: Eine endlose Geschichte
Nach heftigen juristischen Disputen steht ein Polizist wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Er hatte Heiligabend 2002 einen Einbrecher erschossen
Von Kai von Appen
Polizei und Justiz taten sich vom ersten Tag an mit dem Fall schwer: Hatte doch der damalige Innensenator Ronald Schill noch in der Tatnacht die schützende Hand über Wolfgang Sch. (42) gehoben. Der Oberkommissar hatte den vermeintlichen Einbrecher Julio V. (25) auf der Flucht in den Rücken geschossen und getötet. Über zwei Jahre danach und nach heftigem juristischen Streit wird dem Polizisten ab heute der Prozess wegen „fahrlässiger Tötung“ gemacht.
Die Story ist wie aus einem schlechten Krimi: Sch. vom Revier Oberaltenallee war am Heiligabend 2002 mit einem Kollegen zu einem Einbruch in den Uhlenhorster Weg gerufen worden. Während sein Kollege am Streifenwagen Verstärkung anforderte, stürmte Sch. allein ins Treppenhaus. Dort wurde er, so seine Aussage, angegriffen und habe geschossen.
Für Schill, der auf seiner Heiligabend-Tour durch die Reviere just die Wache an der Mundsburg heimsuchte, war klar, „dass es ja wohl Notwehr war“, obwohl dies nach den Erkenntnissen von Spurensicherung und Mordkommission nicht zutreffen konnten. Die Intervention des Senators zeigte dennoch Wirkung: Die Staatsanwaltschaft leitete zunächst nur ein „Vorermittlungsverfahren“ ein, in dem Sch. nicht als „Beschuldigter“, sondern nur als „Zeuge“ geführt wurde. Tagelang wurde er nicht vernommen, da er sich als vernehmungsunfähig krankschreiben ließ. Wochenlang geschah nichts – sehr zum Unverständnis der kriminologischen Fachwelt.
Erst der von der Familie des Opfers engagierte Anwalt Manfred Getzmann brachte Bewegung in den Fall: „Das war keine Notwehr, dass war ein vorsätzliches Tötungsdelikt“, klagte der Jurist an und legte eine andere Version nahe. Als die drei Einbrecher das Anrücken der Polizei bemerkt hätten, versuchten sie durch einen Sprung aus dem Flurfenster in den Hof zu entkommen. Sch. schoss und traf V. tödlich. „Der Schusskanal deutet darauf hin, dass er von oben aus dem Fenster in den Rücken geschossen wurde“, so Getzmanns Rekonstruktion im Januar 2003.
Dennoch wurden die Ermittlungen weiterhin schleppend geführt, auch Merkwürdigkeiten kamen vor: So wurde von der Polizei die Kassette mit Funksprüchen des Tatabends gelöscht, bevor sie ausgewertet werden konnte. Suspendiert wurde Sch. erst im Frühjahr 2003, aber nicht wegen des Todesschusses. Er hatte einen Verkehrsunfall verursacht und den Unfallgegner verprügelt. Dafür wurde er zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt.
Innerhalb der Staatsanwaltschaft herrschte lange Zeit ein Disput, ob Anklage wegen Totschlags oder „fahrlässiger Tötung“ zu erheben ist. Und als diese sich dann Anfang 2004 durchgerungen hatte, wegen fahrlässiger Tötung anzuklagen, machte ihr das Amtsgericht einen Strich durch die Rechnung. Es erkannte nach Aktenlage auf „Notwehr“ und lehnte die Eröffnung des Verfahrens ab. Eine unverzügliche Beschwerde vor dem Landgericht revidierte diesen „Freispruch“ und wies das Amtsgericht an, den Fall aufzurollen.
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