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Eierschecke und Falafel

Kreuzberg ist mehr als nur ein Stadtbezirk. Kreuzberg ist ein Scheidepunkt der Weltanschauungen: Langjährige Generationenkonflikte über Kultur- und Alltagsfragen beleben immer wieder aufs Neue den familiären Diskurs

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Es war ein großer Tag – nicht nur für den kleinen fünfjährigen Jungen, der seine Schultüte ins erste Klassenfoto seines Lebens hielt. Nein, auch die Großeltern des Kleinen waren so richtig glücklich. Das war schon lange nicht mehr so. Einst war ihr Sohn nach Berlin gezogen, um dort sein Glück zu finden. Seine Eltern haben ihn bis zur Einschulung ihres Enkels nur zweimal besucht.

Einmal, vor Jahren, als er noch ganz frisch war in Berlin und sich die Eltern einfach nicht vorstellen konnten, dass er zurechtkommen könnte, ohne dass ihm jemand erklärt, wie man die Wäsche sortiert oder welchen Bohrer man für einen Achterdübel braucht. Ein zweites Mal waren die Eltern angereist, als ihr Enkel noch ganz frisch war. Es waren wenig erfreuliche Besuche.

Sie konnten nicht verstehen, wie man es nur aushalten könne in diesen Straßenschluchten. Und wenn sie schon ein paar Gläser Prosecco zu viel getrunken hatten, dann rutschte ihnen raus, was sie sich die ganze Zeit über schon dachten, ihrem fehlgeratenen Sohn aber nüchtern nie zu sagen gewagt hätten: „Stört dich das eigentlich nicht, diese ganzen Ausländer hier?“

Seit der Geburt ihres Enkels haben sie ganz offen versucht, ihren Sohn zu beeinflussen. Jahrelang haben sie ihm Zeitungsartikel geschickt, in denen es immer wieder um dieselbe Kreuzberger Schulklasse gegangen ist, in der der Ausländeranteil bei weit über 100 Prozent liegt. Jetzt sind sie glücklich, auch ein wenig stolz auf sich selbst, weil sie glauben, ihren Sohn gerade noch rechtzeitig auf einen guten Weg gebracht zu haben. Kurz vor der Einschulung des Enkels ist die Familie ihres Sohnes nach Friedrichshagen gezogen, an den Müggelsee, ganz weit draußen im Südosten Berlins. Und was die Eltern nie für möglich gehalten hätten: Es gibt in Berlin rein arische Schulklassen.

Drei Jahre sind mittlerweile vergangen seit der Einschulung. Die Klasse des Kleinen ist immer noch ganz blond. Und dennoch sind die Großeltern wieder ein wenig unzufriedener mit dem Vater ihres Enkels. Denn statt schön am Stadtrand zu bleiben, sich am Balzverhalten der Schwäne auf Berlins größtem See zu erfreuen, fährt er immer öfter in die Stadt. Nicht allein – das würde die Alten nicht beunruhigen. Nein, er nimmt seinen Sohn mit. Er will, dass sein Sohn später einmal keinen Kulturschock erleidet, wenn er – langhaarig dann und mit unmöglichen Klamotten angetan – einst von zu Hause ausbricht und in Kreuzberg völlig orientierungslos herumirrt.

Der erste Ausflug in die große, fremde Welt hat Vater und Sohn in den Görlitzer Park geführt – auf den Spielplatz. Dort hat Papa seinem Kleinen erklärt, dass es auch Menschen gibt, die nicht deutsch sprechen und trotzdem zumindest so etwas Ähnliches wie Deutsche seien. Einer der Gemeinten hieß Abdullah, war ein kleiner, überaus übergewichtiger sechsjähriger Supermacho, der doppelt so laut sprechen konnte wie alle anderen Kinder auf dem Spielplatz zusammen. Zudem beherrschte er doppelt so viele Sprachen wie Papas Kleiner – zwei. Er sammelte nach und nach das gesamte Sandspielzeug aller anwesenden Kleinkinder ein, um es mit nach Hause zu nehmen. Ein Kind, das sein Förmchen nicht hergeben wollte, wurde von Abdullah beiseite geschubst. „Gib her, die anderen haben auch nichts gesagt“, schrie Abdullah. Als Sohnemann seinen Papa fragte, warum Abdullah das denn einfach so machen dürfe, meinte der: „Der darf das nicht, der macht das nur.“ Merkwürdig, denkt sich der Kleine. Er schaut seinen Vater an. Komisch sieht der aus – so verzückt. Und die Zigarette, die er raucht, riecht auch anders als das, was er sich normalerweise zwischen die Lippen steckt.

Seither waren die beiden oft in Kreuzberg. Will der Kleine ins Kino, schaut Papa zuerst, was in Kreuzberg läuft. Der Karneval der Kulturen ist der Höhepunkt der Freiluftsaison, aber auch jedes andere Straßenfest in Kreuzberg besuchen die beiden. Dann muss der Kleine immer wieder irgendwelche Delikatessen probieren. Im Gegensatz zu den meisten seiner Friedrichshagener Mitschüler weiß er, wie Falafel schmeckt und was Schawarma ist. Er kennt die Leckereien, die ihm sein Vater in den türkischen Bäckereien zu kaufen pflegt, und findet, dass die meisten besser schmecken als Eierschecke oder Kameruner.

Die Großeltern von Sohnemann finden all das gar nicht witzig. Sie haben Angst, dass irgendwann einmal irgend jemand ihrem Enkel ein Messer zwischen die Rippen steckt. „Die ticken da einfach anders, das muss man akzeptieren“, sagen sie und schwärmen vom beschaulichen Friedrichshagen. Da finden sie es schön. „Warum gibt es denn zur Feier des Tages heute keine Lammkeule“, fragten die Eltern damals am Einschulungstag beim Blick auf den Schweinerollbraten, den der Sohn ihnen vorsetzt, „die hast du doch immer so schön gemacht.“ – „Da kriegst du das Fleisch hier gar nicht, da musst du schon nach Kreuzberg fahren“, antwortet ihr Sohn. „Macht nichts, Schweinerollbraten ist ja auch was Gutes.“ Sie haben ihre Teller leer gegessen.

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