlich schon ein Leben hinter sich, das für mindestens drei Leben gereicht hätte, als ihr mit einem Mal klar wird, dass erst jetzt ihr Leben als Tochter anfängt.
Berlin, im September 2003: 21 Jahre später sitzt sie in ihrer Berliner Einzimmerwohnung in der Nähe des Grunewalds und ärgert sich über die DSL-Leitung, die, ihrer Meinung nach, die Bilder und Texte, die es über ihren Vater im Internet gibt, nicht schnell genug auf den Bildschirm zaubert. Ungeduldig tippen ihre Hände auf die Maus des blauen I-Mac ein, dessen anschmiegsame, futuristische Formen mit dem antiken, eckigen Schreibtisch konkurrieren, auf dem er steht. Aber nicht der Computer wirkt in der Wohnung der zierlichen, rothaarigen, 86 Jahre alten Frau seltsam, sondern das antike Möbel sticht aus der Einrichtung hervor, die nüchtern und zweckmäßig ist. Wohnungen von weitgereisten Menschen, die fast ein ganzes Jahrhundert durchlebt haben, stellt man sich eigentlich anders vor: voller alter Möbel, Bücher, Bilder und sonstiger Erinnerungsstücke, die sich im Laufe der Zeit abgelagert haben.
Aber Sophie Templer-Kuh hat in ihrem Leben zwischen Österreich, Dänemark, Deutschland, England und Amerika so oft die Städte, Länder und Kontinente gewechselt, dass es meistens möblierte Wohnungen waren, in denen sie lebte, weil man aus denen einfach wieder ausziehen konnte, wenn es die Zeit und die Umstände verlangten. Und das taten sie oft in dem Leben der Otto-Gross-Tochter. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich hatte eigentlich nie Zeit, darüber nachzudenken, wer ich eigentlich bin und wer mein Vater war. Es ging immer nur darum, keine Angst zu haben und den nächsten Schritt zu machen.“
So lief das Leben, das sie bis zu diesem Tag, an dem sie ihren Vater in einem kleinen Buchladen in einem Wiener Innenstadtbezirk findet, führte.
Am 23. 11. 1916 als uneheliches Kind von Marianne Kuh und Otto Gross in Wien geboren, bekommt sie als Kleinkind Rachitis, weswegen sie, entweder kurz vor oder nach dem Tod ihres Vaters im Februar 1920, nach Dänemark zu Pflegeeltern gegeben wird. So genau weiß sie es nicht, aber das ist auch gar nicht wichtig. Die Trennung vom dänischen Pflegevater ist schwer, als sie mit acht Jahren nach Berlin geholt wird, wo die Mutter sich neu verheiratet hat und mit ihrem neuen Mann einen Sohn hat. Sophie spricht nur Dänisch und da sie sich nicht an ihren Vater erinnern kann, nimmt sie an, dass der große, dunkelhaarige Mann, der sie zusammen mit der Mutter in Dänemark abholt, ihr Vater ist. Alexander Solomoníca, ein eigenbrötlerischer rumänischer Schriftsteller kommt mit dem Mädchen nicht klar, und je älter das Mädchen wird, desto mehr Streit gibt es. Sie leben in Berlin nahe dem „Romanischen Café“, in dem die Mutter verkehrt und Sophie oft mitnimmt. Doch schon 1933 emigriert die Familie nach Wien. Dort fühlt sich Sophie isoliert, der Stiefvater will nicht, dass sie weiter die Schule besucht.
Als sie 18 ist, sagt die Mutter ihr den Namen ihres richtigen Vaters, erzählt knapp, er sei Psychoanalytiker und Anarchist gewesen. In dieser Zeit leidet sie immer mehr unter den Attacken des Stiefvaters, Details wird sie auch Jahrzehnte später nicht erzählen. Schließlich versucht sie, sich umzubringen. Die Mutter findet sie noch rechtzeitig und schickt sie als Au-pair nach London.
Als sie wieder nach Österreich zurückkommt, nimmt sie bald eine Stelle bei einer wohlhabenden jüdischen Konditorfamilie in Innsbruck an. Dort erlebt sie 1938 die „Reichskristallnacht“ und die Morde und Misshandlungen der Nazis an der jüdischen Bevölkerung. Sie begreift, dass es Zeit ist zu gehen. Freunde aus London vermitteln ihr ein Visum für Großbritannien, aber als sie nach Berlin zur britischen Botschaft fährt, lernt sie den 32 Jahre älteren Journalisten und Fotografen John Graudenz kennen. Sie ist zum ersten Mal richtig verliebt und zögert die Abfahrt, solange es geht, hinaus. Als sie auf Drängen der Botschaftsangehörigen endlich abreist, weiß sie nicht, dass sie John Graudenz nicht wiedersehen wird. 1942 wird er als Mitglied der Widerstandsbewegung „Rote Kapelle“ von der Gestapo verhaftet und hingerichtet.
Sophie schafft es, ihre Mutter und ihre beiden Halbgeschwister Eva und Michael nach England nachzuholen, aber für den Stiefvater ist es zu spät. Auch er wird von den Nationalsozialisten verhaftet und kommt im Konzentrationslager um. Während des Krieges arbeitet sie für die britische Armee, und obwohl sie den Nazi-Terror erlebt hat, hat sie Gewissensbisse, gegen das einstige Heimatland zu kämpfen. „Ich sagte mir immer wieder: Du kämpfst nicht gegen die Deutschen, du kämpfst nur gegen das Schlechte in den Deutschen.“
So, wie sie es erzählt, müssen die Erinnerungen an diese Zeit in ihr bohren. Sie spricht hastig, verliert sich in immer neuen Geschichten, die sich aus den alten ergeben, sie springt zwischen den Zeiten und den Menschen, und obwohl sie es immer wieder schafft, zum Ausgangspunkt zurückzufinden, merkt man: Es macht ihr Mühe, all die Bilder und Stimmen zu ordnen. Manchmal legt sie den Kopf nach hinten, schließt die Augen, und wenn sie sie wieder öffnet, sagt der Blick: Alles ist wichtig, es gibt noch so viel zu erzählen und die Zeit rinnt mir durch die Finger.
1946 heiratet sie in England Simon Templer und bekommt mit ihm zwei Kinder. 1960 findet ihr Mann eine Stelle in Hannover, sie ziehen nach Deutschland um. Doch dann verliebt sich ihr Mann in eine andere Frau und lässt sie mit den Kindern sitzen. Sie hat kein Geld und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Als ihre mittlerweile achtzehnjährige Tochter die Möglichkeit hat, in den USA zu arbeiten, ziehen Bruder und Mutter nach. Also Amerika. Zuerst New York, dann Los Angeles. Sophie Templer-Kuh übernimmt Putzjobs. Beim Putzen findet sie einmal in einem schmalen Buch, in dem die Vorlesungen von Freud abgedruckt sind, einen Hinweis auf ihren Vater. Aber sie hat keine Ahnung, wie sie weiterforschen könnte. Ihre Mutter ist seit langem tot und sie hat andere Probleme, als nach einem toten Vater zu suchen. Sie putzt auch bei den Reichen und Berühmten von Beverly Hills, die zu dieser Zeit beginnen, die sexuelle Befreiung zu feiern und mit Drogen zu experimentieren – Dinge, die ihr Vater in einer anderen Zeit, auf einem anderen Kontinent vorgemacht hatte. Aber das weiß sie da noch nicht. Und wahrscheinlich hätte sie die Wiederentdeckung des Vaters im Gefolge der 68er-Bewegung als Vordenker alternativer und subkultureller Lebensformen auch gar nicht so sehr interessiert, denn was sie in dieser Zeit braucht, wäre ein richtiger Vater gewesen, aber der ist nicht da und einen anderen Mann gibt es nicht. So zieht sie ihren Sohn alleine groß.
Heute denkt sie, dass ihr Vater, der sich für die Emanzipation der Frauen einsetzte, sehr stolz auf sie gewesen wäre, weil sie es alleine geschafft hat. Aber die Nähe, die sie heute zu ihrem Vater spürt, liegt weniger an seinen Schriften oder seiner Wissenschaft, sondern mehr am Interesse der Menschen, die sich heute mit Otto Gross beschäftigen. „Für mich hat sich ein Kreis geschlossen. Ich wusste ja mein ganzes Leben so gut wie gar nichts über meinen Vater. Und noch viel weniger wusste ich davon, dass es da Leute gibt, die danach forschen.“
Ihre Stimme schwankt noch immer zwischen breitem Amerikanisch und dem weichen Wiener Akzent hin und her, so als könne sie sich nicht entscheiden, in welches Land sie eigentlich gehört. Nur dass sie zu ihrem Vater gehört, das steht für Sophie Templer, geborene Kuh, nun fest, seit dem Tag, als sie in dem Wiener Antiquariat mehr über ihn erfuhr. „Es war ein Suchen“, sagt sie.
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