: Mord im Katholikenviertel
aus Belfast RALF SOTSCHECK
Man kommt sich vor wie auf einer winzigen Insel. Aber das kleine katholische Viertel Short Strand im Osten der nordirischen Hauptstadt Belfast ist nicht vom Meer umgeben, sondern von 60.000 Protestanten. Am südlichen Ende wird die Enklave mit ihren 3.000 Einwohnern durch eine breite Durchfahrtstraße begrenzt, an den anderen drei Seiten stehen Mauern, auf die sechs Meter hohe Zäune aufmontiert sind. Auf dem Wellblechzaun an der Bryson Street, der die Straße ins protestantische Nachbarviertel versperrt, prangt ein Gemälde, auf dem die Straße weiterführt. Quer darauf steht in weißer Farbe: „Liebe deinen Nachbarn.“ Niemand aus Short Strand war jemals auf der anderen Seite des Zauns.
Es gibt keine Plakate für die britischen Parlamentswahlen am 5. Mai. „Wozu auch“, meint Seán Laughran, ein arbeitsloser Elektriker, der seit mehr als 30 Jahren in dem Viertel lebt. Die Wahlen finden in Nordirland ohne britische Beteiligung statt: Labour, Tories und Liberale Demokraten kandidieren nicht. Das Mandat für Ostbelfast, und dazu gehört Short Strand nun mal, gehe an Peter Robinson, den Stellvertreter des demagogischen Protestantenpfarrers Ian Paisley von der Democratic Unionist Party (DUP), sagt Laughran. „Aus Short Strand wird er allerdings keine einzige Stimme bekommen“, fügt er hinzu. Hier wird Sinn Féin gewählt, der politische Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA).
1972 brach die Gewalt hier zum ersten Mal aus, und seitdem ist die Gegend eigentlich nie mehr zur Ruhe gekommen. Auch nach dem Waffenstillstand der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) vor elf Jahren kam es hier fast jede Nacht zu Straßenschlachten mit den protestantischen Nachbarn. Nun ist das Viertel wieder in den Schlagzeilen, weil die IRA Ende Januar den 33-jährigen Robert McCartney, einen Mann aus Short Strand, umgebracht hat. Er soll eine abfällige Handbewegung gegenüber der Ehefrau eines IRA-Mannes gemacht haben.
Seine fünf Schwestern führen nun eine Kampagne, um die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Keiner der 72 Zeugen, die den Mord in Magennis’ Bar miterlebten, hat eine Aussage gemacht. Die IRA hat drei Mitglieder suspendiert, Sinn Féin hat sieben Mitglieder vorläufig ausgeschlossen, eine Parteifrau musste ihre Kandidatur für die Wahlen zurückziehen, weil sie ebenfalls in der Bar war. Angeklagt wurde bisher niemand.
McCartney ist in Short Strand aufgewachsen. Vor ein paar Jahren kaufte er seinen Eltern das kleine Haus aus rotem Backstein ab und zog mit seiner Partnerin Bridgeen Hagans und den beiden kleinen Kindern ein. Die 27-jährige Hagans ist schlank, hat lange blonde Haare und blaue Augen. Sie ist fotogen, ihr Bild ist seit dem Mord von Zeitungen in aller Welt abgedruckt worden. Sie ist mit den McCartney-Schwestern von US-Präsident George Bush empfangen worden, sie hat Demonstrationen und Mahnwachen in Short Strand organisiert. Vorige Woche haben ihr IRA-Mitglieder deshalb nahe gelegt, aus dem Viertel zu verschwinden. „Ich bin unpolitisch“, sagt sie, „ich habe meine Stimme bei den letzten Wahlen gar nicht abgegeben. Aber Robert hat sein Leben lang Sinn Féin gewählt.“
Parteipräsident Gerry Adams räumt ein, dass der McCartney-Mord Auswirkungen auf die Wahlen im Mai haben wird. „Es wird sich herausstellen, in welchem Ausmaß“, sagt er. Sein Stellvertreter Martin McGuinness beschuldigt „Feinde von Sinn Féin“, den Mord auszunutzen, um der Partei zu schaden. Drahtzieher der Kampagne sei Anthony McIntyre, behauptet McGuinness.
Unsinn, sagt McIntyre. Er sei lediglich ein Freund der Familie und habe Hagans und die Schwestern beraten. McIntyre ist Ende 40, er ist untersetzt, hat kurze, angegraute Haare und einen Ziegenbart. Früher warer selbst in der IRA. „Der bewaffnete Kampf übte auf mich als 16-jährigen eine große Anziehungskraft aus“, sagt er. Innerhalb weniger Tage wurde er zum Scharfschützen ausgebildet. 1974 wurde er verhaftet und wegen Mordes an einem Mitglied einer protestantisch-loyalistischen Organisation zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 1992, nach 18 Jahren im Gefangenenlager Long Kesh, kam er frei und ging zurück zur IRA. „Aber die Organisation hatte sich verändert“, sagt er. „Die totalitäre Kontrolle durch Adams erstickte jede interne Diskussion. Adams umgab sich mit kopfnickenden Lakaien.“ McIntyre löste sich 1998 von der IRA. „Der Zeitpunkt war richtig“, findet er. „Unter der Führung von Adams hat die IRA keine Existenzberechtigung mehr. Sie ist keine nationale Befreiungsarmee mehr, sondern eher ein nationales Verbrechersyndikat, das sich auf Schutzgelderpressung, Raubüberfälle, Strafaktionen und hin und wieder einen Mord an Leuten aus dem eigenen Lager konzentriert. Was früher eine Guerilla war, ist nun eine Parteimiliz.“
Und sie hat eine strategische Bedeutung, glaubt McIntyre: Die IRA müsse ab und zu den Frieden stören und die Unionisten in Aufruhr versetzen, damit Sinn Féin auf die Notwendigkeit des Friedensprozesses verweisen kann. „Krisen halten den Friedensprozess in Gang und verhindern eine Lösung des Konflikts“, sagt er. „Das ist das Ziel: Die Führung von Sinn Féin profitiert von der permanenten Instabilität, denn sonst wäre die Partei nur eine unter vielen.“ McIntyre verweist darauf, dass Premier Tony Blair seit seinem Amtsantritt 34-mal in Nordirland war. Keiner anderen Region hat er, abgesehen vom Irak, so viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Deshalb sei Adams’ Aufruf an die IRA, die Waffen abzugeben und sich dem demokratischen Prozess zu verschreiben, ein wahltaktisches Manöver, sagt McIntyre. Sinn Féin, darauf deuten alle Umfragen hin, wird aus den Wahlen als stärkste Partei auf katholischer Seite hervorgehen. Für ihre Konkurrenten, die Social Democratic and Labour Party (SDLP) des Friedensnobelpreisträgers John Hume, geht es dagegen ums Überleben. Seit Hume und die alte SDLP-Garde von der politischen Bühne abgetreten sind, ging es mit der Partei bergab. Noch hat sie drei der 18 nordirischen Westminster-Sitze, doch mindestens einen wird sie an Sinn Féin abgeben müssen. Verliert auch Humes Nachfolger Mark Durkan seinen Sitz in Nordirlands zweitgrößter Stadt Derry an den Sinn-Féin-Vorsitzenden Mitchell McLaughlin, ist es um die SDLP geschehen.
Auf protestantischer Seite kämpft die Ulster Unionist Party (UUP) von David Trimble, der mit Hume gemeinsam den Friedensnobelpreis gewann, um ihre Existenz. Von ihren vier Mandaten sind drei gefährdet. In Südbelfast rief sogar der ehemalige Parteivorsitzende James Molineaux dazu auf, den Kandidaten von Paisleys DUP zu wählen. Die ist mit sieben Unterhaussitzen stärkste Kraft in Nordirland.
„Es läuft auf einen Zweiparteienstaat hinaus“, prophezeit McIntyre. Adams glaubt, dass er mit Paisley ins Geschäft kommen kann. „Wozu sollte die DUP überhaupt kandidieren, wenn sie ihr Mandat nicht zum Nutzen ihrer Wähler einsetzen will“, fragt er. „Paisley fährt im Wahlkampf eine harte Linie, aber nach den Wahlen wird er mit uns verhandeln müssen.“
In Short Strand sieht man das mit gemischten Gefühlen. „Der ganze Friedensprozess hat in unserem Viertel gar nichts verändert“, sagt Sean Laughran im Pub „Melting Pot“. Er wird am 5. Mai seine Stimme Sinn Féin geben, trotz des Mordes an Robert McCartney. „Wen“, so fragt er, „soll ich denn sonst wählen?“
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