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Zeitungsnachrichten

Von Brigitte Kronauer

Die Zeitung, die ich jeden Morgen zum Honig aufschlage, nenne ich »meine Zeitung« und zwinkere dabei ein bisschen mit den Augen vor mich hin. Denn natürlich ist es nett von ihr, dass sie mir in abschätzbarer Weise die fälligen Informationen vorsortiert und beleuchtet, als wäre sie mein Vorgesetzter im Nachrichtenwesen. Aber Herrin im Haus bin schließlich ich! Toll! Ich bestimme Tempo, Reihenfolge, Auswahl, alles ist schließlich für mich ausgebreitet in einer Horizontalen der Gleichzeitigkeit, haha, ich springe, wie es mir beliebt, vor und zurück, überschlage alles, was mir nicht passt, keiner sieht’s, nehme mein leidenschaftliches Gefühlsmorgenbad im globalen Chaos, mische in kreuzbiederer Eigenregie neu, was sie mir in kreuzbiederem Ritual hinblättert.

So brauche ich es, so will ich es. Das aufsässige Knattern des Papiers ist die Begleitmusik, wenn ich zwischen meinen verhassten, gemiedenen und den nie versäumten, verehrten Artikelschreibern hin und her eile. Bei diesen Letzten wünscht man sich gelegentlich, sie würden von den Machern derselben Zeitung genauer gelesen, beispielsweise der überaus kompetente Karl Grobe in der Frankfurter Rundschau, der noch vor dem Afghanistankrieg unter Bush jun. in einsamer Sachkenntnis alle Folgekatastrophen der amerikanischen Außenpolitik prognostiziert hat, gegen das Lavieren mit bloßen Meinungen im dortigen politischen und Feuilleton-Teil.

Überhaupt gehört zur Freude des Zeitunglesens das simultane Wissen, dass andere Zeitungen im selben Augenblick dasselbe Faktum anders darstellen und kommentieren. Schon die pure Vorstellung von Lücken und verschwiegenen Hintergründen gibt den verhandelten Gegenständen eine besondere Plastizität, durchaus auch und vielleicht gerade exemplarisch bei kleinen und winzigen Zeitungen, wenn sie über kommunales Geschehen berichten: prinzipiell aufseiten der Wirtschaft, die öffentliche Meinung prägend, aber zugleich von ihr abhängig.

Zum Beispiel, konkret und kleinstdimensioniert, die Aroser Zeitung (erscheint einmal pro Woche, Auflage etwas über 4.000 Expl.). Das Graubündner Arosa, dem ich besonders verbunden bin, weil seine Schneelandschaft in meinem Roman »Teufelsbrück« (2000) einen der Hauptschauplätze lieferte, hat eine geologische Besonderheit. Die von Chur heranführende Straße endet dort in einer Gebirgssackgasse, die wiederum in einer felsigen Hochgebirgstal-Einöde zum Abschluss kommt. Kein Durchgangsverkehr! Vom aussterbenden Bauerndorf hat es sich in den letzten 120 Jahren über einen Tuberkulose-Kurort (Thomas Manns »Zauberberg«-Speisesaal verdankt sich Arosa!) zu einem schneesicheren Wintersport- und überaus vielgestaltigen Sommerwanderort entwickelt. Arosa lebt vom Tourismus, der Tourismus lebt seinerseits in fragiler Balance von der Landschaft, das sind Bergwiesen und Zwei- bis Dreitausender. Am 21. 5. 04 konnte man in der Aroser Zeitung lesen, es werde nach den »Mai-Ferien« wieder losgehen mit den »hitzigen Diskussionen um das Hotelprojekt im Gebiet Prätschli«. Das Amt für Raumplanung habe die Vorprüfung für das Projekt abgeschlossen. Ernst Senteler von der zusammen mit der MS Bautreuhand AG für Projektentwicklung und Bau beauftragten Zschokke Management AG sei sicher, dass in den Berichten nichts enthalten sei, was das Projekt gefährden könne.

Der in Arosa geborene Schauspieler Fritz Lichtenhahn, zuletzt zehn Jahre lang bei Jürgen Flimm am Hamburger Thalia Theater tätig, hat Gründe, in einem Arbeitskreis von Widerständlern gegen das Projekt zu kämpfen und die in wichtigen Details noch immer nicht informierte Aroser Bevölkerung, die über den Plan per Urne abstimmen muss, zu einem »Nein!« zu bewegen.

Eine wichtige Rolle spielten dabei auch Leserbriefe in der Aroser Zeitung. Als sich die ablehnenden Stimmen häuften, wurde von der Redaktion ein Stopp verhängt. Funkstille! Einen aufklärenden Artikel mussten die Projektgegner als Anzeige selbst bezahlen. Worum aber geht es genauer? Lichtenhahn: »Die Deutsche Arkona AG plant im Verein mit der auf Massentouristik eingestellten Firma TUI den Bau von zwei großen Hotels, denen ein Hoteldorf angegliedert werden soll. Bisher wurde bekannt gegeben, dass sich das Gesamtprojekt in einer Größenordnung von ca. 800 Betten mit angeschlossenen Restaurantbetrieben und Wellnessbereichen bewegt. Die Fläche, die zugebaut werden soll, würde 60.000 Quadratmeter betragen, das sind zehn Fußballfelder. Und das im schönsten Bergwiesengebiet.«

Das konterte prophetisch der Direktor von »Arosa Tourismus«, einem Verein, dem sämtliche Hoteliers und Geschäftsbesitzer des Ortes angehören, im Jahresbericht vom April 2004: »In Arosa sind neue Projekte geplant, und jeder, der sich mit den Worten ‚Hier wird die Natur verschandelt‘ zitieren lässt, dem sei Folgendes gesagt: Die Natur in Arosa wurde schon lange verschandelt.«

Die Arkona AG (Aufsichtsratsvorsitzender: der Hamburger Kaufmann Horst Rahe), ein Unternehmen der Deutschen Seerederei (Eigentümer und Geschäftsführer: Horst Rahe), hat aus folgendem Grund als Betreiber dieser »großen, wenn nicht sogar größten Investition auf dem Schweizer Touristikmarkt« (Rahe) Arosa zum Standort gewählt: »Erstens«, so Rahe, »fangen bei uns die Namen der Schiffe immer mit A an und hören mit a auf. Zweitens müssen die Namen phonetisch in allen wesentlichen Sprachen der Welt aussprechbar sein. Drittens muss der Name sympathisch im Klang sein, und viertens ist die Rose als solche ein unheimlich gutes Logo. Da die Rose nicht mit einem A anfängt, ist eben ‚A-Rosa‘ daraus geworden. Daher haben wir auch die Verbindung zu Arosa hergestellt.« Er meint den Kappes über sein Projekt »Prosa«, das, was soll’s, unmittelbar an ein naturgeschütztes Flachmoor grenzen würde, offenbar gar nicht mal zynisch! Und das Projektpapier von Bautreuhand und Management betet das Fundamentalargument einen Monat später treulich nach. Man liest solche Informationen freilich nicht in der im Vergleich idyllischen Dorfzeitung, sondern in der Hotel und Tourismus Revue, wo über gezielte Geheimhaltung, Lobbying und Returnerwartung auf Investitionskapital Klartext geredet wird.

Für die »A-Rosa Resorts« in Deutschland und der Schweiz wird so massiv wie poetisch geworben. Sie haben es bestimmt mal gesehen: Grauhaarige Männer und voll erblühte Frauen halten rote Rosen zwischen gebleckten Zähnen zum Zeichen jetzt erst recht wie wahnsinnig zuschlagender Lebenslust (Prospekt: »Charme schmeckt sympathisch, weil er Wertschätzung zeigt«). Im genannten Projektpapier charakterisiert man »Prosa« noch spezifischer als Hotelelysium, das »vorwiegend für gut situierte Frauen zwischen 35 und 50 Jahren sowie Herren zwischen 40 und 65 Jahren zugeschnitten ist«. Ein Schuft, wer sich was dabei denkt. Fritz Lichtenhahn erläutert das politische Ärgernis: »Im Jahr 2002 haben die Stimmbürger von Arosa ein vom Gemeinderat entwickeltes ‚Leitbild‘, also eine neue Orts- und Umgebungsplanung gutgeheißen.« Hier war entscheidend, dass die Bauzone nicht in die Landschaft ausuferte. Dafür wurde, mit Rücksicht auf die Bauwirtschaft, eine intensivere Nutzung innerhalb des Stadtbildes gestattet. Lichtenhahn, der deutliche Parallelen zu den Machenschaften rund um das Mühlenberger Loch in Hamburg sieht: »Nun hat sich herausgestellt, dass der Gemeinderat schon vor der Abstimmung mit den Investoren und in Frage kommenden Baufirmen Kontakt hatte. Die Graubündner Regierung wurde mit Erfolg gebeten, die Beschlüsse des ‚Leitbildes‘ zu genehmigen, aber daneben ein ‚Planungsfenster‘ offen zu lassen, eben jenes Überbauungsprojekt. Das ist hinter dem Rücken der Stimmbürger geschehen und eine Missachtung des Volkswillens!«

Was aber fragt der jetzige Präsident von »Arosa Tourismus«, der das Leitbild vor zwei Jahren mitverfasste, entrüstet im Vereins-Jahresbericht 2004? Dies: »Sollen wir jetzt auch noch Heimatschutz auf Kosten unserer Wirtschaft oder Jugend oder der Zukunft von Arosa betreiben?«

Der Bericht des Amtes für Raumplanung in Chur macht solchen Zorn verständlich. Dort nämlich wurde, anders, als das beschwichtigende Senteler-Zitat der Aroser Zeitung suggerieren möchte, den Befürwortern des Plans tüchtig der Kopf gewaschen, nicht allein in ökologischer und weidenwirtschaftlicher, vielmehr auch in juristischer Hinsicht, und die unterzeichnende Raumplanerin wirft überdies die heikle Frage auf, ob durch solch ein gigantisches, mit dem Vorhandenen konkurrierendes Projekt nicht die rückläufige Tendenz des Ortes noch verstärkt würde. In der Aroser Zeitung war in der Ausgabe vom 20. 8. kein Wort mehr von einer »hitzigen« Debatte zu lesen, dafür folgende Ouvertüre eines auch im Verlauf hoch erfreuten Artikels: »Eine kleine unscheinbare Notiz in der Hotel und Tourismus Revue vom 29. 7. 04 brachte es an den Tag. Die Arkona AG, Inhaberin der Marke A-Rosa im Besitz von Horst Rahe, kaufte das Projekt ‚Schlosshotel Dorint‘ in Kitzbühel. Auch dort soll für 63 Mio. Euro ein A-Rosa Resort nach dem in Arosa bereits bekannten Muster entstehen. Es ist das größte Bauwerk, das in Kitzbühel je errichtet worden ist, und soll nächstes Jahr eröffnet werden.«

Die Aroser haben noch nicht abgestimmt. Vielleicht sagen sie ja, ihre Zeitung überraschend und ein in Arosa noch nicht bekanntes Muster installierend: nein!

Eine andere Erhellung bringt einem das Zeitunglesen besonders dann, wenn man beim Renovieren einer Wohnung auf alten, einst gesammelten Zeitungen kniet und sich plötzlich, statt weiterzustreichen, in einen vergessenen Artikel vertieft, in dem mit allen Registern ein inzwischen vom gesamten Feuilleton komplett vergessener, keineswegs gestorbener Schriftsteller gefeiert wird. Man erinnert sich: Der Artikel war kein Einzelfall, keine Zeitung kam damals ohne den als sensationell gehandelten Künstler aus. Schwarz auf weiß und nicht zu leugnen samt Verfassername wird der Opportunismus des Mediums beim Lauffeuer der öffentlichen Meinungen manifest. Oder sagen wir: seine niemals ruhende, kindliche und unerbittliche Modefixiertheit. Sie stört mich speziell, wenn die vergangenen und neuen Irrtümer und Meinungsberauschtheiten mit dem kulturellen WIR, von dem man, pardon, partout nicht vereinnahmt sein will, entschuldigt werden: »Wir alle dachten damals …« – »Wir alle wissen heute …« So perpetuiert es sich, ohne Einsicht, Lehre, Reue, vergnügt als Lauf der Dinge.

In den Siebzigerjahren etwa war es nicht verwunderlich, wenn man sich für die Bilder der Gruppe Zebra, Begründerin eines neuen Realismus in Deutschland, begeisterte, wenn man sie kaufte, über sie schrieb, sie ausstellte. Die jungen Künstler (Dieter Asmus, Peter Nagel, Nikolaus Störtenbecker, Dietmar Ullrich) erhielten Preise, Stipendien, es gab hohe Auflagen bei der Druckgrafik, zahlreiche Bilder in öffentlichen und privaten Sammlungen, repräsentative Ausstellungen im In- und Ausland, Werkkataloge, Fernsehfilme, mehrfach erschienen Bilder der Künstler auf der Titelseite des Zeit-Magazins. Sie waren obligatorisch in allen Büchern zur Gegenwartskunst und neuen Lexika und wurden vertreten durch die renommierte Londoner Galerie Fisher Fine Art.

Was mich von Anfang an fesselte, war die überwältigende Fremdheit der aber sogleich wiedererkennbaren, gemalten Gegenstände, ob Stein, Frau, Krüppel, Pferd. Sie wurden dem Auge in erbarmungsloser Präzision und plastischer Dinglichkeit präsentiert, keine Fluchtmöglichkeiten ins Vage!, und zugleich entrückt als alleiniger Besitz einer neuen künstlerischen Wirklichkeit. Ich war und bin noch immer gebannt von der Gewalt purer Gegenwart, von der unauslotbaren, geballten Augenfälligkeit der Erscheinungen auf diesen freilich individuellen Gemälden und den Plastiken der später hinzugekommenen Bildhauer Christa und Karlheinz Biederbick, die alle nicht mit persönlicher Handschrift kokettieren und die unausrottbaren Künstlerklischees vom Spontanen, Assoziativen, Fragmentarischen und Symbolischen jenseits der Dinge und Figuren nicht bedienen. Stattdessen stellen sie eine arbeitsaufwändige Brillanz des Handwerklichen in den Dienst einer durch die Exerzitien der Abstraktion gegangenen, frisch strahlenden Dinglichkeit. Dabei entsteht eine geradezu schmerzhaft unsentimentale Kunst.

Ich habe Dieter Asmus und Peter Nagel anlässlich der Planungen für eine Jubiläumsschau zum vierzigjährigen Bestehen der Gruppe, die, unbeirrt vom gegenläufigen Zeitgeist, wenn auch bestraft von Kunstmarkt und Kunstöffentlichkeit, an ihrer Überzeugung von der Kraft des gemalten Bildes festgehalten hat, einige Fragen gestellt.

Frage: Warum liest man nach dem sehr erfolgreichen Debüt über euch seit Jahren nichts mehr in den Feuilletons der großen Zeitungen und in den Kunstzeitschriften? Ist eure Situation heute so schwierig in einer Szene, in der doch vieles akzeptiert wird?

Peter Nagel: Ich vermute, dass unsere Maltechnik dafür verantwortlich ist. Die Könnerschaft der Feinarbeit soll offenbar den alten »Meistern« vorbehalten bleiben. In unsere Zeit gehört sie wohl nicht. Das Unangestrengte, Lustige, Flüchtige hat die Nase vorn. Somit stellt unsere Malerei die offizielle Kunst in Frage – und die Verantwortlichen wollen nicht beide Extrempositionen vertreten. Unsere Themen finde ich bei der »Young German art« wieder: moderne Menschentypen, Vereinzelung der Figur, polyperspektivischer Raum, Mensch und zeitgemäßes Ambiente – aber mit dem schnellen Pinsel gemalt. Auch für den Kunsthandel ist das interessanter. Das Übergehen der Gruppe Zebra bei dem Ankauf der Hamburger Kunsthalle »Kunst in Hamburg seit 1960« empfinde ich als Geschichtsverfälschung.

Dieter Asmus: Unsere Bilder geben für die Szene die falschen Zeichen ab. Das 20. Jahrhundert hat wahrscheinlich mehr Tabus errichtet als beseitigt. Die Kunstszene ist, je wilder sie sich gebärdet, angepasster als die gesamte so genannte bürgerliche Gesellschaft, ihre Rituale strenger als am Hof Ludwig XIV. Sie befriedigt die im Grunde nostalgische Erwartung der Öffentlichkeit an »moderne Kunst«. Zebra aber hat gerade nicht auf Diskurs, sondern auf Form gesetzt, nicht auf vermittelte, sondern auf direkte Realität. Zebra hat die Bildsprache revitalisiert, diese aber nicht – wie Pop – thematisiert. Da liegt das eigentliche Problem!

Frage: Ist das Virtuos-Handwerkliche, das so sehr eure Arbeit bestimmt, Ziel oder Conditio sine qua non für Kunst überhaupt?

Asmus: Ich würde gern mit der Machete vorgehen wie Picasso – nur erfordert unsere Zeit eine grundsätzlich andere Kunst als die der um 1880 Geborenen. Die ausgebuffte Technik ist kein Selbstzweck. Im Grunde nervt sie mich. Sie ist aber unverzichtbar, wenn es darum geht, Dinge und Menschen nach einem Jahrhundert Abstraktion nicht nur zu »suggerieren«, sondern für die Gegenwart verbindlich »herzustellen«.

Nagel: Die Glätte und Kühle unserer Malerei ergibt eine Bildatmosphäre und Farbtemperatur, die die echte Zeitzeugenschaft ausmacht.

Frage: Inwieweit seht ihr euch heute noch immer als Gruppe? Was unterscheidet, was verbindet euch?

Nagel: Die Unterschiede zwischen den Zebras sehe ich in der Motivwelt und in der Technik. Ich selbst lege nicht auf die totale Glätte wert, auch nicht auf die immer größer werdende Differenzierung der Zeichnung, sondern brauche als Hauptausdrucksträger die Farbe, was eine größere Stilisierung nötig macht.

Asmus: Die Ähnlichkeit der Weltsicht und der gemeinsam erarbeiteten Form ist immer noch viel größer als zu jedem anderen Künstler. Interessant zu beobachten war, wie die formalen Grundlagen im Laufe der Zeit (ähnlich wie im Kubismus) durch unterschiedliche Mentalitäten und Vorlieben interpretiert wurden. Zusammengeführt hat uns a) die Abneigung, die um 1960 völlig ausgelaugte Abstraktion um ein Variatiönchen zu bereichern, b) der unbedingte Wunsch nach einem zeitgenössischen Realismus nach der Moderne in Richtung sichtbare Welt. Geburtshelfer waren die großen Gegenständlichen des 20. Jahrhunderts, besonders Dubuffet, Bacon, Picasso. Bewundert (aber nicht beerbt) wurden die Meister der Spätgotik und Frührenaissance, die übrigens geistig in einer vergleichbaren Situation waren. Vom Glaubensbild (Ikone) zur Anschauung.

Frage: Was war eure Innovation damals, was ist sie heute?

Nagel: Die Zurückeroberung des Gegenständlichen auf der Basis der formalen Errungenschaften der Gotik und Renaissance, kombiniert mit den fotografischen Bildern unserer Zeit. Heute ist es eine ständige Erweiterung noch nicht gemalter Motivwelten.

Frage: Wäre eine andere Geschichte der Moderne denkbar?

Asmus: Bis etwa 1930 ist die Moderne einigermaßen schlüssig, wenn auch viel zu einseitig formal und formalistisch ausgerichtet. Noch 1960 wurde uns an der Hochschule Picassos immerhin zirka sieben Jahre dauernde und später immer wieder aufgegriffene neorealistische Periode als peinlicher Ausrutscher dargestellt. Die gesamte Neue Sachlichkeit hatte es nie gegeben. Sie vermoderte in den Depots der Museen. Die tollen Frühwerke von Mirò, Feininger etc. wurden erst in den Siebziger-, Achtzigerjahren publiziert. Schiele (!) und Klimt galten als Kitsch. Nimmt man die Situation im 19. Jahrhundert, als immer größere Virtuosität zu immer weniger Kunst führte, als These, gegen die die Moderne zu Recht ihre Antithese setzte, so tut sich jetzt nach 150 Jahren die Möglichkeit einer Synthese auf: mit den von der Moderne wiedereroberten Bildmitteln, dem technischen Besteck der Kunst, direkt an die tatsächlich existierende, nach anderthalb Jahrhunderten völlig veränderte Welt heranzugehen und ein wirkliches Bild der Gegenwart »aufzunehmen«.

Frage: Wie hält man eure Situation aus, einmal abgesehen davon, dass ihr alle, bis auf Dieter Asmus, Professoren an Kunsthochschulen seid oder gewesen seid?

Nagel: Da ist die Gruppe wichtig. Als totaler Einzelgänger hätte man wahrscheinlich nicht den Mut, unsere Position durchzustehen.

Asmus: Man kriegt Diabetes, Tinnitus, Depressionen. Aber gemessen an van Gogh und vielen gar nicht erst bekannt Gewordenen ist das nichts. Nur: Kann sich eine Gesellschaft das eigentlich leisten?

Die Gesellschaft leistet sich, wenn’s nur Commonsense ist, vieles. Schon vor Jahren sagte mir der Leiter einer großen westdeutschen Kunsthalle, ihn würde ein beträchtlicher Teil der heutigen, hoch gefeierten Kunstproduktion, wie nicht wenige seiner Kollegen, anöden. Würde er aber das ausstellen, was ihm als Privatmann am Herzen läge, hätte er die zwar nicht en détail, aber im Großen und Ganzen gleich geschalteten Feuilletons gegen sich – und die wiederum bestimmen in diesem Bereich maßgeblich das Renommee, das, wenn es angezweifelt wird, auch einem Kunsthallendirektor den Job kosten kann.

Am 21. Januar 2005 beginnt die erste Runde der Wanderausstellung »Zebra: 2005« in Kiel und geht in einer ersten Staffel weiter über Viersen, das sich – zu seinem Ruhme und für zukünftiges Zimmerrenovieren und Zurückblättern sei es hier festgehalten – seit über zwanzig Jahren als einziger deutscher Ausstellungsort unerschrocken zu dieser Malerei bekennt, und schließlich nach Hamburg. »Wir erwarten«, so Asmus, »zunächst mal schlicht Öffentlichkeit. Wir wollen nicht ausschließlich von Leuten beurteilt werden, die ihre Meinung per Übereinkunft bilden statt per Anschauung.«

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