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Cricket im Giftmüll

AUS BHOPAL BERNARD IMHASLY

Unter den Frauen, die an diesem Morgen vor dem Schalter der Sambhavna-Klinik in Bhopal auf ihre Untersuchung warten, fällt Jameela Bi nicht weiter auf. Schwarze Burkha, gelbes Patientenbüchlein, ihre Symptome sind die gleichen, die auch die anderen 150 Wartenden plagen: Erbrechen, Schwindel, Unterleibsbeschwerden, chronischer Husten, Kopfweh und Angstzustände. Es sind die Langzeitschäden der schwersten Giftgaskatastrophe der Industriegeschichte, die sich vor genau zwanzig Jahren in der indischen Stadt ereignete.

Der einzige Unterschied zwischen Jameela Bi und den anderen Patienten ist, dass sie in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 gar nicht in Bhopal war, als aus den Anlagen der Pestizidfabrik der amerikanischen Union Carbide Corporation (UCC) Methylisocyanat entwich und sich rasch in seine tödlichen Zerfallsprodukte verwandelte. Die zerstörten in Minuten die Organe von 3.000 Menschen oder schädigten sie so nachhaltig, dass in den Jahren darauf weitere 12.000 starben. Eine halbe Million Menschen trugen Gesundheitsschäden davon – oft für den Rest ihres Lebens. Das Unglück vom 2. Dezember 1984 machte den Namen dieser schönen Stadt in Zentralindien zur Metapher für von Menschen verursachte Katastrophen. Das Schicksal von Jameela Bi zeigt, dass der Umgang mit diesem Unglück zu einem rekordverdächtigen Desaster wurde. Jameela Bi zog erst 1994 nach Arifnagar, einen der fünf Slums in unmittelbarer Nähe des Fabrikgeländes. Ihre und viele weitere Laborergebnisse zeigen: Das Grundwasser in den fünf Kolonien um das Gelände ist schwer verseucht.

Eine Studie hat dort nicht weniger als 21 Chemikalien ausgemacht, in Konzentrationen, die oft um das Hundertfache über den zulässigen WHO-Höchstwerten liegen. Eine Greenpeace-Studie von 2002 fand im Boden und im Grundwasser Quecksilber, Chrom, Kupfer, Nickel und Verbindungen wie Organochlorin, Hexachlorethan und Hexachlorobutadin. Das indische Forschungsinstitut PSI fand Spuren davon auch an Wasserzapfstellen und in der Muttermilch.

Ein internationales Expertenteam aus Deutschland, der Schweiz und den USA, das im November im Auftrag von Greenpeace Schweiz diese Studien überprüfte und das Gelände besichtigte, stellte fest, dass Grundwasser und 25.000 Tonnen Erde mit hohen Konzentrationen von Chemikalien verunreinigt sind.

Wer das Fabrikgelände besuchen will, muss eine Bewilligung einholen, der Zugang ist streng bewacht. Doch ein Rundgang zeigt rasch, dass hier jeder hinein kann: In der Mauer klaffen unzählige Lücken. Neben dem ausgetrockneten Teich, in dem die Firma hochgiftige Stoffe zum Verdunsten abgelagert hat, spielen Kinder Cricket, Kuhdreck liegt herum, Frauen sammeln Brennholz im Gebüsch, aus dem die rostenden Überreste der Röhren und Silos in die Luft ragen.

Beim Mauerdurchbruch gegenüber dem Jaypeenagar-Slum liegt eine tote Kuh. Sie sei am Morgen in das Gelände gestreunt, sagen Umstehende. Vor einer Stunde sei sie zurückgestolpert und plötzlich zusammengebrochen. Überall liegen hier offene Säcke herum, aus denen der Regen weißes Pulver herausgeschwemmt hat. In den halb zerstörten Lagerhallen stapeln sich Säcke, auch sie vom Monsunregen ausgewaschen. In der Anlage zur Herstellung des Pestizids Sevin liegen zwischen rostenden Bruchstellen Quecksilberperlen.

Die Fabrikanlage von UCC gehört heute dem Staat Madhya Pradesh. UCC wurde 2001 vom Konzern Dow Chemicals übernommen. Der lehnt jede rechtliche Verantwortung für das verseuchte Gelände ab. Die Firma behauptet, die indische UCC sei nicht von ihr geführt worden, obwohl UCC die Kapitalmehrheit hatte und Dokumente eine enge Kontrolle der Muttergesellschaft nahe legen.

Und Dow Chemicals, so wurde kürzlich deren Präsident in der indischen Presse zitiert, trage erst recht keine Schuld am Desaster. Dow lässt sich nicht einmal vor dem Obersten Gericht in Bhopal vertreten, vor den Madhya Pradesh den Chemiemulti gezogen hat. Um kein Präjudiz zu schaffen, lassen beide Seiten die vergiftete Deponie mitten in den Slums einfach stehen.

Giftiges Badewasser

Es brauchte eine Gerichtsverordnung, dass die Stadt Bhopal die Slumbewohner seit einem Jahr mit Trinkwasser aus Tanklastzügen versorgt. In Arifnagar kommt auf 150 Familien eine Ration von täglich 2.000 Litern Wasser – gerade genug für das Trinkwasser. Die Folge ist, dass Jameela Bi immer noch vergiftetes Wasser aus dem Boden pumpen muss, um ihre Kinder zu baden oder das Geschirr zu spülen.

Kriminelles Abseitsstehen lässt sich bei der gerichtlichen Verfolgung der Schuldigen, den Kompensationszahlungen und der medizinischen Behandlung beobachten. UCC hatte 1989, fünf Jahre nach dem Unglück, mit dem Obersten Gericht in Delhi die Vereinbarung getroffen, „zugunsten der Opfer“ einen Betrag von 470 Millionen Dollar zu „spenden“. Damit erkaufte sich das Unternehmen einen Freibrief vor jeder juristischen Verfolgung. Erst ein Proteststurm in der Öffentlichkeit zwang das Gericht, Klagen gegen die Gesellschaft wieder zuzulassen. Beim Vergleich waren beide Seiten davon ausgegangen, dass etwa 100.000 Opfer Anrecht auf Zahlungen hätten und etwa 3.000 Personen gestorben seien. Nach Prüfung von über einer Million Eingaben kam der „Relief Commissioner“ zehn Jahre später zu dem Ergebnis, dass ihre Zahl fünf Mal höher liegt.

Zusammen mit den aufgelaufenen Zinsen würde jeder Betroffene durchschnittlich 1.000 Dollar erhalten. Doch erst die Hälfte davon wurde bislang ausgezahlt. Ein kürzlich ergangenes Urteil hat die Behörde nun gezwungen, diese Tranche endlich auszuzahlen. Familien Verstorbener erhielten bisher 1.500 Dollar. „Vergleichen Sie diese Summe“, sagt der Aktivist Satyanand Sarangi sarkastisch, „mit den 40.000 Dollar, die Esso nach der Verschmutzung der Küste von Alaska durch den Öltanker ,Exxon Valdez‘ für jeden verendeten Seeotter bezahlt hat.“ Der Mann von Jameela Bi zum Beispiel hat wie seine Frau bisher erst die Hälfte seiner Entschädigung erhalten. Es ist längst für Medikamente ausgegeben. Wegen Atembeschwerden und Schwindelanfällen kann er nur noch beschränkt als Tagelöhner arbeiten. „Er verdient im Durchschnitt 1.200 Rupien“, sagt Jameela, „300 bis 400 gehen gleich für Medikamente drauf.“

Bhopal ist heute die Stadt Indiens mit dem dichtesten Netz von Krankenhäusern und Apotheken. Doch sie bieten nur scheinbar Hilfe. „Was ich hier mit meinen siebzig Patienten täglich tue, ist Pillen verschreiben, von denen ich weiß, dass sie nichts nützen“, sagt der Arzt Mohammed Qaisar von der gemeinnützigen Sambhavna-Stiftung. „Dow verfügt über Studien, die UCC schon vor dem Unglück 1984 über die Folgen des Kontakts mit Methylisocyanat und dessen Zerfallsprodukten durchgeführt hat“, erzählt er. „Und sie weigern sich seit zwanzig Jahren, diese Dokumente herauszugeben – aus Angst, deshalb zur Rechenschaft gezogen zu werden. Mehrere tausend Menschen, die hätten gerettet werden können, mussten deshalb sterben.“ Raajkumar Keswani, ein Journalist, der als Einziger bereits zwei Jahre vor der Katastrophe Schwachstellen in den Sicherungsanlagen der Fabrik öffentlich kritisiert hatte, ist heute so unnachsichtig wie damals: „Zwanzig Jahre – und immer noch wird den 100.000 Pflegebedürftigen nur eine Symptombehandlung zuteil. Zwanzig Jahre, und immer noch sterben Menschen an den Langzeitfolgen. Nach zwanzig Jahren ist immer noch kein Verantwortlicher verurteilt, sind die Schmerzensgelder nicht vollständig ausbezahlt.“

Placebos für die Opfer

Es sind zivilgesellschaftliche Organisationen, die den Kampf weiterführen, halbherzig unterstützt vom Staat und den Gerichten. Greenpeace hat immer wieder auf die tickende Giftbombe mitten in Bhopal hingewiesen, amnesty international engagiert sich für eine weltweit verbindliche Gesetzgebung, die transnationale Gesellschaften nicht mehr so leicht durchs juristische Netz schlüpfen lässt, wie Union Carbide dies seit zwanzig Jahren tut. Den zähesten Kampf führen die NGOs in Bhopal, die täglich umgeben sind von kranken Menschen, denen sie nicht wirklich helfen können. Auch der Journalist Keswani kann mit seiner Reputation als einstiger Mahner wenig anfangen: „Ich habe damals versagt, weil ich das Unglück nicht verhindern konnte. Und ich versage jetzt, weil ich zusehen muss, wie die Schuldigen davonkommen und den Opfern Placebos verabreicht werden.“

Auch die Stadt Bhopal erinnert sich nicht gern der halben Million kranker Mitbürger in den Armenquartieren der Unterstadt. In „New Bhopal“ mit seinen schönen Bungalows und den neuen Einkaufsstraßen voller Shopping Malls und Banken möchte man die Erinnerung an den 3. Dezember 1984 am liebsten auslöschen. Der Beamte am Wechselschalter der ICICI-Bank meint, für ihn sei Bhopal eine Stadt wie jede andere. Nur wenn Leute von außerhalb kämen, merke er, dass für sie der Name identisch sei mit der schlimmsten Giftgaskatastrophe der Industriegeschichte. „It’s bad for the city“, sagt er.

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