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irakIn die Zukunft mit Gebrüll

Nichts geht mehr in Bagdad. Die gestrige turbulente Sitzung des neuen irakischen Parlaments zeigt, wie sehr die Politik im Zweistromland blockiert ist. Eigentlich hätte ein Parlamentspräsident bestimmt werden sollen. Ohne ihn ist das Parlament nicht handlungsfähig, und ohne Parlament können kein Staatspräsident und kein Premierminister bestimmt werden– und damit keine Regierung. Statt Verfassungsorgane ins Leben zu rufen, brüllten sich die Abgeordneten nieder.

KOMMENTAR VON KARIM EL-GAWHARY

Viele Iraker haben mit der Teilnahme an den Wahlen ihr Leben riskiert. Heute, zwei Monate später, sehen sie noch immer keine Ergebnisse. Die Erfahrung der Koalitionsbildung sei nach Jahrzehnten Saddam’schen Einparteienstaats zu überwältigend, argumentieren die einen. Andere äußern sich abwertend über den irakischen Politbasar und den Schacher um Ministerposten. Doch auch die eigentlichen politischen Probleme sind komplex.

Da ist einmal die Wahlarithmetik. Die schiitische Liste ist knapp an einer Zweidrittelmehrheit vorbeigerutscht. Nun bieten sich die Kurden mit der zweithöchsten Abgeordnetenzahl als Koalitionspartner an.

Die irakischen Schiiten möchten auskosten, dass sie erstmals in ihrer Geschichte auch die politisch dominante Gruppe bilden. Die Kurden dagegen sehen sich als Zünglein an der Waage. Ebenfalls erstmals in der Geschichte sehen sie die Chance, ihre Autonomie und den Anspruch auf einen Teil der Öleinnahmen durchzudrücken.

Und dann sind da noch die Sunniten, einst die Herrscher im Land und heute aufgrund ihres Wahlboykotts vollkommen an den Rand gedrängt. Weise war es, sie trotzdem in das politische System und in die neue Regierung einzubinden. Nur so, lautet die Hoffnung, kann die vornehmlich sunnitische Guerilla isoliert werden. Das Dilemma ist: Den wenigen prominenten Sunniten, die sich zur Verfügung stellen, reichen die angebotenen Ämter nicht. Auch ist unklar, ob sie überhaupt Einfluss auf die Sympathisanten der Guerilla haben. Und schon ist wieder alles am Nullpunkt angekommen.

Die jetzigen Konflikte werden noch überboten, wenn sich die heterogenen politischen, ethnischen und religiösen Gruppen im Sommer auf eine endgültige irakische Verfassung einigen sollen. Das Schachern um die neue Regierung dient nur der Einstimmung. Gebrüllt wird in den kommenden Monaten noch viel mehr in Bagdad.

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