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Es ist doch Dutschkes Ding

Stimmt ja: Die Revolution fand nicht statt. Aber ist es nicht Dutschkes Geist, der in unseren politischen Optionen und individuellen Freiheiten lebt?

VON BARBARA SICHTERMANN

Wo Rudi Dutschke heute ist? Er ist zum Beispiel in dem vor ein paar Wochen in die Kinos gekommenen Film „Die fetten Jahre sind vorbei“. Dessen Helden, Jan und Peter, leben in einer Wohngemeinschaft. Zwar ist es nur eine Mini-WG, aber als Jule hinzukommt, sind es ihrer schon drei, die zusammenhausen.

Man denkt nicht mehr daran, dass diese Wohnform, ganz wie der Achtstundentag, erkämpft werden musste, so selbstverständlich erscheint sie einem heute. Auch dass ein unverheiratetes Paar problemlos in ein Hotel einchecken kann, dass Ehen ohne Trauschein akzeptiert werden, Kinder lediger Eltern keine Nachteile haben und schwule Paare den Bund fürs Leben schließen können – alle diese liberalen Freiheiten und Ausweise gewachsener Toleranz sind nicht vom Himmel gefallen, sondern die Resultate von heftigen sozialen Auseinandersetzungen, deren Ursprung durch eine Jahreszahl benannt werden kann: 1968. Es war das Jahr des großen Vietnamkongresses in Berlin und des Anschlags auf Rudi Dutschke.

In Dutschkes Rede auf jenem Kongress hieß es, dass „die Politisierung unmittelbarer Bedürfnisse des Alltagslebens subversive Sprengkraft entfalten kann“.

Wie war das gemeint? Aktuell als Anspielung auf die Proteste von Bremer Schülern gegen die Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Dahinter aber steckte mehr: die Art, wie Menschen zusammenleben, wie sie sich lieben und streiten, wie sie ihre Kinder erziehen, wie sie studieren und ihre Berufe ausüben – über all diese „unmittelbaren Bedürfnisse des Alltagslebens“ war das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Man könnte alles ganz anders machen. Zum Beispiel Wohngemeinschaften gründen, mit gemeinsamer Kasse und Waschmaschine; den „Besitzanspruch“ aus der Liebe verbannen; die Scham hinterfragen, die Klotür aushängen. Wie die Kinder werden, die gern nackt rumlaufen; sie – zu mehreren Familien – gemeinsam erziehen. Statt eine Arztpraxis zu gründen, die zu anderen in Konkurrenz tritt, eine Gemeinschaftspraxis aufmachen, in der sich die Kompetenzen verbinden.

Statt als Autor seine Artikel an die Presse zu verkaufen, lieber mit anderen eine eigene Zeitung gründen, deren Statut den Traum vom neuen Menschen als verwirklicht unterstellt. Das alltägliche Privat- und Berufsleben wartete nur darauf, von Grund auf umgestülpt und neu entworfen zu werden. Geschähe dies, so könnte eine „subversive Sprengkraft“ von ihm ausgehen – revolutionärer als die veraltende Idee vom letzten Gefecht mit Schießerei und Barrikaden.

Das soll Dutschke gemeint haben? Ja, so hat er gedacht, wenn auch nicht selbst so gelebt. In den „Fetten Jahren“ erinnert der Alt-68er und angebliche Dutschke-Freund Hardenberg daran, dass er und seine Genossen nicht nur Politik im Kopf gehabt hätten, sondern auch jede Menge Spaß. Die Wohngemeinschaften waren ja nur deshalb verdächtig, weil der Spießer vermutete, dass in „gemischten“ WGs auch die Sexpartner öfter mal wechselten, womit er gar nicht falsch lag.

Auch die „Fetten Jahre“ nimmt dieses Motiv auf, nicht nur in den Erzählungen des alten Hardenberg, sondern schon in der Wohn- und Lebenssituation seiner jungen Helden. Kaum taucht das Mädel in der WG auf, gibt es auch schon längere Blicke zwischen ihr und Mitbewohner Jan. Die Message hieß damals wie heute: Menschen wollen sich mit Anfang zwanzig nicht niederlassen, sie wollen sich ausprobieren – auch Sexualität kann und soll als Experimentierfeld gelten. Die Wohngemeinschaft – ursprünglich entstanden aus praktisch-ökonomischen Erwägungen – ist die zu dieser Einstellung passende Wohnform, ob die Klotür nun ausgehängt wird oder nicht. Sie ist sozusagen der Komplize der sexuellen Freiheit. Vor 68 war das unerhört. Heute ist es normal, man weiß auch schon, was geht und was nicht, und lässt die Klotür drin.

Und Dutschke? Er führte eine bürgerliche Ehe mit Kind und Kegel, Kommuneideen imponierten ihm theoretisch, reizten ihn aber nicht zur Umsetzung. Wer das als inkonsequent ablehnt, weiß wenig über 68. Eins der Schlüsselworte der Bewegung hieß Einheit. Nicht im Sinne von deutscher Einheit oder von Unterrichtseinheit, sondern von Einheit der Gegensätze.

Der Film-68er Hardenberg hat das wieder vergessen, sonst hätte er nicht gesagt: Wir wollten nicht nur Politik, sondern auch Spaß. Er hätte eine andere Formulierung gewählt. Denn der Witz war, dass man Politik und Spaß gerade nicht als zweierlei aufgefasst hat. Das eine sollte sich im anderen ausdrücken, und das andere sich in einem verwirklichen. Das klingt heute kryptisch, damals war es ganz einfach. In den Worten Dutschkes: „Die Revolutionierung der Revolutionäre ist so die entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen.“

Das hört sich nicht weniger kompliziert an, war aber damals ebenfalls völlig einleuchtend: Wenn immer mehr junge Menschen, die sich als Revolutionäre verstehen, aufhören, ihren Eltern und Chefs blind zu gehorchen, und sich stattdessen eigene Gedanken machen, wenn sie sich weigern, überhöhte Fahrpreise zu bezahlen, und stattdessen WGs und Gemeinschaftspraxen gründen und ihre Kinder antiautoritär erziehen, dann wird der Funke der Subversion irgendwann überspringen und werden die Menschen in Stadt und Land das Joch eines verlogenen, abstumpfenden Arbeits- und Liebeslebens von sich werfen …

Klar, das war die Utopie, deren Glanz und Größe im umgekehrten Verhältnis zur Chance ihrer Verwirklichung stand. Aber dabei hielt man sich nicht auf. Man wollte erst mal sehen, wie weit man mit Optimismus kam. Der Einheitsgedanke war eine Chiffre für diesen Optimismus, er hat damals viele Leute wirklich beflügelt. Sich sexuell zu befreien oder wenigstens aus einem Spießerelternhaus davonzulaufen, das war keine bloße Privatsache, es galt vielmehr als Molekül innerhalb jener gigantischen Gärung, die Weltrevolution hieß. Es war nicht das ganz Andere der Politik, sondern ein wichtiger Teil von ihr. Aber nur ein Beckmesser hätte jetzt von der gesamten APO verlangt, von zu Hause abzuhauen oder schwarzzufahren.

Wichtig war das Bewusstsein der Einheit – der praktische Vollzug war „vor der Revolution“ nicht für jeden möglich. Man musste Schwerpunkte setzen. So gab es die Kommunarden, und es gab die Politruks. Die einen wie die anderen wussten, dass sie sich ergänzten und dass man Rücksicht zu nehmen hatte auf Genossen, die die Klotür noch brauchten, dafür aber wertvolle Arbeit im internationalen Beziehungsnetz leisteten, so wie es für die Weltrevolution unabdingbar war.

Rudi Dutschke war so ein politischer Netzwerker. Alle seine Bestrebungen liefen darauf hinaus, Kontakte zu knüpfen zu revolutionären Zellen und Köpfen in Südamerika, bei den Black Panthers, im Iran, in Indien, in Afrika und überall in Europa. Das war Spaß genug. Da blieb keine Zeit für Überlegungen rund um die Klotür. Aber das Bewusstsein, dass wir bürgerlichen Individuen mit unserer Scheu davor, uns nackt – in jedem Sinn – zu zeigen, mit unserem Bedürfnis nach Sicherheit und unserer Bereitschaft, uns fraglos unterzuordnen, vielleicht doch nicht die Richtigen seien, eine grundstürzende Revolution zu machen, aus der eine neue Weltordnung entstehen könnte, das besaß er durchaus.

Der Erziehung seiner Kinder, die er sich frei und stark wünschte, widmete er ausgiebig Zeit und Gedanken. Denn: Ohne Subjekt keine Revolution – jedenfalls keine, aus der die ersehnte „freie Gesellschaft freier Individuen“ hervorgehen würde.

Aber wie konnte dieser kluge Kopf, fragen Jüngere heute, sich dermaßen in die Begeisterung für das revolutionäre Ideal verrennen, dass er gar nicht merkte, wie fern es war? Das sah er in seinen letzten Jahren durchaus, und es bedrückte ihn. In den Jahren bis 1968 hatte die Weltgeschichte tatsächlich die Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben: Es gab die Dekolonisation. Es gab die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Es gab den Prager Frühling. Es gab den Vietcong und die weltweite entschiedene Parteinahme für ihn. Eine Zeit lang sah es so aus, als wolle die Geschichte mit Unterdrückung und Diskriminierung weltweit ein Ende machen. Morgenluft strich über die Kontinente, und überall reagierte die Jugend. Amerikanische GIs verbrannten ihre Einberufungsbefehle, Frauenrechtlerinnen ihre BHs. Journalisten erhielten in Zeitungen Platz, um ausgiebig über die Strategien US-amerikanischer Konzerne zu berichten, die den Süden ausplünderten. Noch nicht verjährte Verbrechen wie die Ermordung Lumumbas oder die Umtriebe der McCarthy-Ära wurden in Filmen und Büchern erneut aktuell.

In Deutschland haderte die Jugend mit alten Nazis und neuer Konsumwut. 1967 gab es eine Streikwelle, auch in Italien, Frankreich und England rumorte es. Wer keine Fabrikbesetzungen oder Straßenkämpfe vorzuweisen hatte, bot wenigstens zivilen Ungehorsam. Und die Musik, die dazu spielte, hieß Rock ’n’ Roll, hieß I can’t get no satisfaction. In so einer Zeit konnten Menschen wie Rudi Dutschke gar nicht anders, als den Gedanken einer Revolution zu fassen. Er war nicht der Einzige. Die Zeit selbst dachte ihn.

Aber sie hat ihn dann fallen lassen.

Kurz nachdem in Amerika Martin Luther King getötet wurde, gab es in Berlin das Attentat auf Rudi Dutschke. Diese Projektile des Jahres 1968 brachten ein Gutteil revolutionärer Energie zur Strecke; die Gegenrevolution schritt zur Tat, wo die Revolution es noch beim großen Wort belassen hatte. Wie es weiterging, ist bekannt. Die Revolution fand nicht statt, aber die Welt hat sich trotzdem verändert.

Jan und Peter wohnen in der WG, die Liebe ist (in ihrem Milieu) frei, wenn auch dadurch nicht einfacher. Die Friedens- und Alternativbewegung soll nicht vergessen werden, auch sie geht auf 68 zurück, ebenso die Frauenbewegung und später die Grünen. Und I can’t get no … erklingt immer noch. Ist es (auch) Rudi Dutschkes Geist, der in diesem Zuwachs an politischen Optionen und individuellen Freiheiten lebt?

Im Sinne der skizzierten Einheit unbedingt. Sie, diese Freiheiten, waren nicht im Einzelnen Dutschkes Werk oder Bedürfnis, aber wollte man hier auf- und zuteilen, verstieße man gegen den Geist der Revolte, dessen Sprachrohr er war. Dieser Geist bestand darauf, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Dekolonisation und WG, er bestand auf der Einheit aller versprengten Impulse, Motive und Aktionen als Partikel der Revolution.

Wenn Hardenberg im Film sagt, er lehne ab, was Peter, Jan und Jule tun, er habe aber Respekt vor ihren Idealen, dann zeigt er noch einmal, wie wenig ihm von jener Einheit – hier von Theorie und Praxis – in Erinnerung geblieben ist. Aber schließlich muss er – genau wie seine drei Entführer – heute leben und handeln.

Und die Gegenwart ist fantasielos, sie legt den Einheitsgedanken nicht mehr nahe, sie macht es Peter, Jan und Jule schwer, ihr „Ding durchzuziehen“. Die tun es trotzdem, sie haben Spaß dabei, und der korrupte Altrevoluzzer Hardenberg verrät sie an die Bullen. Aber die drei sind schneller.

Dutschke hätte der Film gefallen. Wenngleich von ihm berichtet wird, dass er im Kino einschlief. Kein Film konnte so aufregend sein wie die Revolution im Kopf.

Die Sechzigerjahre, Dutschkes Zeit, hat offen mit der Utopie geflirtet. Es war Dutschkes Verdienst, dass er (mit anderen) die Gunst der Stunde erkannte und ihre Möglichkeiten ausformulierte. In einem Punkt war er erwiesenermaßen zu optimistisch: „Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird“, hat er gesagt. Doch auch eine derart gewagte Überzeugung hat eine beflügelnde Wirkung, solange sie nicht widerlegt ist. Dabei kommen dann so gute Sachen raus wie WGs, Kinderläden, grüne Minister und ein Gespür für skandalöse Schieflagen im sozialen Leben. Und so ist es doch immer noch Dutschkes Ding, das Peter, Jan und Jule jetzt durchziehen.

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