: Regierung verteidigt Lohndumping
Kanzler bangt um eigene Mehrheit: Bundestag stimmt heute über Arbeitsmarkt- und Steuerreform namentlich ab. Globalisierungskritiker schickten 600.000 Protestmails an die Abgeordneten. Wirtschaftsministerium versteht Kritik nicht
AUS BERLIN ULRIKE HERRMANN
Wird Rot-Grün eine eigene Mehrheit bei den Arbeitsmarktreformen zustande bringen? Das war gestern unklar. Besonders die verschärften Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose stoßen auf Widerstand bei einigen Grünen und Sozialdemokraten. Am Nachmittag trafen sich alle Fraktionen zu Sondersitzungen.
Der Bundestag muss heute in zehn namentlichen Abstimmungen über die Ergebnisse im Vermittlungsausschuss entscheiden. Da CDU und FDP den Steuer- und Arbeitsmarktreformen zustimmen wollen, ist eine „Kanzlermehrheit“ nicht nötig. Aber die rot-grünen Fraktionsspitzen sind ehrgeizig: Mehr als vier Neinstimmen sollen es nicht sein im Regierungslager.
Ein möglicher Abweichler ist der grüne Sozialexperte Markus Kurth. Festlegen wollte er sich gestern noch nicht – aber ihm „fällt eine Zustimmung sehr schwer, wenn es keine Signale gibt, den Trend zum Lohndumping zu stoppen“.
Ursprünglich hatte er einen gesetzlichen Mindestlohn gefordert, um die verschärfte Zumutbarkeitsklausel zu mildern. Sie sieht vor, dass Langzeitarbeitslose künftig jeden legalen Job annehmen müssen. Ausgeschlossen ist nur noch sittenwidriger „Lohnwucher“ – also Jobs, die weniger als zwei Drittel des Tariflohns abwerfen. Bei ungelernten Tätigkeiten sind daher fünf Euro pro Stunde oft noch zulässig.
Inzwischen hat Kurth es aufgegeben, weiter für den Mindestlohn zu streiten. Er wollte gestern keinen Antrag auf der Fraktionssitzung einbringen: „Es gab von den Koalitionsspitzen kein Signal der Bereitschaft.“
Auch in der SPD-Fraktion wird es keine Änderungsanträge der Kritiker geben. „Völlig abwegig“, beschied Ottmar Schreiner. Ein Kompromiss im Vermittlungsverfahren lasse sich nicht korrigieren. „Jetzt kommt es nur noch darauf an, wie sich jeder verhält: Ja oder Nein.“ Schreiner will mit Nein stimmen.
Das Wirtschaftsministerium wiederum versteht die Kritik nicht: Die Debatte rund um die Zumutbarkeit sei „völlig überzogen“. Eigentlich würde sich kaum etwas ändern; die geltende Zumutbarkeitsregelung sei schon „sehr scharf“. Bereits jetzt seien Arbeitslose nach sechs Monaten verpflichtet, Jobs anzunehmen, die nicht mehr einbringen als Arbeitslosengeld oder -hilfe.
In konkreten Zahlen: Das Arbeitslosengeld liegt durchschnittlich bei 767 Euro, die Arbeitslosenhilfe bei 510 Euro monatlich. Also hat das Wirtschaftsministerium errechnet, dass sich Empfänger von Arbeitslosenhilfe nicht beklagen sollten, wenn sie künftig für 5 Euro pro Stunde schuften. „Dann haben sie 800 Euro bei einem Vollzeitjob!“, hieß es gestern triumphierend.
Diese Rechnung unterschlägt, dass der § 121 SGB III bisher eindeutig festgestellt hat, dass Jobs als nicht zumutbar gelten, die „tarifliche Bedingungen“ unterlaufen. Untertarifliches Lohndumping war bisher nur bei Sozialhilfeempfängern erlaubt – diese Regelung soll nun auf alle Langzeitarbeitslosen ausgeweitet werden.
Die Globalisierungskritiker von Attac riefen zu Protestmails an die Abgeordneten auf: 600.000 Beschwerden sollen bis gestern eingegangen sein. Bereits am Mittwoch war der Server des Bundestages so überlastet, dass sich die E-Mails sechs Stunden lang nicht öffnen ließen.
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