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taz-Adventskalender (22): Bahnhof der U 10Das Gleis ins Nirgendwo

Stehen Sie auf fade Schokotäfelchen? Wir auch nicht. Die Türen des taz-Adventskalenders verbergen anderes: geheime Schätze und wilde Tiere, Sex and Crime. Letzte Dinge. Bis Weihnachten öffnen wir täglich eine Tür – auf einem Kalender namens Berlin.

Über dem U-Bahnhof der Linie U 9 am Rathaus Steglitz befindet sich ein weiterer, so gut wie fertig gestellter Bahnhofsrohbau. Ende der Siebzigerjahre wurde er errichtet, Züge sind hier allerdings nie gefahren. Die Pläne für eine U-Bahn-Linie 10, für die er vorgesehen war, hatten sich mit dem Fall der Mauer endgültig erledigt. Schon 1984, als die Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) den Betrieb der S-Bahn im Westteil der Stadt von der DDR-Reichsbahn übernahmen und die Strecke zwischen Schöneberg und Steglitz durch die S 1 abgedeckt wurde, war der Bau der weit gehend parallel verlaufenden Untergrundlinie gestoppt worden. Die dafür eingeplanten Mittel flossen jetzt in die Sanierung der maroden S-Bahn-Strecke. Nur die Umsteigebahnhöfe der U 10 standen schon bereit und ein paar hundert Meter Tunnelröhre.

An der hinteren Wand des Geisterbahnhofs, im schienenlosen Gleisbett, befindet sich eine unscheinbare, typische BVG-Tür in grau. Sie ist mit den üblichen Tags beschmiert, obwohl nie jemand hierher kommt, der diese bewundern könnte. Dahinter öffnet sich nochmals eine neue Welt: ein benutzungsfertiger Tunnel in Richtung Schloßstraße. Die jungfräulichen Gleise warten bis heute vergeblich auf Züge und enden jäh an der nur von unserer Tür durchbrochenen Mauer, die den Durchgang zum Bahnhof versperrt. An den Wänden verlaufen Kabelhalter ohne Kabel. Außer den Signalen und der Stromschiene wäre alles für einen Betrieb Nötige bereits vorhanden.

Im Tunnel ist es ruhig, nur ab und an hört man die einfahrenden Züge auf der darunter liegenden Strecke der U 9. Das Geräusch des herannahenden Zuges lässt einen unwillkürlich zusammenzucken, wenn man auf den Gleisen steht, obwohl man die Wand hinter sich weiß. Der begleitende BVGler lacht. Er kennt diese Reaktion von den Führungen, die hier gelegentlich stattfinden.

Normalerweise ist es stockfinster, bis auf die blau illuminierten Notausstiege. Der BVG-Mitarbeiter tätigt einen Anruf mit dem Mobiltelefon und fordert Beleuchtung an. Und siehe da: In der Wand befindet sich eine kleine Nische. Wie ihre Kollegen in den Bergwerken hatten die Tunnelarbeiter hier ein Bildnis von St. Florian, ihrem Schutzheiligen, aufgestellt. Jetzt ist die Höhlung leer, die Arbeiter haben das Bild wieder mitgenommen.

Die Röhre, die zu den fünf Kilometern brach liegender Strecke unter Berliner Boden gehört, beschert der BVG einiges an Wartungskosten. Aber sie bringt auch gutes Geld: Als Filmkulisse ist die Örtlichkeit hervorragend geeignet. Die gut 200 Meter zwischen Rathaus Steglitz und Schloßstraße haben schon einen Wehrmachtsbunker dargestellt, waren Schauplatz von Kung-Fu-Kampfszenen oder Verfolgungsjagden beim ARD-„Tatort“.

Selbst bei Graffitisprayern erfreut sich der nie in Betrieb genommene Streckenabschnitt augenscheinlich großer Beliebtheit: An den Wänden prangen zahlreiche Bilder und Schriftzüge. Möglicherweise können die Künstler im Dunkeln gar nicht erkennen, dass ihre Werke hier niemandem außer ein paar BVGlern und einigen Filmteams zu Augen kommen werden. Vielleicht wundern sie sich nur, dass so lange kein Zug kommt.

OLIVER MARQUART

Morgen (23. 12.): Die Tür zum Kloster

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