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„Das war eine kitzlige Situation“

Vor 30 Jahren wurde Peter Lorenz (CDU) entführt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) setzte sich dafür ein, dass die Forderungen erfüllt wurden und Lorenz freikam. Er hat das nie bereut

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE

taz: Herr Schütz, am 27. Februar 1975 – drei Tage vor den Abgeordnetenhauswahlen – wurde der Spitzenkandidat der CDU, Peter Lorenz, entführt. Sie waren damals Regierender Bürgermeister und SPD-Gegenkandidat von Lorenz. Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert?

Klaus Schütz: Wir hatten am Vormittag gerade eine letzte Wahlkampfbesprechung. Ich habe den Wahlkampf sofort eingestellt und mir einen Überblick über die Nachrichtenlage verschafft. Die war sehr dürftig. Dann habe ich mich mit den Fraktionsvorsitzenden von CDU, FDP und SPD darauf verständigt, einen Krisenstab einzurichten.

Wie standen Sie zu Lorenz?

Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihm und seiner Frau. Das geht auf die Zeit 1946/47 zurück. Ich war Jungsozialistenführer in Berlin-Wilmersdorf. Lorenz war bei der Jungen Union ein wichtiger Mann. Unsere Parteien haben gemeinsame Tanzabende veranstaltet. Im 46er-Wahlkampf haben Lorenz und ich zusammen Plakate geklebt, jeder für seine Partei.

Am zweiten Tag der Entführung ging das Foto ein, auf dem Lorenz als Gefangener der Bewegung 2. Juni zu sehen ist. Da war klar, was die Kidnapper wollten: die Freilassung von sechs politischen Gefangenen.

Auf der ersten Sitzung des Krisenstabes hatte ich gesagt: Ich sei dafür, alles, was möglich ist, zu tun, dass Lorenz freikommt. Dabei bin ich geblieben.

Haben Sie diese Haltung den anderen Mitgliedern des Berliner Krisenstabs damals vorgegeben?

Das war damals eine sehr kitzlige Situation. Deshalb möchte ich keine Details aus den Sitzungen berichten.

Auch 30 Jahre später nicht?

Ich halte nichts davon, Anekdötchen zu erzählen. Aber um die Frage zu beantworten: CDU und SPD haben volle Unterstützung zugesagt. Die FDP war sich nicht ganz so sicher, das hat sich aber bis zur nächsten Sitzung geändert. Damit hatte ich von allen Parteien Rückendeckung.

Was passierte dann?

Von den Gefangenen, deren Freilassung gefordert wurde, saß nur Horst Mahler in Berlin ein. Der hat aber gleich groß und breit erklärt, dass er nicht rauswill. Die Übrigen waren in Gefängnissen in Hessen, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Wir mussten uns also mit den anderen Bundesländern abstimmen. Deshalb gab es dann sehr schnell eine Krisensitzung in Bonn.

Dazu sind Sie in die damalige Bundeshauptstadt geflogen. Wie war dort die Stimmung?

CDU und CSU, allen voran Helmut Kohl und Franz Josef Strauß, waren mit mir einer Meinung. Auch die Bundesländer haben keine Schwierigkeiten gemacht.

Dafür aber die SPD-geführte Bundesregierung.

Bundeskanzler Schmidt hatte an dem Tag Grippe und war nicht sehr funktionstüchtig. Bei ihm und Jochen Vogel war die Haltung sehr durchwachsen. Wehner stand in der Mitte. Er hat zu mir gesagt: Du wirst dich noch wundern, wenn der Lorenz tot vor deiner Tür liegt. Ich habe geantwortet: In so einem Fall trete ich sofort von meinem Amt zurück. Willy Brandt hat versucht, von meiner Seite aus zu argumentieren. Der Bundeskanzler hat das Ergebnis der Diskussion dann mit den Worten zusammengefasst: Wir stellen also fest, CDU und CSU sind für Nachgeben. Ich habe ergänzt: Und der Senat von Berlin. Niemand hat widersprochen. Damit bin ich zurück nach Berlin und habe die Operation eingeleitet.

Lorenz ist nach fünf Tagen freigekommen. Haben Sie Ihre Entscheidung jemals bereut?

Nein. Ich musste mich öfter rechtfertigen. Nicht in dem Sinne, dass ich beschuldigt wurde. Aber es hieß: In Bonn seien andere Meinungen vertreten worden. Zu mir sind aber auch viele Leute gekommen, die gesagt haben, es war richtig.

Helmut Kohl schreibt in seinen Memoiren: Die Entscheidung war ein Fehler, weil der Staat dadurch erpressbar geworden sei. Deshalb sei für ihn, Kohl, klar gewesen, dass der Staat bei der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm im April 1975 durch die RAF und der Entführung von Arbeitgeberpräsident Schleyer im Herbst 1977 kein zweites Mal nachgeben dürfe.

Die These vom Präzedenzfall Lorenz habe ich nie geteilt. Sie ist nirgendwo verifiziert. Was danach gekommen ist, hatte meiner Meinung nach nichts mit der Lorenz-Entführung zu tun.

Als Schleyer 1977 fünfeinhalb Wochen entführt war, hat sein Sohn das Bundesverfassungsgericht angerufen, um das Leben seines Vaters zu retten. Vergebens, Urteilstenor war: Der Staat dürfe für Erpresser nicht berechenbar sein.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Prinzip entschieden, dass die Führung eines Staates entscheidet, ob ein Mensch getötet werden kann oder nicht. Ich bin im Zweifel, ob sich das Verfassungsgericht, das angerufen wurde, ein Menschenleben zu retten, auf so eine Position hat zurückziehen dürfen. Das ist das Gleiche, wie wenn dem Verteidigungsminister erlaubt sein soll, eine entführte Lufthansa-Maschine abschießen zu lassen, um vermeintlich größere Schäden abzuwenden.

Sie spielen auf das Luftsicherheitsgesetz an. Wie hätten Sie denn im Falle von Schleyer gehandelt?

Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil ich nicht in die Entscheidungsprozesse eingebunden war. Bemerkenswert ist, dass es keine richtige Aufarbeitung des Vorgangs Schleyer gibt. Der Lorenz-Vorgang ist ziemlich klar zu überblicken. Bei Schleyer weiß man nicht, was die Ermittlungsbehörden getan haben, um ihn und seine Kidnapper aufzuspüren, und wo sie versagt haben.

Was für eine Lehre haben Sie daraus gezogen?

Man muss so ein Ereignis bis in die Tiefen kennen, um eine Entscheidung treffen zu können. Es gibt keine schematischen Urteile. Das Schema „der Staat muss gerettet werden“ habe ich meistens nicht verstanden.

Haben Sie mit Helmut Schmidt später mal über diese Fragen gesprochen?

Ich tausche mich manchmal mit ihm aus, aber weniger darüber. Ich glaube, wir beide haben festgestellt, dass das keinen Sinn hat.

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