Vom hässlichen Misstrauen

Die Hartz-IV-Demos zeigen den rasanten Verlust des Vertrauens in die politischen Institutionen. Zu wenig Beachtung findet das konstruktive Potenzial des Protestes

Im Osten gibt esdie Tendenz einer noch stärkerenPersonalisierungder Enttäuschung

„Auf Hartz IV folgt Hartz V, und dann Hartz VI“ – diese im Vorübergehen geäußerte Ansicht eines Teilnehmers der Leipziger Montagsdemonstrationen fasst zusammen, was bei der Politik der Schröder’schen Reformen auf dem Spiel steht: der drohende Zusammenbruch aller Erwartungen, die auf der Sicherheit und Berechenbarkeit unseres Sozialsystems basieren. Jetzt ist es der Wohlfahrtsstaat selbst, der zum Motor sich steigernder sozialer Unsicherheit in der Gesellschaft wird. Das Gefühl, sich auf nichts mehr verlassen, keiner vernünftigen Lebensplanung mehr folgen zu können, erschüttert Vertrauen. Nicht nur in die gegenwärtige Bundesregierung, sondern in die Funktionsfähigkeit der politischen Institutionen insgesamt. Jetzt geht es ums Systemvertrauen.

Aber wozu, zum Teufel, soll man eigentlich sein Vertrauen in politische Institutionen und deren Funktionäre, die Politiker, setzen? Hatte nicht der Pädagoge Herrman Giesecke Recht, als er vorzeiten bemerkte, „einem Politiker kann man nicht vertrauen, wenn dieses Wort noch einen letzten Sinn behalten soll“? Vertrauen gilt heute tatsächlich weitgehend als Privatsache. Wir vertrauen einem Bekannten, dass er von uns gepumptes Geld zurückzahlen wird, indem wir ihn – auf der Basis bisheriger Erfahrungen – mit einem Vertrauensvorschuss versehen, wir „überziehen“ die Informationen, die wir zum Objekt unseres Vertrauens in der Vergangenheit gesammelt haben. In diesem Sinn Vertrauen zu erweisen, ist immer eine risikobehaftete Operation, deren Fehlschlag stets mitbedacht wird und deren Ergebnis wir uns persönlich anrechnen. Als Leichtsinn oder Dummheit. Mit der Folge heftigen Misstrauens gegenüber jedem, der uns künftig noch einmal anpumpen will.

Von dieser Art von Vertrauen wäre die Vertrautheit abzugrenzen, die in traditionellen Gesellschaften in den geregelten „vertrauten“ Gang der Verhältnisse gesetzt wurde, in hierarchisch geordnete Beziehungen und in den unhinterfragten Platz, den diese Gesellschaften dem Einzelnen zuwies. Damit ist es bekanntlich vorbei. Aber in dem Maße, in dem planbare Karrieren, eine vom jeweiligen sozialen Status her gesicherte Position, ein stabiles Umfeld schwinden, wächst gleichzeitig das Bedürfnis wie die Notwendigkeit, abstrakten, schwer überschaubaren Sachkomplexen wie auch Großinstitutionen einschließlich der staatlichen Sphäre zu vertrauen. Diese Art von Vertrauen hat Niklas Luhmann zuerst als „Vertrautheit“, später, in einer englischsprachigen Schrift, als „confidence“ beschrieben. Confidence ist nach Luhmann Systemvertrauen, und sein Versagen wird seiner Meinung nach von denen, die vertrauten, nicht als persönlich verantwortbarer Fehler angesehen. Rechts zu fahren bleibt richtig, auch wenn einem ein Geisterfahrer entgegenkommt.

Dennoch kann, wie die Erfahrung lehrt, Systemvertrauen erschüttert werden. Unternehmen wie AKW-Betreiber, Bio-Tech-Firmen oder Eigner von Bohrinseln beschäftigen deshalb seit geraumer Zeit Spezialisten, die die knappe Ressource Institutionsvertrauen explorieren und anbohren. Sie sehen sich der paradoxen Situation gegenüber, auf ein Gut rekurrieren zu müssen, das sie selbst, den Erfordernissen der Profitmaximierung folgend, systematisch ruiniert haben. Schließlich ist der Prototyp des allseits verwendbaren, beliebig hin- und herschiebbaren, seine Lebensrisiken privatisierenden und damit aller Vertrautheit beraubten Beschäftigten ein Produkt des zeitgenössischen Kapitalismus.

Was nun den Bundeskanzler anlangt, so hat er sich, sehr zu seinem Unglück, zunächst auf die Vertrauensressource „wissenschaftliches Expertentum“ verlassen, die in der Bundesrepublik in hohem Kurs steht. Sonst hätte er sein Unternehmen niemals „Hartz I bis IV“ genannt. Aber kein Expertenvertrauen in zukünftiges Gelingen der Reform vermag die Erschütterung aufzufangen, die der Verlust von confidence in ein stabiles, auf Dauer sichergestelltes Sozialsystem ausgelöst hat.

Deshalb erscheint jetzt hinter der angemaßten Wissenschaftlichkeit und scheinbaren Alternativlosigkeit des Vertrauensprojekts Reform die hässliche Gestalt systematischen Misstrauens. Misstrauen ist ebenso eine rationale Strategie wie Vertrauen, kann zwar vor Fehlern bewahren, ist aber kompliziert und teuer, und wer misstraut, kann und wird auch hintergangen werden.

Dummerweise ist aber noch dazu das gute alte, nunmehr dem privaten Bereich zugewiesene „Vertrauen“ nicht gänzlich aus dem öffentlichen, politischen Bereich verschwunden. Nach wie vor koexistiert es mit dem scheinbar unpersönlichen Systemvertrauen, und zwar keineswegs als Restgröße. Als Helmut Kohl den Landsleuten im Osten „blühende Landschaften“ und Gerhard Schröder „Innovation und Gerechtigkeit“ für ganz Deutschland versprach, standen sie hierfür nicht nur als Vertreter eines Institutionensystems ein, sondern als Person. Weshalb der jetzige Vertrauensverlust sich auch nicht in schleichend-depressiver Weise äußert, sondern mit jener hellen Wut und in oft überbordenden Formen, die nun mal jeder Verletzung eines persönlichen Vertrauensverhältnisses anhaften. Wobei noch in Rechnung zu stellen ist, dass die neuen Ostbürger nur wenig Zeit hatten, vom „alten“ DDR-Zutrauen und den mit ihm verbundenen vorgestanzten Erwartungen und Lebensplanungen in die neue „Vertrautheit“, die confidence der Bundesrepublik herüberzuwechseln. Daher die Tendenz zu einer noch stärkeren Personalisierung ihrer Enttäuschung.

Ist der Verlust von Systemvertrauen identisch mit der Gefährdung der Demokratie? Das wird so sein, wenn es nicht starke gesellschaftliche Gegenkräfte gibt, die den Vertrauensverlust auffangen und neues Vertrauen aufbauen. In der gegenwärtigen Diskussion über die Montagsdemonstrationen wird allzu sehr der Typus des ichschwachen, vereinzelten Losers heraufbeschworen, der sich von „der Politik“ verraten fühlt und zum Opfer der Rattenfänger wird. Weniger Beachtung findet das Potenzial des sozialen Protests, das über Selbstorganisation und eigenes Handeln zur politischen Artikulation findet, das fähig ist, neue Bedingungen mit den Regierenden auszuhandeln, die politischen Institutionen „zivilgesellschaftlich“ zu infizieren und damit zu neuem Systemvertrauen führt.

Wozu, zum Teufel,soll man eigentlich sein Vertrauenin politischeInstitutionen setzen?

Der englische Soziologe Anthony Giddens hat in diesem Zusammenhang von einer Politik des „aktiven Vertrauens“ gesprochen, das den Bürgern Autonomie zugesteht, sie an Entscheidungen über einen offenen Diskussionsprozess beteiligt und auf erfinderische, intelligente Lösungen für die Entwicklung des Sozialstaats setzt. In der Praxis hat die von Giddens beratene Regierung Tony Blairs allerdings das schiere Gegenteil dieser Maximen befolgt, und Gerhard Schröder ist ihr hierin getreulich gefolgt. Aber die Praxis ist nicht immer der Prüfstein für die Richtigkeit der Theorie.

CHRISTIAN SEMLER