: Paradies nur an der Oberfläche
Bis 2030 wollen EU und UN deutlich mehr neue Schutzgebiete im Meer ausweisen. Doch auch in schon bestehenden Zonen gibt es zahlreiche Interessenkonflikte: Im südfranzösischen Pelagos stören Tourismus, Fischerei und ein Marinestützpunkt. Ein Segeltörn durch Europas älteste Schutzzone
Aus Toulon und Porquerolles Maximilian Arnhold
Das Segelboot hat gerade Fahrt aufgenommen, als plötzlich ein Hubschrauber am Himmel zur Umkehr zwingt. „Hier ist Marinegebiet, beidrehen!“, funkt die französische Marine, doch die Rotoren sind so laut, dass niemand an Bord den Befehl versteht. Die Segel zerren am Mast. Wellen peitschen den Katamaran zur Seite, alles schaukelt. Der Helikopter kreist mehrmals bedrohlich um das Schiff. An Deck verständigt sich der Kapitän per Zeichensprache mit dem Piloten. Schließlich wird klar: eine Schießübung! Wir müssen wenden. Im Windschatten des Bootes tauchen drei Delfine auf, als hätte sie der Tumult erschreckt. Sieht so eine Schutzzone aus?
Eine Segelfahrt im Nationalpark Port-Cros in Südfrankreich, Teil des Meeresschutzgebiets Pelagos. Die Kursänderung steht sinnbildlich für Nutzungskonflikte im Mittelmeer, wie sie künftig in Europa häufiger auftreten dürften: Bis zum Ende des Jahrzehnts wollen die Vereinten Nationen 30 Prozent der globalen Land- und Meeresoberfläche unter Schutz stellen. Das wurde vor zwei Jahren beim UN-Biodiversitätsgipfel von Kunming und Montréal vereinbart, über die Umsetzung wird noch bis zum Wochenende bei der Nachfolgekonferenz in Cali, Kolumbien (COP16) diskutiert. In der EU ist der „30x30-Plan“ im Rahmen des Green Deals schon beschlossene Sache, das kürzlich verabschiedete Renaturierungsgesetz soll helfen, die Ziele zu erreichen.
Doch die Schutzgebiete sind nicht ungestört: Die Mittelmeerküste ist Tourismus- und Wirtschaftsgebiet. Haushohe Fähren kreuzen im Pelagos ebenso wie Freizeitskipper und Jachten. Fischer*innen werfen ihre Netze aus. Und dann ist da noch ein Stützpunkt des französischen Militärs, vor dem die Marine Manöver abhält. So auch bei dieser Ausfahrt.
Ende September hat die „Vaka Okeanos“ eine Gruppe Journalist*innen an Bord. Das Segelboot – ausgestattet mit E-Motor und Solarzellen – wird von der gleichnamigen Meeresstiftung in Darmstadt betrieben. Im Sommer lernen Jugendliche eine Woche lang auf der „Vaka“ die Meeresumwelt kennen. Zur letzten Tour des Jahres ist das Wetter schon etwas rauer. Einige der Reporter*innen haben mit Seekrankheit zu kämpfen – da kommt die Marine fast recht, zwingt der Helikopter doch zur Rückkehr an Land.
Wir ankern vor Porquerolles, einer bei Tourist*innen beliebten Insel mitten im Nationalpark. Tagesgäste strömen von den Fährschiffen, Radfahrende rasen über die Insel. Bis zu 12.000 Menschen kämen an Spitzentagen in der Hochsaison, erzählt eine junge Mitarbeiterin im Tourismusbüro am Hafen – und erklärt, dass die Gemeinde sie künftig besser über das Jahr verteilen will. „Regeln gibt es ohnehin schon“, sagt sie und reicht eine Broschüre über den Tresen: „So geht das Segeln, Fischen und Tauchen im Herzen des Nationalparks“. In dem Flyer sind einige Verbotszonen für das Anlegen von Booten und die Hobbyfischerei ausgewiesen; zum Schutz der Meeresumwelt ist die Geschwindigkeit der Boote im Umkreis von 300 Metern um Porquerolles auf fünf Knoten begrenzt. Vor dem Bürofenster herrscht reges Treiben: Tauchgruppen ziehen los, ein Jetski-Anbieter wirbt für Tagestouren.
Der Widerspruch liegt auf der Hand: Viele Besuchende zieht es hierher, weil Port-Cros Nationalpark ist. Das umgebende Pelagos ist einer der artenreichsten Lebensräume im Mittelmeer, aber auch einer der am stärksten vom Menschen belasteten. Mit 87.500 Quadratkilometern ist es das mit Abstand größte Meeresschutzgebiet der EU – fast so groß wie Österreich. Kann das riesige Areal zwischen Côte d’Azur, Ligurien und Korsika als Vorbild für die Einrichtung weiterer Schutzgebiete dienen?
Mitte August trat das EU-Renaturierungsgesetz in Kraft. Es verpflichtet die EU-Staaten, bis 2030 mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen in schlechtem Zustand wiederherzustellen – zehn Prozent sollen besonders streng geschützt werden. Aktuell haben die EU-Staaten kaum zwölf Prozent ihrer Meere unter Schutz gestellt, wovon allein das Pelagos rund ein Siebtel ausmacht. Streng geschützt ist europaweit nur deutlich weniger als ein Prozent der Ozeanfläche.
Das Pelagos ist die älteste grenzübergreifende Schutzzone Europas. Geschaffen wurde sie 1999, als trilaterales Abkommen zwischen den Anrainerstaaten Frankreich, Monaco und Italien. Sie soll Schutz für Delfine und Wale bieten, von denen neun Arten hier leben, darunter Finn- und Pottwale. Beide Meeressäuger werden von der Weltnaturschutzunion (IUCN) als gefährdet eingestuft. Ein Grund dafür sind Zusammenstöße mit Schiffen, die für die Wale oft tödlich enden. Trotz des Schutzstatus kommt es im Pelagos 2,5-mal häufiger zu Kollisionen als in anderen Teilen des Mittelmeers. Wie kann das sein?
„Innerhalb des Pelagos-Schutzgebiets verläuft der Seegüterverkehr zwischen größeren Festlandhäfen“, stellt ein Untersuchungspapier aus dem Jahr 2022 fest. „Diese Region ist auch ein florierendes Gebiet für Kreuzfahrttourismus.“ Die Nähe zu großen touristischen Inseln begünstige einen „intensiven saisonalen Passagierverkehr“ sowie „eine weit verbreitete Freizeitschifffahrt“, heißt es dort.
Gleichzeitig ist das nordwestliche Mittelmeer für Finn- und Pottwale von großer ökologischer Bedeutung. Im gesamten Mittelmeer leben schätzungsweise jeweils weniger als 1.800 Exemplare, von denen bis zu 70 Prozent den Sommer im Pelagos verbringen. Der Analyse zufolge starben im Jahr 2018 29 Wale bei Kollisionen mit Passagier- und Frachtschiffen, außerdem noch drei Wale durch Marineschiffe. Die Dunkelziffer ist hoch, da längst nicht alle Tiere gefunden oder gemeldet werden.
Eine im September erschienene Studie schreckt auf: 86 Prozent der bestehenden Meeresschutzgebiete (MPAs, marine protected areas) in der EU sind unwirksam, konstatieren Forschende aus Portugal in der Fachzeitschrift One Earth. Das liegt an oftmals völlig unregulierten Aktivitäten wie der Fischerei mit Grundschleppnetzen oder dem Tiefseebergbau, die laut den Autor*innen europaweit effektiven Schutz verhindern.
Immerhin: Im Pelagos sind geoseismische Untersuchungen – die Voraussetzung für den Abbau von Rohstoffen unter Wasser – laut der Koordinierungsstelle verboten. Gefischt wird aber auch hier. Das Problem sind nicht die kleinen Kutter, die vor Porquerolles im Hafen dümpeln. Es sind die großen Trawler auf See: Sie wühlen mit Grundschleppnetzen den Meeresboden auf und hinterlassen eine Schneise der Zerstörung. Weltweit setzen sie durch das Aufwirbeln von Sedimenten laut einer Studie jährlich 370 Millionen Tonnen CO2 frei – das ist weit mehr als die Hälfte der Emissionen, die Deutschland 2023 verursacht hat. Die EU-Kommission will die Praxis der Grundschleppnetzfischerei in Meeresschutzgebieten bis 2030 beenden.
Allerdings gibt es eine bürokratische Hürde, die das Aus für die Schleppnetze im Pelagos erschwert: „Das Pelagos ist kein Schutzgebiet im engeren Sinne, wie zum Beispiel Schutzgebiete, die nach EU- oder nationalem Recht ausgewiesen sind“, schränkt Koordinatorin Viola Cattani ein. „Sondern es ist ein Abkommen von drei Ländern, in dem Schutz- und Verwaltungsmaßnahmen auf nationaler Ebene durchgeführt werden.“ Das bedeutet: Um die Grundschleppnetzfischerei zu verbieten, müsste jeder Anrainer einzeln aktiv werden. Das Renaturierungsgesetz dürfte künftig den Druck erhöhen, der EU-Vorgabe zu folgen. Trotzdem gilt die Fläche schon jetzt als größte Schutzzone auf See.
Cattani betont die Erfolge. Seit der Einrichtung des Schutzgebietes seien Gesetze und Richtlinien zum Schutz der lokalen marinen Biodiversität erlassen worden, sagt sie. Dazu gehören ein Verbot von Schnellboot- und Jetski-Rennen in allen drei Ländern, Einschränkungen für den Transport gefährlicher Stoffe auf dem Seeweg und zum Teil verbindliche Empfehlungen, welche Abstände bei der Beobachtung von Walen einzuhalten sind. Der aktuelle Managementplan, der die Schutzvorhaben bündelt und bis 2027 gilt, sei „ein Modell für die Einbeziehung und Beteiligung aller Interessengruppen“, die sich in und um das Gebiet bewegen. Darüber hinaus gebe es Forschungsprogramme, Sensibilisierungs- und Bildungsprojekte, Medienarbeit, Fundraising und vieles mehr.
Franziska Saalmann, Meerescampaignerin von Greenpeace, kann darüber im Videocall nur den Kopf schütteln. Sie hält die Beeinträchtigungen für viel zu groß. „Trotz seiner Fläche ist das Pelagos bestenfalls ein Negativbeispiel für künftige Gebiete“, ist sie überzeugt. „Es ist ein ‚paper park‘, also ein Schutzgebiet, das eigentlich nur auf dem Papier existiert“, kritisiert die Meeresbiologin. Zu viele Maßnahmen seien freiwillig und würden nicht umgesetzt, die Schutzwirkung werde verfehlt.
Sie zählt drei Dinge auf, die aus ihrer Sicht nötig wären: erstens – strenge Restriktionen im Managementplan, die für die jeweiligen Küstenländer verbindlich sind. Denkbar sei eine verpflichtende Geschwindigkeitsbegrenzung für Schiffe, die nur noch 10 bis 13 Knoten fahren dürften. „Das könnte schon viel helfen, um Schiffskollisionen zu vermeiden, die eine große Gefahr für die Wale sind.“ Auch Unterwasserlärm und Emissionen würden so reduziert. Als zweites brauche es Kontrollen, drittens Sanktionen bei Verstößen.
Die Fischerei mit industriellen Methoden müsse in den Meeresschutzgebieten ganz unterbleiben, verlangt Greenpeace. Das führe auch zu „Spillover-Effekten“: Wenn sich die Fischpopulation erholt, breitet sie sich über die Schutzgebiete hinaus aus. Die Fischer*innen könnten laut der Umweltschutzgruppe zufolge sogar davon profitieren – mit Fangquoten, die die Bestände nicht gleich wieder dezimieren dürften.
Franziska Saalmann, Meerescampaignerin von Greenpeace
Die Vorteile eines strikten Schutzes lägen auf der Hand, so die Meeresexpertin Saalmann: Funktionierende Schutzgebiete würden einen verstärkten positiven Effekt gegen die Klimakrise schaffen, indem sie die Kohlenstoffspeicherkapazität des Ozeans erhöhen.
„Eine Forderung von Greenpeace ist es, weltweit ein Netz aus effektiven Schutzgebieten zu schaffen“, sagt Saalmann. Dazu trage auch das UN-Hochseeabkommen bei, das Deutschland noch nicht ratifiziert hat. Bis Mitte nächstes Jahres, bei der UN-Ozeankonferenz in Nizza soll es soweit sein. Ein weiter Weg.
Die „Vaka“ hat nach der Zwangspause wieder Fahrt aufgenommen. Kapitän Dylan Robinson steuert auf eine Bucht zu, unter der der Meeresgrund grün-blau schimmert. Der sonnengebräunte Skipper aus Südafrika ist zum zweiten Mal dabei, erstmals als Kapitän. „Juhu“, springt er nach dem Ankern mit Taucherbrille und Schnorchel von Bord. „Kommt mal mit, ich zeig euch was!“
Unter Wasser liegt eine intakte Riffwelt verborgen, Seegraswiesen, die sich sanft im Takt der Wellen wiegen. An einer Felswand sucht ein Schwarm Mönchsfische Schutz. Zurück an Deck sieht man Streifenbrassen aus dem Wasser springen, ein jagender Wrackbarsch huscht vorbei. „So sieht es aus, wenn Schutz sich lohnt“, lächelt Robinson zufrieden. „Die Natur kommt zurück, wenn man sie nur lässt.“
Die Stelle wurde durch strikte Angelverbote und einen Baustopp an Land dem Zugriff des Menschen entzogen. Teile des Nationalparks von Port-Cros sind schon seit den 60er-Jahren besonders streng geschützt. Im ganzen Pelagos scheint das nur schwer durchsetzbar: Zu groß sind die vielen Interessen, die überall aufeinanderprallen.
Als die Sonne untergeht, wird ein weiterer Störfaktor sichtbar. In der Ferne leuchten die Hafenanlagen von Toulon auf. Von dort muss der Hubschrauber gekommen sein: Der Marinestützpunkt Toulon beherbergt nach Angaben des französischen Verteidigungsministeriums 70 Prozent der französischen Flotte. Flugzeugträger wie die „Charles de Gaulle“ sind darunter, auch die Streitkräfte für Auslandseinsätze starten von hier – mitten im Schutzgebiet.
In einer Mitteilung des zuständigen Departements Var heißt es stolz: Toulon sei die „Nummer eins“ der Militärhäfen im Mittelmeer. 2.000 Schiffsbewegungen pro Jahr werden registriert, die den Hafen anlaufen. Einen Widerspruch zum Pelagos sieht die Verwaltung nicht, im Gegenteil: „Die Marine ist der wichtigste Akteur beim Schutz der Meeresumwelt, insbesondere bei der Vorbeugung und Bekämpfung von Meeresverschmutzungen.“
Auf Nachfrage der taz gibt sich das Militär verantwortungsbewusst. Im Mittelmeer trage es „sehr stark zum Schutz sensibler Meeresgebiete“ bei. Dazu gehöre die Überwachung des Handelsverkehrs und die Kontrolle der Fischerei, schreibt das Verteidigungsministerium, ohne Angaben zu machen, was genau kontrolliert wird. Nur so viel: Die Maßnahmen würden über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehen.
Das Risiko „Meeressäuger“ werde bereits bei der Planung von Aktivitäten berücksichtigt, einige Marineschiffe seien mit einem Bordcomputersystem (Repcet) ausgestattet, das die Position von Walen überwachen kann. Das Ziel sei, Gebiete zu meiden, die als Lebensraum oder Wanderroute bekannt seien, teilt ein Ministeriumssprecher mit – „sofern keine operationellen Einschränkungen bestehen“.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn Manöver anstehen und Wale trotz einiger Vorkehrungen unentdeckt blieben, müssen sie zusehen, ob sie ausweichen können.
Und der Hubschrauber? Wir wurden Zeug*innen der täglichen Überwachung der Meeresumwelt aus der Luft im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern um Toulon, heißt es. Über Funk klang das anders, da war von Gefechtsübungen die Rede.
Der Leiter des Nationalparks Port-Cros, Alain Barcelo, hat dafür Verständnis. „Wir sind nicht im Frieden“, erklärt der Biologe im Gruppeninterview. Die Marine diene der Sicherheit Europas. Oft würde sie nicht trainieren, sondern unter Wasser nach einem potenziellen Feind Ausschau halten: nach russischen Atom-U-Booten etwa, die den Stützpunkt ausspionierten. „In solchen Zeiten kann man nicht sagen: Gut, dann machen wir eben weniger Lärm, um die Meeressäuger zu schützen.“
Die Fischerei sieht Barcelo ähnlich gelassen. „Die Unterwasserwelt ist in einem ausgezeichneten Zustand, ihr habt es selbst gesehen. Seit Jahren beziehen wir die Menschen ein und zeigen, dass auch Berufsfischerei in einem Nationalpark möglich ist“, erklärt er. Damit meint er allerdings nur das lokale Fischen mit kleinen Booten. Grundschleppnetze sind in den engen Grenzen des Nationalparks nicht erlaubt.
Größere Bedrohungen erkennt der Wissenschaftler heute durch äußere Einflüsse: die zunehmende Erwärmung des Meeres, die in diesem Jahr neue Höchstwerte erreicht hat, externe Verschmutzung und das Eindringen invasiver Arten, die sich dauerhaft ansiedeln. „Wir haben es hier mit einem Ökosystem zu tun, das stark unter indirekten menschlichen Einflüssen leidet“, sagt er. Ein Problem, dass das gesamte Pelagos betrifft.
In der Dunkelheit legt der Katamaran am Strand von Débarquement an. Die Saison ist zu Ende, die Segel sind eingeholt. Die vierköpfige Crew aus Seglerinnen und Umweltschützern wirkt erleichtert. Unzählige Touren mit Jugendlichen stecken ihnen in den Knochen. Für Kapitän Robinson waren die Törns durch das Pelagos eine Freude, sagt er – und will wiederkommen. Das Meer sei viel zu schön, um es nicht anderen zu zeigen. Mit mehr Schutz müsste das kein Widerspruch sein.
Die Recherche für diesen Text wurde von der Okeanos Stiftung für das Meer unterstützt.
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