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Das Gerücht vom Allheilmittel

KINDERÄRZTE Eine Studie zeigt: Wie oft Kinder Antibiotika verschrieben bekommen, hängt vom Wohnort ab. Nicht immer ist die Vergabe sinnvoll

„Mit Antibiotika behandelt man immer den ganzen Körper und alle seine Mitbewohner“

Stefan Trapp, Vorsitzender des Verbandes der Kinderärzte in Bremen

Wenn ein krankes Kind in Niedersachsen zum Kinderarzt gebracht wird, hängt die Vergabe von Antibiotika vom Wohnort ab. Kommt das Kind aus dem Kreis Cuxhaven, so ist die Vergabewahrscheinlichkeit höher, als wenn das es aus dem Kreis Celle stammt. Dass der Wohnort über die Vergabe von Antibiotika mitbestimmt, geht aus der neu veröffentlichten Studie „Antibiotika-Verordnung bei Kindern“ der Bertelsmann-Stiftung hervor.

Bundesweit wurde 2010 die Vergabe von Antibiotika an Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre untersucht. Im norddeutschen Vergleich werden besonders in Niedersachen große Unterschiede sichtbar: Im Nordosten werden deutlich weniger Antibiotika verschrieben als in den westlichen Landkreisen. So bekamen im Kreis Cuxhaven 60 Prozent der Kinder bis sechs Jahre mindestens einmal im Jahr ein Antibiotikum verordnet. Im Kreis Celle waren das nur bei 47 Prozent der Fall.

Die genauen Gründe seien nicht bekannt, sagt Tilman Kaethner, Landesverbandsvorsitzender der Kinderärzte in Niedersachsen. Eine höhere Antibiotikavergabe könne aber mit einer „geringeren Dichte an Kinder- und Jugendärzten auf dem Land“ zusammenhängen. Der Weg zum nächsten Kinderarzt sei länger als in den Städten. Aufgrund der weiten Entfernung würde vom Arzt eher ein Antibiotikum verschrieben, sagt Kaethner.

Die Unterschiede in der Antibiotikavergabe hängen laut Kaethner aber nicht nur vom Wohnort ab. Einige Ärzte neigten eher zur Vorsicht und sagten, „dann gebe ich lieber ein Antibiotikum“. Laut der Studie verordnen Hausärzte schneller ein Antibiotikum als Kinderärzte. „Das ist eine Erfahrungssache. Hausärzte betreuen alle Altersgruppen“, sagt Stefan Trapp, Vorsitzender des Verbands der Kinderärzte in Bremen. Als Kinderarzt habe man mehr Erfahrung mit Kinderkrankheiten. „Je unsicherer man ist, desto eher wird man Antibiotika verordnen“, sagt er.

Die Stadt Bremen liegt bei der Vergaberate von Antibiotika im norddeutschen Vergleich an zweiter Stelle. Am besten schneidet Schleswig-Holstein ab: 43 Prozent der Kinder bis sechs Jahre bekamen dort einmal im Jahr ein Antibiotikum verschrieben.

Antibiotika helfen bei bakteriellen Erkrankungen wie Lungenentzündung, bei viralen Infekten wie Grippe, Bronchitis oder Mittelohrentzündung ist die Vergabe nutzlos. Die falsche Behandlung mit Antibiotika richtet auf lange Sicht großen Schaden an. „Wir sind jetzt schon an einem Punkt, an dem wir nicht mehr ausreichend Antibiotika haben, um kleine bakterielle Infektionen zu bekämpfen“, sagt Stefan Renz, Vorsitzender des Hamburger Kinderärzteverbandes. „In einigen Jahren kann sich das noch verschlimmern.“ Wenn ein viraler Infekt falsch mit Antibiotika behandelt werde, komme es zunehmend zu einer Resistenz der Bakterien im Körper.

„Mit Antibiotika behandelt man immer den ganzen Körper und alle seine Mitbewohner“, sagt auch der Bremer Kinderarzt Stefan Trapp. Wenn dann eine bakterielle Erkrankung auftrete, sei das Antibiotikum oft wirkungslos. Oft läge es an den Eltern, die eine Behandlung des Kindes mit Antibiotika vom Arzt fordern würden, sagt Tilman Kaethner aus Niedersachsen. „Eltern haben selbst die Erfahrung gemacht, dass sie vom Arzt schnell ein Antibiotikum verschrieben bekommen.“ Die Ärzte müssten darum „zielgerichteter behandeln“.  MAREN MEYER

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