: Wenn dein Sohn dich morgen fragt
Im „Trainingscamp Lothar Kannenberg“ sollen schwere Jungs wieder die Rückkehr in ein normaleres Leben lernen, wo nicht geklaut und gedealt wird. Die Methoden des Sozialpädagogen sind ungewöhnlich: Prügeln ist verboten, Boxen erlaubt. Weil irgendwie der innere Schweinehund mal raus muss
Aus StaufenbergKai Schöneberg
Das Tattoo zwischen Ricardos rechtem Daumen und Zeigefinger sieht aus wie eine Fünf auf einem Würfel. „Guck ma“, sagt er und zieht an seiner Kippe. „Das heißt: Ich und meine vier Wände.“ Ein Jahr hat der 16-Jährige wegen Körperverletzung im Hamburger Jugendknast Hahnöfersand gesessen, seit der 8. Klasse ist er nicht mehr in die Schule gegangen. „Was heißt hier keinen Bock mehr? Ich habe einfach zu viel gekifft.“
Seit drei Wochen versucht Ricardo auf einem ehemaligen Bauerhof im äußersten Süden des Weserberglands ins Leben zurück zu finden. Von außen sieht das „Trainingscamp Lothar Kannenberg“ aus wie ein Erholungsheim: Buchenwälder ringsum, die Fulda schmiegt sich sanft um das Gut. Tatsächlich ist es hier alles andere als heimelig: Das Camp ist die letzte Rettung für jugendliche Straftäter.
Die Prinzip ist: Mit Disziplin und Respekt sollen sie hier wieder Selbstbewusstsein bekommen. Die Regeln sind hart: Wenn einer flucht oder auf dem Zimmer raucht, müssen alle zur Strafe bei Liegestützen schwitzen. Aufgestanden wird täglich um 6.30 Uhr, dann Frühsport, Schule – und Rechtsausleger.
Prügeln ist verboten, Boxen hingegen erlaubt. Beim Öffnen, beim Reden über Vergangenheit und Zukunft, so hat der Sozialpädagoge Kannenberg herausgefunden, hilft das Adrenalin. In der Erregung des Boxkampfs oder auch beim Abseilen von einem Baum sollen sie sich freimachen vom Frust, vom Leben ohne Perspektive. Auch Joggen kann helfen, Herr der Aggressionen zu werden. Gerade hat sich Kannenberg zwei Jungs geschnappt, um mit ihnen ins 18 Kilometer entfernte Hannoversch Münden zu rennen. „So sollen sie ihren inneren Schweinehund überwinden“, keucht Kannenberg. Aber er überschreitet nicht alle Grenzen. Sein Lager funktioniert nicht wie die „Boot-Camps“ in den USA, in denen die Jungs zuerst durch Drill „gebrochen“ und dann wieder aufgebaut werden. Kannenberg: „Zurück fahren wir mit dem Bus.“
Der Camp-Chef ist der, den sie hier „Vorbild“ nennen. Als Junge wurde Kannenberg missbraucht, dann war er Türsteher in einer Disco, Hessenmeister im Boxen. Kokskarriere, Alkoholkarriere, Schlägerkarriere, ein dauernder Absturz, der endete, als Kannenberg von seinem Tumor erfuhr. Nach einer Drogentherapie bewarb er sich als Streetworker im Jugendamt. Als die Kriminalität in der Nordstadt Kassels durch Kannenbergs Box-Trainings um 30 Prozent sank, wurde man auf ihn aufmerksam. Vor einem Jahr gründete er, unterstützt von der Henry-Maske-Stiftung und unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, das Camp im Grünen. Inzwischen haben seine Jungs mehrere Box-Pokale erkämpft. Und nicht nur das: Sozialpädagogen aus Japan holten sich hier Tipps, es gibt Fotos, auf denen Bundespräsident Köhler Kannenberg in die Arme schließt.
18 Jungs und 20 Betreuer. „Wir müssen ständig präsent sein“, sagt Jörg Metzner, einer der so genannten Respekttrainer. Unnahbar, dicht, verschlossen sind die Jugendlichen, wenn sie auf den Bauernhof kommen. „Harte Jungs“, meint Metzner. „Aber sie haben einen weichen Kern.“ Sie haben geklaut, sie haben geprügelt, sie haben gedealt. Ein Heimbewohner war wegen Totschlags beschuldigt. Im Camp der Aussätzigen kommt es schon mal vor, dass einer mit dem Holzknüppel um sich schlägt.
Gerade eben war der Jäger im Camp: „Zwei Jungs haben einen Hochsitz umgeschmissen“, erzählt Metzner. „Den dürfen sie jetzt als Gutmachung wiederaufbauen.“ Auch die Post für die Knaben wird streng gefilzt: In den Briefen könnte ja ein Päckchen Dope oder auch die Nachricht der Freundin sein, dass Schluss ist. Metzner: „Das bringen wir ihm lieber anders bei.“
Manche wissen nicht, was eine Zahnbürste ist. Sie lernen im Camp, sich regelmäßig zu waschen. Sie lernen, einen Lebenslauf zu schreiben. Sie laufen nachts mit dem Kompass durch den Wald und erfahren, warum die Bäume in Windrichtung wachsen. Viele Rituale regeln das Leben im Camp. Im Speisesaal liegt eine aufgeschlagene Bibel, gebetet wird vor den gemeinsamen Mahlzeiten auch. „In schweren Zeiten“ habe er zu Gott gefunden, sagt Kannenberg. Hinter dem Gut gibt es einen „Friedhof“ mit wackeligen Holzkreuzen, auf dem die Jungs ihre „Vergangenheit“ begraben sollen. David E. aus Halle hat seine Gefängnisklamotten und ein Handy verbuddelt. Der 20-Jährige gibt Körperverletzung und Brandstiftung zu, er saß wegen Betrugs mit Mobilfunk-Verträgen in 27 Fällen ein. „Das ging alles so einfach“, sagt David. „Dann standen eines Tages die Bullen vor dem Handy-Laden.“ In diesem Monat wird er entlassen. David will eine Elektrikerlehre anfangen. Wenn alles gut geht.
Max hat gerade seine Therapie im Camp angetreten. Ein schmächtiger, blasser Typ aus Luxemburg mit weißer Trainingsjacke und Flaum über den Lippen, gerade 17. Gerade hat er ein halbes Jahr in der geschlossenen Psychiatrie hinter sich. Seine Geschichte dreht sich außerdem um ein schlimmes Elternhaus, um Kokain, Speed und Ecstasy, um Körperverletzung und Sodomie mit Schafen. Von der Schule flog Max mit 15, „weil ich einem Tränengas in die Augen gesprüht habe“. Als ihm der Richter im Prozess „mindestens fünf Jahre Bau androhte, ging ich lieber ins Lager“. Der ganze Trupp hat Max am Morgen im Hof des ehemaligen Bio-Bauerngutes empfangen. Mit 60 Liegestützen. Und dem Schlachtruf: „Wir schaffen es!“
Max sagt, „Respekt ist, wenn man korrekt mit einem anderen spricht“. Oder, „wenn man jemanden nicht anlügt“. Ricardo, der mit dem Knast-Tattoo aus Hamburg, zeigt dem Neuen, wie das funktioniert mit den Hüpfseilen: „Hey, willste auch mal?“ Und natürlich gibt er an: „Ich kann das sogar mit einem Bein.“ Max macht das Spiel mit. So viel Kondition wie Ricardo hat er noch nicht, aber dafür kann das Seil beim Springen über Kreuz verdrehen. Noch mindestens sechs Monate bleibt Max im Trainingscamp, wenn er sich nichts zuschulden kommen lässt.
Und was dann? „10 bis 12 Prozent schaffen im Schnitt die Resozialisierung“, meint Respekttrainer Metzner. Wenn es nach der Statistik geht, packen nur ein oder zwei der Jungs nach der Therapie die Rückkehr ins normale Leben. Max will dazu gehören: „Hier ist die letzte Chance, das Leben zu genießen, ohne nur noch Scheiße zu bauen“.
Lothar Kannenberg, der Soziologe Oskar Negt, der Wiener Theologe Paul M. Zulehner, Harri Kussike, „Adoptivgroßvater“ aus Hannover, diskutieren beim „Männer-Podium“ zum Thema „Wenn dich Kinder morgen fragen … Mann!“ am Donnerstag, 26. Mai, 11 bis 13 Uhr, Pavillon 33, Messegelände
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen