: Die Macht der gemächlichen Wut
„Irgendetwas muss man doch machen“: Überraschend viele zeigen ihre Empörung über die geplanten Sozialkürzungen, aber auch ihre Ratlosigkeit
aus Berlin DANIEL SCHULZ
Rot ist der Protest. Rot wehen die Fahnen unter dem nieselregengrauen Himmel Berlins. Regentropfen fallen auf die Flaggen, auf denen „IG Metall“ steht oder „ver.di“, „DGB“ und „BCE“. Dazwischen ein paar rote Fahnen von PDS, Attac und der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands. Die haben zur Demo gegen den Sozialabbau nach Berlin gerufen. Die Gewerkschaften sind gekommen.
„Meine Fresse, ich dachte, wir demonstrieren gegen die“, grinst Melanie und versucht die Kapuze ihrer dunkelgrünen Jacke über ihre roten Locken zu ziehen. Melanie ist aus Hamburg gekommen, weil sie alles ankotzt. „Die BRD ist so reich wie nie“, sagt sie „und trotzdem nehmen sie denen noch was weg, die sowieso schon nichts haben.“ Sie: das sind die etablierten Parteien, die SPD, die CDU, die Grünen. Oder eben die Gewerkschaften. „Die Gewerkschaftshäuptlinge wollten doch auch alle nicht mit demonstrieren“, sagt Melanie, „aber anscheinend folgt das Fußvolk nicht.“
Das Fußvolk marschiert in Berlin. Obwohl Michael Sommer, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, es abgelehnt hat, die Demonstration mit zu organisieren: Das Ganze sei „nicht aussichtsreich.“ 100.000 Menschen stehen schließlich bei der Abschlusskundgebung auf dem Gendarmenmarkt.
„Beim DGB hätten die anders handeln müssen“, schimpft ein IG-Metaller aus Wolfsburg. „Es kann einfach nicht sein, dass so ein Protest nicht unterstützt wird.“ Er sei enttäuscht von Sommer, aber auch von der Führung seiner Gewerkschaft und von Ver.di-Boss Bsirske. „Erst setzen wir den Streik im Osten in den Sand, und jetzt das hier. Wir müssen deutlich machen, dass wir gegen diesen Schwachsinn sind.“ Ein DGBler aus Bayern setzt noch einen drauf: „Waschlappen sind das“, schreit er heiser, „von einer Gewerkschaftsspitze hätte ich etwas anders erwartet. Manchmal könnte man echt platzen vor Wut.“
Aber die Wut ist gemächlich. Langsam läuft der weit auseinander gezogene Zug an den grauen Platten der Rosa-Luxemburg-Straße und den marmorierten Einkaufstempeln der Friedrichstraße vorbei. Zwei-, dreimal rennen ein paar Jungs und Mädchen in schwarzen Kapuzenpullis und Leder ein paar hundert Meter. Aber nichts passiert. Nicht die 70 mitschlendernden Polizisten bewahren das Kulturkaufhaus Dussman vor der „totalen Entglasung“, die einige fordern. Die Ruhe gewerkschaftlicher Latschdemos wattiert jeden Aufruhr.
Streit gibt es am Rande. Als ein in Ver.di-Plane gewandeter Kahlkopf versucht, eine Gruppe weißhaariger Frauen zum Mitlaufen zu überreden. Doch die kommen aus Petersburg und sind über das rote Fahnenmeer entsetzt. „Warum sind die Leute nicht froh, dass sie hier alles kaufen können?“, fragt eine der Frauen mit schriller Stimme. „Ihr habt es hier gut und beschwert euch dann auch noch!“
Viele andere dagegen kommen mit. Elisa, die für ihre 13-jährige Tochter etwas zum Geburtstag kaufen wollte, und Michael, der zu einem Kumpel in Mitte läuft. „Irgendetwas muss einfach passieren“, sagt Elisa und zieht ihren beigen Mantel enger. Der IT-Beraterin verdient nicht schlecht, aber die zierliche Frau hat Angst, dass sich das vielleicht mal ändert. „Heute geht es mir gut“, sagt sie, „was morgen kommt – keine Ahnung.“ Genauso wenig weiß sie von Attac-Forderungen oder Gewerkschaftsprogrammen. „Aber irgendetwas muss man doch machen.“ Und Michael gibt zu, dass er „keinen Blassen hat, wer von den ganzen Gruppen hier welche Sachen erreichen will“. Aber der 25-jährige Bauzeichner fühlt, dass „irgendetwas faul ist in diesem Land“. Und deswegen läuft er – Kilometer um Kilometer.
Wohin der politische Weg geht, scheint nicht ganz klar. Zu viele Gruppen, zu viele unterschiedliche Menschen haben sich hier getroffen. Eine neue außerparlamentarische Opposition muss her, meinen viele. Redner und Demonstranten benutzen Bilder und Begriffe der Vergangenheit und machen daraus Slogans für ihre neue Bewegung. „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten! Wer war dabei? Die grüne Partei!“, skandieren junge Demonstranten einen abgewandelten Spruch der Kommunisten aus den 20er-Jahren. „Opa in die APO!“, ruft der Kabarettist Gerald Wolf von der Bühne am Gendarmenmarkt. Ilona Plattner von Attac schreit: „Millionäre haben keine Chance gegen Millionen!“, und pflügt dabei mit geballter Faust die Luft. „Wir sind viele und wir kommen wieder“, ruft sie. Die Leute klatschen. Aber kommen sie auch wieder?
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