: „Da war halt einer, der hatte kurze Arme“
CONTERGAN Jan Schulte-Hillen über den Kampf seines Vaters und das Medikament, das sein Leben nicht prägen soll
■ Die Person: Jan Schulte-Hillen wurde 1961 geboren und ist Facharzt für Allgemeinmedizin, verheiratet und hat zwei Söhne. Er ist das älteste von drei Kindern von Linde und Karl-Hermann Schulte-Hillen. Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft ihren Vater verloren und litt unter Schlaflosigkeit. Contergan nahm sie ein einziges Mal.
■ Der Vater: Den Ermittlungen des Rechtsanwalts Karl-Hermann Schulte-Hillen und des Hamburger Kinderarztes Widukind Lenz ist es maßgeblich zu verdanken, dass 1967 Anklage erhoben wurde gegen mehrere Verantwortliche des Contergan-Herstellers Grünenthal. Der Prozess endete im Dezember 1970 mit einem viel kritisierten Vergleich.
■ Der Vergleich: Danach verpflichtete sich Grünenthal, einmalig 100 Millionen Mark zur Entschädigung der Contergan-Opfer zu zahlen. 1972 dann wurde die Conterganstiftung für behinderte Menschen gegründet, in die Grünenthal 114 Millionen Euro einzahlte. Auch der Bund beteiligte sich. 2009 hat Grünenthal weitere 50 Millionen Euro in die Stiftung eingezahlt. Der Grünenthal-Erbe Michael Wirtz finanziert darüber hinaus in Aachen einen Lehrstuhl für Palliativmedizin. Seit Juli 2011 können sich Contergangeschädigte in finanzieller Not als sogenannte Härtefälle an Grünenthal wenden. Trotzdem reicht das Geld hinten und vorn nicht. Die Opferrenten – zwischen 250 und 1.127 Euro monatlich – werden aus Steuern finanziert.
INTERVIEW HEIKE HAARHOFF FOTOS BERND HARTUNG
Das alte Krämerhaus von Schollbrunn, Unterfranken. Der Mann, der sich hier eingerichtet hat, hat das Gespräch nicht gesucht. Die Biografie von Steve Jobs, neben einem ledernen Herrensessel, liegt da wie eine Mahnung, dass es wichtigere Dinge gibt im Leben als das eigene körperliche Schicksal. Er hat im Haus weder einen Wasserkocher noch eine Kaffeemaschine. Das Besteck in der Küche ist originalverpackt.
Jan Schulte-Hillen: Also, ich kann Ihnen hier nicht wirklich was anbieten. Bevor ich morgens aus dem Haus in die Klinik gehe, esse ich einen Apfel. Abends geh ich ins Restaurant. In der Küche sind Bier und Apfelsaft.
sonntaz: Schon okay. Spartanisches Leben als Haltung, hm?
Das ist ein sehr bewusst gewähltes Provisorium. Man bleibt wach und hungrig dabei. Ich bin jetzt hier seit etwa einem Jahr. Wenn es mal hart auf hart kommen sollte, dann packe ich alles in meinen Kombi und bin weg. Ich bin ja nur unter der Woche hier, ich arbeite als Honorararzt in der Notaufnahme des Krankenhauses in Wertheim. Am Wochenende bin ich bei meiner Familie in München.
Honorararzt?
Honorararzt heißt, ich werde nur bezahlt, wenn und solange es Arbeit gibt, das aber dreimal so gut wie normal. Das ist der Preis für das Risiko, dass mein Job von einem auf den anderen Tag beendet sein kann, dass es keine soziale Absicherung gibt. Andererseits kann ich sicher sein, dass die Klinik mich will, weil sie mich und meine Arbeit braucht. Und nicht, weil sie glaubt, mich aufgrund irgendwelcher Verträge oder Verpflichtungen behalten zu müssen. Das taugt mir.
Weil es dem Klischee widerspricht, dass Arbeitgeber für Menschen wie Sie besondere soziale Verantwortung übernehmen sollten?
Menschen wie mich?
Contergangeschädigte. Behinderte. Menschen, die …
Vorsicht! Ich fasse mich nicht als behindert auf. Ich habe kurze Arme, sicher, das ist im Alltag auch oft irre lästig, aber es bestimmt nicht mein Leben. Ich bin verheiratet, wir haben zwei Söhne, ich arbeite als Arzt, fahre Auto, Motorrad und Ski. Ich habe großes Glück gehabt, verglichen mit den vielen Menschen, denen es wirklich dreckig geht, die keine Arme und Beine haben, die auf dem Boden leben, sich rollend fortbewegen müssen.
Contergan, das sind die anderen?
Nehmen Sie diejenigen, die sich erst durchbeißen mussten, um überhaupt eine Arbeitsstelle zu bekommen, diese dann aber körperlich eines Tages wegen der gesundheitlichen Folgeschäden nicht mehr ausfüllen konnten: Daraufhin verloren sie ihren Job. Und mit ihm nicht nur ihren Rentenanspruch, sondern den Rest eines selbstbestimmten Lebens. Manche haben heute so wenig Geld, dass es nicht einmal reicht, um jemanden zu bezahlen, der ihnen dreimal am Tag den Hintern abwischt. Insofern weiß ich nicht, ob es nicht das Bild verzerrt, wenn Sie mich hier interviewen.
Unterscheidet sich Ihr Schicksal auch deswegen von dem vieler anderer, weil Sie ein prominenter Geschädigter sind? Ihr Vater, der Rechtsanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen, war die treibende Kraft bei der Aufklärung des größten bundesdeutschen Medikamentenskandals. Seine und Ihre Geschichte wurden vor einigen Jahren in dem Fernsehfilm „Eine einzige Tablette“ verfilmt.
Es hat mich nie besonders interessiert, ob da ein Film gedreht wird oder nicht, solange ich nicht mitspielen muss. Ich habe den Film auch nie gesehen. Und wenn mich Leute angesprochen und gesagt haben, das ist doch eure Geschichte, dann habe ich gesagt: Ja, das ist so.
Sie klingen unglaublich distanziert. Welche Rolle spielen Contergan und die Pharmafirma Grünenthal in Ihrem Leben?
Als ehrenamtlicher Gutachter der Medizinischen Kommission der Conterganstiftung bin ich häufig mit diesem Leid konfrontiert. Wir überprüfen anhand fachärztlicher Befunde, ob Schäden, die erst spät auftreten oder die Menschen jahrzehntelang für genetisch bedingt hielten, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auf Contergan zurückzuführen sind. Das ist extrem wichtig zu wissen, weil davon die Entschädigung abhängt.
Die Frage richtete sich eher an Sie persönlich.
Contergan ist ein Teil meines Lebens, den ich ein bisschen ausgeblendet habe. Im Innenverhältnis unserer Familie hat Contergan nie eine große Rolle gespielt. Wir waren drei Kinder, und da war halt einer, der hatte kurze Arme, das war dann ich. Ansonsten hatte ich eine ganz normale Kindheit, Prügeleien und Fahrradunfälle inklusive.
Herr Schulte-Hillen, wie geht so was? Ihr Vater war der Vertreter der Nebenkläger im Contergan-Prozess, er hat das Leid vieler Familien auch sehr persönlich geteilt. Und da sagen Sie, bei Ihnen zu Hause wurde wenig über Contergan gesprochen?
Contergan, das war der große Kampf meines Vaters. Er hat ihn gefochten für die Gemeinschaft der Contergangeschädigten. Und natürlich auch für mich, seinen ältesten Sohn, und meine Cousine, die ein paar Monate älter als ich ist und auch contergangeschädigt. Aber intern bei uns zu Hause war das nicht von Bedeutung. Oder nur insofern, als der Vater ständig nicht da war. Das war das Problem.
Waren Sie wütend auf ihn?
Hey, ich war sechs oder sieben! Die Unterschiede sind mir aufgefallen, wenn wir mal anderswo zu Besuch waren. Da gab es dann einen Fernseher oder ein tolles Sofa, und ich hab mich gefragt: Wieso haben die das und wir nicht? Ich bin zwischen Apfelsinenkisten und Möbeln vom Sperrmüll groß geworden. Mein Vater hat sich ja mehrere Jahre ausschließlich um den Prozess gekümmert. Ich weiß noch, dass meine Eltern einen heiligen Zorn hatten, sie waren pleite, und dann wendeten sich auch noch unsere Familien ab von uns. Sie waren der Auffassung, der Karl-Hermann verrennt sich total.
Darüber haben die Eltern mit Ihnen gesprochen?
Kindgerecht, ja. Sie haben uns gesagt, der Vater verdient kein Geld, weil er die große Ungerechtigkeit für die anderen mit den kurzen Armen beseitigen will. Wir waren dann unverschämt stolz auf ihn.
Wissen Sie heute, was ihn angetrieben hat?
Er wollte recht bekommen. Mein Vater hat ein Gerechtigkeitsgefühl, das weit über das Maß hinausreicht, das ein Jurist haben muss. Für ihn war von Anfang an klar, dass es da einen externen Schädigungsfaktor geben muss. Den hat er gesucht. Zusammen mit Widukind Lenz, dem Kinderarzt aus Hamburg, ist er monatelang über die Dörfer gefahren auf der Suche nach den anderen Kindern. Und wenn die Bauern ihm sagten, da wissen wir nichts drüber, dann zog er mein Bild aus der Tasche und sagte: „Sie müssen sich nicht schämen. Ich hab so ein Kind. Haben Sie auch so ein Kind? Das kommt von irgendwas!“ Und dann wurden diese Kinder ausgepackt …
… die bis dahin irgendwo versteckt gehalten worden waren!
Sie müssen sich überlegen, wie der Zeitgeist damals war: Wir hatten als Deutsche gerade relativ erfolgreich den grauenhaften Zweiten Weltkrieg mental hinter uns gebracht. Jetzt ging es bergauf. Wir konnten uns die fette Butter wieder leisten, nichts konnte uns stoppen. Ein behindertes Kind passte nicht in das Gedankengut dieser Jahre zwischen 1960 und 1970.
Haben Sie Ihren Eltern mal gedankt, dass sie so sehr für Sie gekämpft haben?
Expressis verbis nicht. Ich hätte mich übrigens aber auch nicht verstecken lassen. Ich musste immer alles probieren, ich war der Erste, der ein Skateboard hatte, zum Leidwesen meiner Eltern. Eins steht da noch um die Ecke.
Sie wollten beweisen, dass die Jungs mit den langen Armen auch nicht besser sind?
Quatsch. Fragen Sie mal einen Bergsteiger, warum er auf den Berg steigt: Weil er da ist. So war das mit dem Skateboard auch. Vielleicht bin ich da auch geprägt durch meinen Vater. Vieles von seinem Sich-nicht-abfinden-Können, wenn einer sagt, das ist einfach so, das habe ich sicher in mir.
Sind Sie aus diesem Grund Arzt geworden? Weil Sie rauswollten aus der Rolle, die die Gesellschaft für Menschen mit Ihrem Schicksal gemeinhin vorsieht? Vom Opfer zum Helfer?
Natürlich hat man als Arzt den Helfergedanken, und dieses Gefühl trägt auch mich. Aber was mich damals bei der Berufswahl motiviert hat, war das große wissenschaftliche Interesse daran, wie der menschliche Körper funktioniert. Und um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen: Ich glaube nicht, dass ich zurückhaltender bin bei der Verordnung von Medikamenten als meine Kollegen. Patienten haben ein Recht darauf, beschwerdefrei zu sein.
Es gibt da keine Grenzen?
Sicherlich hellhöriger bin ich bei der Verordnung starker Medikamente an junge Frauen. Das Problem ist ja, dass die fruchtschädigende Wirkung von Medikamenten zu einem sehr frühen Zeitpunkt einsetzt, zu dem die Frauen meistens noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind.
In solchen Fällen raten Sie zum Verzicht?
Selbstverständlich. Es ist nur so: Ein Teil der Errungenschaften unserer westlichen Zivilisation besteht nun einmal darin, dass wir auch bei kleineren Beschwerden schnell zu einem Medikament greifen, um diesen Zustand abzuschalten. Das haben wir uns durch Forschen und Wirtschaften erarbeitet. Contergan war aus dieser Sicht ein Kollateralschaden.
Wie bitte?
Sie haben richtig gehört: Kollateralschaden. Genauso böse muss man das formulieren. Contergan, das war eine Lifestyle-Droge, ein Smashhit. Wir gingen davon aus, dass wir in einem sicheren System lebten, und waren dann total erstaunt, als sich herausstellte, dass etwas total schädlich war.
Eine Erkenntnis, die immerhin Konsequenzen nach sich gezogen hat, bis heute.
Konsequenzen? Ach kommen Sie … Schon gut, im Arzneimittelbereich ist was passiert nach Contergan. Aber sonst? Gucken Sie sich an, was heute passiert: Ehe Ikea ein Sofa auf den Markt bringt, lässt es einen Roboter sich 50.000-mal darauf hinsetzen. Eine unglaublich aufwendige Belastungsprobe. Für ein Sofa. Bravo! Und dann schauen Sie sich, ganz aktuell, den Markt der Medizinprodukte an, den Markt dieser ganzen Brust-, Knie-, Hüftprothesen also, Implantate, die im menschlichen Körper verbleiben. Die werden vergleichsweise lax getestet, und die wenigsten regen sich auf. Oder Nahrungsergänzungsmittel, die kommen praktisch ungeprüft auf den Markt. Ich finde das vogelwild.
Woran liegt das?
Menschen sind Menschen. Mit Gefahren für den eigenen Körper befassen sie sich oft erst, wenn es zu spät ist. Die Industrie nutzt das natürlich schamlos aus – so lange jedenfalls, bis jemand aufsteht und sich wehrt. Von allein passiert gar nichts, leider.
Können Sie nachvollziehen, dass sich viele Geschädigte ein halbes Jahrhundert nach Contergan immer noch wehren? Dass sie es als großes Unrecht empfinden, dass sie bis heute keine Entschädigung nach zivilrechtlichen Maßstäben von der Firma Grünenthal bekommen haben?
Klar kann ich das nachvollziehen. Es ist nur so: Recht ist stetigem ethischem Wandel unterworfen. Aus damaliger Sicht hat sich die Firma Grünenthal nicht unrecht verhalten: Es war damals nicht vorgeschrieben, dass bestimmte Versuche gemacht werden, bevor ein Arzneimittel auf den Markt gelangt.
Entbindet dieser Umstand die Firma von der Pflicht, sich ihrer Verantwortung zu stellen?
Mit dem Wissen von heute hätte ich mir eine andere Lösung gewünscht als den völlig unzureichenden Vergleich über 100 Millionen Mark für die Geschädigten, der damals unter Druck und vor dem Hintergrund geschlossen wurde, dass kein Mensch ernsthaft dachte, wir Contergankinder würden älter als 15 Jahre. Diese andere Lösung hätte darin bestanden, die Firma – die ja ein Familienunternehmen ist – komplett in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Alle Geschädigten wären sodann Shareholder geworden. Das wäre die einzige Möglichkeit für die Firma gewesen, einen guten Umgang mit den Geschädigten zu finden. Denn als Shareholder wären sie natürlich am Wohlergehen dieser Firma interessiert gewesen. Dann hätte es keine Boykottaufrufe gegeben, sondern man hätte gemeinsam nach Lösungen gesucht. Sicherlich stünden die Geschädigten finanziell auch besser da.
Das ist eine radikale Idee, hilft den Menschen heute aber praktisch nicht weiter.
Selbstverständlich verlange ich, dass die Contergangeschädigten um Klassen besser entschädigt werden als bislang. Es muss ein Tool geben, damit diese Menschen genauso entschädigt werden wie Impfgeschädigte. Contergan ist schließlich etwas anderes als das genetische Roulette, bei dem jeder von uns den Kürzeren ziehen kann und dann eben Pech gehabt hat für den Rest seines Lebens. Contergan hat einen Verursacher.
Wer kann überhaupt festlegen, was eine angemessene Entschädigung ist?
Wir leben in einer Welt, in der die persönliche Freiheit eines der allerhöchsten Güter ist. Zur persönlichen Freiheit gehört die Freizügigkeit, sich frei bewegen zu können. Das ist vielen Contergangeschädigten genommen worden und ist nicht wiedergutzumachen. Aber man könnte sagen, wir geben diesen Menschen so viel Geld, dass es für sie keine Rolle spielt, wenn sie etwa 40.000 Euro zusätzlich zu ihrem Auto zahlen müssen, um es sich umzubauen. Und dieses Geld darf dann eben nicht in eine Stiftung eingezahlt werden, aus der die Geschädigten wie unmündige Bittsteller portionsweise Geld bekommen. Die Leute brauchen jetzt viel Geld, um ihre Zukunft gestalten zu können. Ich fürchte nur, dass es unrealistisch ist, darauf zu setzen, dass die Firma Grünenthal dieses Geld zahlen wird.
Was macht Sie so pessimistisch?
Ich bemerke bei der Grünenthal eine Art entsetzter und ängstlicher Lähmung. Das Unternehmen hat die Chance verpasst, die Dinge mit Distanz zu sehen.
Inwiefern?
Sonst hätte es erkannt, dass Contergan kein deutsches oder europäisches, sondern ein weltweites Problem ist. Und es hätte erkannt, dass Katastrophen dieser Art der Preis sind für den Lebensstandard, den wir uns in Westeuropa leisten. Einige wenige zahlen einen irre hohen Preis für den Wohlstand aller. Und ich hätte es toll gefunden, wenn Grünenthal gesagt hätte, aufgrund unserer historischen Rolle müssen wir diejenigen sein, die jetzt eine Art Rettungsfonds gründen, der dafür Sorge trägt, dass so etwas nie wieder vorkommt.
Solange sich diese Einsicht nicht durchsetzt, übernimmt der Staat die finanzielle Verantwortung für ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Ist das gerecht?
■ Das Medikament: Von 1957 an wurde das Schlafmittel der Pharmafirma Grünenthal werdenden Müttern rezeptfrei für 3,90 Mark pro 30er-Packung verkauft.
■ Der Wirkstoff: Thalidomid führte bei tausenden Neugeborenen zu Missbildungen der Organe und Extremitäten. 1961 zog die Firma das Medikament zurück. Derzeit leben in Deutschland etwa 2.400 Conterganopfer. Contergan steht für den größten Medizinskandal der Nachkriegsgeschichte.
Ich finde es völlig in Ordnung, wenn der Staat dafür aufkommt.
Tatsächlich?
Der Staat hat an dem Medikament horrende Summen an Steuern verdient. Alle Leute, die heute gesunde Kinder vor der Tür rumlaufen haben, verdanken das dem Opfer, das die Contergangeschädigten ungewollt erbracht haben – die Contergangeschädigten sind der Grund, weshalb es in Deutschland heute überhaupt ein ernst zu nehmendes Arzneimittelrecht gibt. Und da stellt sich die Frage, ob es nicht dem Staat und den Gesundheitsministerien oblegen hätte, frühzeitiger dafür Sorge zu tragen, dass die Medikamente der Pharmafirmen, deren Steuern der Staat wohlwollend nickend einsteckt, dank strengster Kontrollen keinen größeren Schaden anrichten können.
Der Staat trägt eine Mitschuld?
Schuld setzt voraus, dass man gegen irgendwelche Gesetze verstoßen hat. Das ist nicht der Fall. Wir sprechen hier von Ethik.
Also schön. Müssen nach Ihrem ethischen Empfinden die Eigentümer und Erben der Firma Grünenthal sich bei den Opfern entschuldigen?
Die Verantwortungsträger von damals leben nicht mehr. Die Erben sind eine andere Generation. Allein deswegen können sie sich nicht bei mir entschuldigen: Sie sind nicht meine Ansprechpartner. Sich zu entschuldigen bedeutet auch immer, dass man Schuld auf sich geladen hat und diese Schuld nicht mehr tragen möchte. Die heutigen Eigentümer haben aber keine Schuld auf sich geladen.
Das werden die Grünenthal-Erben gern hören. Wie gehen Sie mit dem Vorwurf mancher Opfervertreter um, Sie und Ihre Familie hätten mittlerweile die Seite gewechselt?
Ich gehe überhaupt nicht damit um. Die Vorstellung ist grotesk. Aber meine Eltern und ich verabscheuen eine Welt in Schwarz-Weiß. Bei der Grünenthal gibt es zweifellos helle Köpfe. Genauso, wie nicht alle Geschädigten Gutmenschen sind.
In England hat sich der Staat dafür entschuldigt, dass unter seiner Ägide dieses Medikament auf den Markt gekommen war. Wäre das in Deutschland auch angebracht?
Von staatlicher Seite wird da gar nichts passieren, weil die deutsche Politik eine des Aussitzens ist.
Aber erwarten würden Sie es?
Erwarten? Ich verlange, dass der Staat diesen Menschen mindestens einen Opferstatus zugesteht, dass er klarmacht: Den Wohlstand und die medizinische Unbedenklichkeit, in denen wir heute leben, verdanken wir den Geschädigten.
■ Heike Haarhoff, 42, taz-Redakteurin, kann weder Motorrad noch Ski noch Skateboard fahren
■ Bernd Hartung, 44, freier Fotograf in Frankfurt, war von Schulte-Hillens Askese verhalten fasziniert
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