: An Kreuzberger Nächten entlang
Wo Herr Lehmann, der Romanheld, gelebt hat, zeigt eine Führung des Kreuzberg-Museums. Rentner kommen, sogar aus Zehlendorf, und entdecken den Bezirk. Es gibt etliche Hunde, aber nicht immer den echten. Selbst Karl taucht auf, bis Fakt und Fiktion irgendwann zur Unkenntlichkeit verschmelzen
von JOHANNES GERNERT
Mit dem Hund fängt alles an: das Buch, der Film, die Führung. Am Lausitzer Platz. Da, wo Herr Lehmann stark angedüdelt von einem Kampfköter in Schach gehalten wurde, bis die Schnapsnarkose wirkte und die Polizei kam. Jetzt stehen alle dort, sehen sich um und nicken, während Heinz Jansen, der „Herr Lehmann“-Führer des Kreuzberg-Museums, beim Vorlesen der ersten Sätze mit dem Finger die Kulisse erklärt. Er macht das nun schon seit ein paar Samstagen.
Den Leuten gefällt es, dem Helden aus Sven Regeners verfilmtem Roman „Herr Lehmann“ hinterherzuschnüffeln. Heinz Jansen deutet also. Der Bolzplatz. Soso. Dessen Umzäunung. Aha. Die „den ganzen Platz beherrschende Kirche“. Jaja. Anteilnahme im Blick. Hat sich gar nicht viel verändert, seit Herr Lehmann da war. Nur der Hund fehlt. Wo ist denn nun der Hund? Statt der Kampftöle rauschen zunächst „Sirenengeheul und Blaulichtreflexe“ an den Schienen des Görlitzer Bahnhofs vorbei. Der Feuerwehreinsatz gehört eigentlich nicht ins erste Kapitel, sondern ein paar Seiten oder ein paar Schritte weiter. Eher zum Spreewaldplatz, über die Gleise hinüber, in die Nähe vom Einfall, wo Herr Lehmann arbeitete. Aber die Handlung soll eh nicht chronologisch abspaziert werden. Insofern macht sich der Zeitsprung mit den Sirenen ganz gut, nachdem Jansen das mit der fehlenden Chronologie erklärt.
Das ist an der Stelle, wo die Frau den Artikel aus der Morgenpost zückt mit der Frage, ob der Routenplan aus der Zeitung noch gilt. Heinz Jansen nickt, jaja. In der Morgenpost ist auf einem Bild auch der Hund. Natürlich ist der Hund aus der Morgenpost nicht der Hund, den Herr Lehmann traf. Auch nicht der Hund, vor dem Christian Ulmen im Film auf dem Boden kauert. Von dem eine Lehmann-Touristin sagt, dass er „Klasse gespielt hat“. Der Hund in der Morgenpost ist irgendein Hund aus dem Schlawinchen, der nur so aussieht wie der Hund aus dem Film.
Das Schlawinchen ist die Kneipe, von der Herr Lehmann gesagt hat, dass, wenn sein Freund Karl schon dort sei, es schlecht um ihn stehen müsse. Als die Gruppe von draußen hineinschaut, finden alle, dass Herr Lehmann Recht hatte. Drin steht ein Mann mit langen grauen Haaren, einer Ledermütze und einem Brötchen im Mundwinkel. Und grinst, grinst irgendwie außerirdisch. Heinz Jansen sagt: „Ich kündige uns mal kurz an.“
Er sagt das vor allen Kneipenkurzbesuchen. Die Kneipen sind nicht so groß. Die Besitzer mögen den Zooeffekt nicht so gern. Sie wollen ihre Gäste nicht anstarren lassen. Im Schlawinchen würden viele das gar nicht merken, wenn sie jemand anstarrte. In einer Ecke grölt und keuchthustet ein Alter mit Seemannsbart. Von der Decke fallen einem Armadas von Holzschiffen und Schnitzgetier auf den Kopf. Es ist spelunkig wie in einer Bahnhofskneipe und kitschig wie in einem Gartenzwergvorgarten. Der Zooeffekt relativiert sich. Schwer auszumachen, wer wen anstarrt. Vor allem aber ist der Hund aus der Morgenpost wieder da, liegt schwarz und träge vor seinen beiden Frauchen, die zwei Beck’s auf dem Tisch stehen haben. Und nicht wenige leere Biergläser. Während einer die Einrichtung fotografiert, äußert sich eine Zoobesucherin nicht ganz wohlwollend über das Ambiente im Schlawinchen. Die Frauchen kontern gekonnt: „Herr Lehmann hat es auch nicht immer schön gehabt.“
Dann eruptiert der Geschäftsführer. Unverschämt, was „dieser Lehmann“ über das Schlawinchen sage. Dass da nur abgestürzte Typen abhängen. Klar auch ein paar Abstürze. Aber ob das nicht logisch sei, wenn einer morgens um acht anfange und immer weitermache. Logisch, logisch. Es ist kurz vor halb fünf. Viele scheinen um acht angefangen zu haben. Der Geschäftsführer sagt: „Wir haben Superfrühstück mit Ei, Käse, Schinken, für 3 Euro.“ Man muss auch etwas Positives über das Schlawinchen sagen: Nirgends stürzen die Leute so elegant ab, so durch und durch originell. Fast schon erhaben. Warum nur hat Sven Regener das Schlawinchen Schlawinchen genannt. Wo das Madonna zum Einfall wurde. Und die Bar 11 zum Abfall. Warum nicht Schlawinchen als Absturz?
Zwischendurch sagt Heinz Jansen, dass er das nicht mag, wenn man ihn mit Herrn Lehmann vergleicht. Ihn manchmal sogar Herr Jansen nennt, im Scherz, haha. Obwohl ihre Biografien parallel verlaufen. Zuzug nach Kreuzberg Anfang der Achtziger. Abgestürzte Künstlerfreunde. Besuche im Urban-Krankenhaus. Bei Heinz Jansen nicht wegen Nebenhodenentzündung. Er provoziert den Vergleich aber auch. Weil er Herrn Lehmanns Leben seinen eigenen Erfahrungen gegenüberstellt. Weil er erzählt, wie er ankam in seiner ersten WG, wo 25 Leute gemeldet waren und 2 wohnten. Weil er den Wahrheitsgehalt der Lehmann-Kommentare zu prüfen sucht. Etwa so: Herr Lehmann sagt, im Savoy, das Ritz heißt, habe Teppichboden gelegen. Heinz Jansen sagt, daran kann er sich nicht erinnern. Herr Lehmann erzählt, wie sie in der Blase als Heteros rausgeschmissen wurden. Heinz Jansen erzählt, wie man in der O-Bar als Heteropärchen schräg angeschaut wurde. Schließlich sagt er auch den Satz, zu dem 148.000 zugezogene Kreuzberger seit einer Weile meditieren: „Ich habe mich da drin ein bisschen wiedererkannt.“ Er also auch.
Im Madonna, im Roman das Einfall, wo Herr Lehmann Bier zapfte, stellt sich Heinz Jansen etwas schepp auf die Querverstrebungen eines Barhockers, um aus dem Kapitel vorzulesen, in dem Herr Lehmann denkt, dass die Leute in der Kneipe komisch drauf sind, „irgendwie hektisch“. Heinz Jansen muss so etwas Ähnliches denken. Scheiße, muss er denken. Warum schreit die kurzhaarige Bedienung so rum. Das ist ja wohl der Irrtum aller Irrtümer, muss er denken. Kann die nicht leiser erzählen, wie total einfach das Tauchen im Urlaub war. Wo mich doch eh kaum einer versteht. Wo doch gleich die Meuterei der Zehlendorfer Rentnerclique anfängt. So eine Knallcharge, muss er denken. Und Heinz Jansen sagt dann, dass sie das doch mit Absicht macht, die Kurzhaarige an der Theke des Madonna. Woraufhin sie ein bisschen leiser vom Tauchen erzählt.
Nach zwei Stunden strammem Kreuzberg-Marsch, nach der Dönerbude aus dem Film und der, „die wir für die aus dem Buch halten“, ja, jeder betreibt die Textexegese auf seine Art, nach Einfall, Abfall, Absturz, stehen alle vor dem Filmplakat mit Christian Ulmen. Am Babylon, in dem Herr Lehmann, Karl und die schöne Köchin Star-Wars-Nacht machten. Das Kino ist noch zu, aber drin ist Licht. Eine Frau schlägt mit den Fäusten gegen die Türscheibe. Jansen informiert sehr laut: „Die muss aufs Kloho.“ Dann endet die Führung in der Markthalle. „Endstation“, sagt Heinz Jansen.
Ein paar Beck’s werden bestellt, und auch ein Hund ist wieder da. Der aus dem Film, der jetzt mit Christian Ulmen auf einer Werbestreichholzschachtel liegt, die es am Tresen gibt. Ein Mann fragt die Bedienung, ob der Schweinekammbraten auf der Karte wohl der Schweinbraten ist, den Herr Lehmann mit seinen Eltern essen wollte, dessen Kruste so überschätzt wird. Dann endlich möchte man aufstehen und ihm eine scheuern und möchte schreien, dass es Herrn Lehmann nicht gibt, dass er nirgendwo war, nicht im Madonna, nicht in der Bar 11, nicht am Lausitzer Platz. Nirgendwo, möchte man kreischen. Ganz laut. Bis sie einen einliefern, ins Urban-Krankenhaus, wo Herr Lehmann Karl hingebracht hat.
Ach verdammt. Karl scheint es wirklich zu geben. Unglaublich ist das. Er stand vor der Emmaus-Kirche, wo die Führung anfing. Sah dem Karl aus dem Buch viel ähnlicher als Detlev Buck. Hatte einen grünen Parka an. Sog eine Zigarette warm. Ein schwarzes Stirnband um die Ohren. Ging ein paar Schritte mit den Lehmann-Exegeten durch den Park. Seilte sich bald ab. Kannte ja schon alles. Hatte sich aber gut erholt, der Karl. Eine Frau fragt dann: „Lebt Herr Regener eigentlich noch?“ Pause. „In Kreuzberg?“ Gute Frage.
Die heutige Führung ist ausgebucht. Bei genügend Anmeldungen wird sie am kommenden Samstag wiederholt.
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