Choreographin Gisèle Vienne in Museen: Im Saal der Schneewittchensärge
Langsames Anschleichen der Beunruhigung: Die Puppen der Regisseurin Gisèle Vienne sind von der Bühne in zwei Berliner Museen gewandert.
Als Choreografin und Regisseurin konnte man Gisèlle Vienne schon kennenlernen in Deutschland. Zuletzt im Mai war ihr Stück „Extra Life“ beim Theatertreffen in Berlin zu sehen. Es drehte sich um die Traumata eines Geschwisterpaares, die Erfahrung von Missbrauch und die Unmöglichkeit, darüber zu reden. Die Bühnensprache der französisch-österreichischen Künstlerin ist seit gut zwei Jahrzehnten von einem extremen Umgang mit der Zeit geprägt, von Dehnung und Verlangsamung, die der Rezeption immer eine große Anstrengung abverlangt.
Jetzt tritt Gisèle Vienne mit gleich zwei Ausstellungen in Berlin als bildende Künstlerin auf, erstmals in Deutschland. Lebensgroße Puppen von Jugendlichen, die schon in den Bühnenstücken eine Rolle spielten, sind nun die Protagonisten stillgestellter, stummer Inszenierungen. Die Atmosphäre ist beklemmend, wie in ihren Stücken.
Stille und Bewegungslosigkeit sorgen für ein langsames Anschleichen der Beunruhigung. Verharrt ein Betrachter vor den Tableaus, fügt er sich mühelos ins Bild – aber er kann gehen, die Puppen müssen bleiben. Ein Doppelgänger des Menschen, unheimlich in seiner Ähnlichkeit, mitleiderregend in seinem Ausgeliefertsein.
Einem Saal voller Schneewitchensärge gleicht Viennes große Installation „Dolls in glass boxes“ (2003/2021) im Haus am Waldsee, in der die Puppen nebeneinander in Vitrinen auf dem Boden aufgebahrt – wie soll man anders sagen – sind. Ihre Augen sind zwar offen, sie sind nicht als Tote dargestellt, und doch erinnert das Szenario an einen Unfall- oder Tatort, gar ein Massaker.
Gisèle Vienne: Georg Kolbe Museum bis 9. März 2025, Haus am Waldsee bis 12. Januar 2025. Die Sophiensäle werden Viennes Performance „Crowd“ am 14./15./16. November zeigen.
Jedes Kind einsam
Im Obergeschoss gibt es 63 Fotoporträts von Puppen zu sehen, traurige Gesichter unter schwarzen oder silbergrauen Ponys, den Blick gesenkt, mit Spuren von Make-up und Spuren von Schlägen: Jedes Kind einsam, ein Außenseiter, möglicherweise von Gewalterfahrung und Ausgrenzung betroffen. Dazwischen ragt zweimal ein kleiner verfilzter Tierpuppenkopf knapp ins quadratische Format. Sie sind, das erkennt, wer Gisèle Viennes Film „Jerk“, den die Sophiensale in Berlin zeigten, gesehen hat, die Darsteller der Gehilfen eines Serienmörders. Ein makabres Spiel.
Sowohl im Haus am Waldsee als auch im Kolbe Museum verblüffen die Installationen von sitzenden und stehenden Puppen, die nach Viennes Konzepten von Raphaël Rubbens, Dorothéa Vienne-Pollak und Gisèle Vienne gebaut wurden, mit ihrer Lebensechtheit. Im Kolbe Museum sitzt ein Mädchen einsam und ein wenig krumm auf einem Stuhl in der Ecke, Müll von Junkfood um sich verstreut.
Die T-Shirts und Hoodies der Teenies, manchmal auch eine Halloween-Maske oder Klauenhände, weisen nicht wenige von ihnen aus als den Kulturen von Gothic und Black Metall nahe, Fans von Horrorfilmen, die die Unsicherheit und Identitätssuche in der Pubertät in Geschichten grausamer Verwandlungen transformieren.
Aber auf eine solche Interpretation will Vienne nicht hinaus, im Gegenteil. Obwohl sie dieses klassische Teenage-Horror-Klischee zu bedienen scheint, geht es ihr gerade um dessen Dekonstruktion. Der Stillstand in den Installationen soll für diese Wahrnehmungsänderung den Raum öffnen. Zudem sind Texte als Lektüre, ein Essay von Elsa Dorlin, „Die Farben der Angst“, und ein Text von Vienne selbst, Teil der Präsentationen.
Die strukturelle Gewalt von sozialen Normierungsprozessen, der definierende Blick von außen sind die Ziele von Viennes Kritik, eine in ihren Augen verdrängte Wahrheit. „Körper ertragen – natürlich sehr unterschiedlich, entsprechend der Situation – die anhaltende Brutalität, durch Machtsysteme definiert zu werden, doch diese kulturelle Gewalt wird oft genug als bloße Folge von umher wütenden Hormonen heruntergespielt“, sagt sie im Interview im Begleitheft. Geschichten von sexualisierter Gewalt sind nur ein Teil davon. In diesen Texten stecken berechtigte Fragen, aber sie transportieren auch viel Behauptung. Das stimmt nicht unbedingt mit dem Seherlebnis in den Ausstellungen überein.
Verwischen der Geschlechtergrenzen
Das Kolbe Museum hat die Präsentation von Vienne eingebettet in den Kontext von Künstlerinnen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die mit Puppen gearbeitet haben. Auch dort spielt teils das Verwischen der Geschlechtergrenzen eine Rolle, doch sind die Künstlerinnen weniger missionarisch unterwegs gewesen als Vienne.
Zu entdecken gibt es viel: zum Beispiel groteske, insektenähnliche Marionetten von Käthe Rothacker, das König-Hirsch-Ensemble von Sophie Taeuber-Arp oder die Puppen von Marie Vassilieff. Oft sind es gerade die Fotografien, die die Künstlerinnen mit ihren Puppen zeigen, die vom Möglichkeitsspielraum dieser Werke erzählen.
Mit den collagierten Mischwesen, die sie aus unterschiedlichsten Materialien gestalteten, schlugen die Künstlerinnen einen Weg der Autonomie und zu neuen Ausdrucksformen ein, nutzten dafür aber die ihnen als vermeintlich weiblich zugewiesenen Bereiche angewandte Kunst und Spiel. Ihre Puppen sind aufbegehrende Wesen, verschmitzt und mit Witz, spielerischer als die Installationen von Gisèle Vienne. In diesem Spannungsfeld aufzutreten, ist aber für beide Seiten bereichernd.
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