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Der Kachelofen steht noch: Die Wohnung des Autors in der Elisabethkirchstraße Foto: Sophie Kirchner

Mein Vormieter Max Anschel (4)Der Riss in der Tür

Ein Mordversuch, ein Einbruch, eine zertrümmerte Tür: Auf den Spuren meiner Vormieterin Anna Anschel, deren Mann Max 1944 im KZ umgebracht wurde.

Das Diözesanarchiv am Mariannenplatz

Gotthard Klein ist ein freundlicher Mann. Der Leiter des Diözesanarchivs emfängt mich mit kurzärmeligem Hemd in seinem sommerlichen Büro. Es liegt etwas versteckt in einem Gebäude unweit des Mariannenplatzes in Kreuzberg, nur wenige Meter vom einstigen Grenzstreifen, auf dem die Mauer Berlin bis 1989 geteilt hat.

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Eine Wand seines Büros ist komplett mit einem deckenhohen Bücherregal gefüllt. Das würden seine Kinder und Enkel wohl nicht mehr nutzen, gibt Klein nach einem langem Gespräch über die wachsende Digitalisierung von historischen Akten zu, die ich sehr befürworte.

Denn ohne den leichten Zugang zu solchen Informationen würde es diese Geschichte hier gar nicht geben. Ohne Digitalisierung wäre ich niemals auf meinen Vormieter Max Anschel gestoßen – und die Geschichte seiner Famiiie, die mich mittlerweile seit Monaten beschäftigt.

Und die leichte Auffindbarkeit von Originaldokumenten, so mein Argument, würde zum Beispiel auch Schü­le­r:in­nen den Zugang zur Geschichte erleichtern, die mit der Recherche auf dem Smartphone groß werden. Klein ist nicht ganz so angetan. Denn um die Dokumente zu verstehen, brauche es vielfach immer noch Einordnung. Und die könnten nur Archivare wie er liefern. Mir hilft er mit seiner Einordnung jedenfalls weiter.

Das Diözesanarchiv Berlin

Das Diözesanarchiv Berlin sammelt, bewertet und sichert archivwürdigen Unterlagen des Erz­bischofs von Berlin und seiner Kurie und sammelt in Auswahl Schrift- und Doku­men­tations­gut zur Geschichte der katholischen Kirche in Berlin, Brandenburg und Pommern. Unter anderem finden sich dort auch die Unterlagen des katholischen Hilfswerks, das seit den späten 1930er Jahren NS-Verfolgte in Berlin unterstützte. Das Archiv hat seine Räume etwas versteckt am Bethaniendamm unweit des Kreuzberger Mariannenplatzes. Weitere Informationen findet man unter dioezesanarchiv-berlin.de.

Im Diözesanarchiv werden Dokumente aus kirchlichen Institutionen aufbewahrt – auch die des katholischen Hilfswerks, das allein eine Geschichte wert ist. Und die Akten zu Anna und Ruth Anschel, auf die ich über die Fußnote in einer Doktorarbeit gestoßen bin.

Margarete Sommer und das katholische Hilfswerk

Das „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“, so sein offizieller Titel, war im Sommer 1938 gegründet worden, um den so genannten „katholischen Juden“ oder „katholischen Nichtariern“ zu helfen – also Menschen, die entweder selbst oder deren Eltern vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert waren, die nun von den Nationalsozialisten aber als „nichtarisch“ eingestuft, diskriminiert und verfolgt wurden.

Seinen ersten Sitz hatte das Hilfswerk im damaligen Wohlfahrtshaus an der Oranienburger Str. 13/14, direkt gegenüber dem Monbijoupark. Weil der NS-nahe Hauseigentümer bald schon keine Sprechstunden des Hilfswerkes duldete, zog es bereits im April 1939 an die Schönhauser Allee 182 auf das Grundstück der dortigen Herz-Jesu-Gemeinde. Die wesentlichen Informationen zum Hilfswerk finde ich in der Broschüre mit dem Titel „unter Einsatz des Lebens“, in dem 1988 die ungewöhnliche Arbeit der kirchlichen Institution geschildert wurde.

Klein erzählt, dass es in den 1930er Jahren ingesamt drei solcher Hilfsorganisationen für von den Nazis verfolgte Juden gab. Eine von der evangelischen Kirche, die sich vor allem um „protestantische Juden“ sorgte. Eine von US-amerikanischen Quäkern. Und eben das katholische Hilfswerk. Dessen prägende Figur war Margarete Sommer, die das Hilfswerk ab 1941 leitete.

Die promovierte Volkswirtin war zunächst Dozentin an der Sozialen Frauenschule der Alice Salomon in der Stadt – und schon dort geriet sie 1934 mit den NS-Machthabern in Konflikt, weil sie sich weigerte, im Unterricht Nazigesetze zu loben, die Zwangssterilisierungen behinderter Menschen vorsahen. Deshalb wurde ihr gekündigt, schrieb Phillip Gessler 2003 in einem kurzen Portrait über Margarete Sommer, als sie von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem posthum als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wurde.

Anfangs bemühte sie sich vor allem, Menschen bei der Ausreise, also bei der Flucht aus Deutschland zu unterstützen – allerdings häufig vergeblich. So berichtet Sommer 1946 von ihren letztlich vergeblichen Bemühungen, Visa für 3.000 Menschen zur Einreise in Brasilien zu bekommen. Das Anliegen sei von Monat zu Monat verzögert worden, bis es schließlich durch das im Herbst 1941 von der deutschen Regierung erlassene Auswanderungsverbot endgültig scheiterte. Tatsächlich gebe es Anhaltspunkte, dass die „Brasilaktion“ „an der ablehnenden Haltung brasilianischer Diplomaten in Berlin und Hamburg“ gescheitert sei, wird Sommer in der Broschüre zitiert.

Die Familie Brasch und die Kinderverschickung 1939

Erfolgreicher war das Hilfswerk mit der Organisation sogenannter Kinderverschickungen. Im Februar 1939 startet ein Transport mit etwa 150 jüdischen Kindern nach England. Unter ihnen war der damals 16-jährige Horst Brasch, der in Bournemouth Unterkunft fand. Nach dem Krieg wurde Brasch in der DDR Mitglied im Zentralkomitee der SED und stellvertretender Kulturminister. Sein Sohn Thomas Brasch wurde Schriftsteller und Filmemacher und 1976 nach seiner Ausreise aus der DDR in den Westen die literarische Stimme der aufbegehrenden Nachkriegskinder ostdeutscher Herkunft.

Seine Tochter Marion Brasch wurde bekannt als Radiomoderatorin. In ihrem Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ hat sie von der Geschichte ihrer Familie erzählt.

Die liebenswerte, tapfere und sehr lebhafte Frau

Von der Geschichte der Familie Anschel erzählen die Akten, die ich oben im Lesesaal des Archivs auf großen modernen Bildschirmen einsehen kann.

Ein Jahr nach Kriegsende, 1946, hat Anna Anschel sich an das katholische Hilfswerk gewandt. Jedenfalls stammen die ersten Unterlagen des Diözesanarchivs zur Familie aus dem Jahr.

Am 29. März 1946 schreibt eine Elisabeth Küstermeier einen Brief an die Leiterin des Hilfswerks, Frau Dr. Sommer. Es gehe um den „Fall der Frau Anschel“, den sie „sehr gern der seelsorgerischen Betreuung des Hilfswerks überweisen möchte“, schreibt Küstermeier. Anschel sei die Witwe „eines in Auschwitz verschollenen mosaischen Nichtariers“. Sie sei wie ihre 15-jährige Tochter katholisch getauft, habe aber zu ihrer Gemeinde „keine oder höchstens nur eine ganz lose Verbindung“.

Dann beschreibt sie Anna Anschel als „liebenswerte, tapfere und sehr lebhafte Frau“, die nur ganz schwer über den Verlust des Mannes hinweg finde und „auch kaum Hilfe an der mit einem viel stilleren Naturell begabten Tochter“ finde.

Es sind diese Sätze, die mir Anna und Ruth Anschel erstmals als Menschen nahebringen, weit über all die Geburts- und Sterbedaten hinaus, die ich zuvor gefunden habe.

„In religiöser Hinsicht scheint sie mir Brachland zu sein“, schreibt Küstermeier weiter und bittet die „liebe Frau Doktor“, Frau Anschel „b a l d“ zu einer persönlichen Unterhaltung zu bitten, damit „gerade in diesem Fall dem Samen Gottes ein gutes Erdreich bereitet werden könnte“.

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Zwei Wochen später lädt Dr. Sommer per Brief die „Sehr geehrte Frau Anschel“ zum Gespräch „über die Zukunftsaussichten Ihrer Tochter“. Die religiösen Bemühungen des Hilfswerks tragen schon bald Früchte. In einem weiteren Brief an Anna Anschel vom 24. Februar 1947 freut sich Sommer über die Mitteilung, „dass Ihre Ruth am 2. 2. 47 zur Ersten Heiligen Kommunion gegangen ist und dass die Mutter sie bei diesem Gang begleitet hat.“ Sie hoffe, „dass die nun mit dem Heiland eingegangene enge Verbindung sich nie wieder löst.“

Als Anna Anschel im September 1947 „nach Liebenthal zur Erholung“ fährt, sorgen sich die Mitarbeiterinnen des Hilfswerk um die Tochter Ruth. „Sie mag nicht anderswo essen gehen. Die Mutter hat gut vorgesorgt und die Tochter kocht gern für sich“, heißt es in einer letzten, handschriftlichen Notiz, die niedergeschrieben wurde, nachdem Ruth Anschel das Hilfswerk besucht hatte.

Ob sich Anna Anschel ursprünglich wegen religiösen Beistands an das Hilfswerk gewendet hat, bleibt offen. Umso klarer wird ihr eigentliches Ziel in den Nachkriegsjahren: Sie will weg aus der Elisabethkirchstraße. Am liebsten ganz weit bis nach Amerika. Dafür hat sie allen Grund.

Repressionen, Boykott, Zwangsarbeit und Deportation

Denn der Korrespondenz des Hilfswerks ist auch ein Fragebogen des Magistrats der Stadt Berlin beigefügt, den Anna Anschel für eine „Statistische Erhebung vom 1. Februar 1946“ ausgefüllt hat.

Darin gibt sie nicht nur an, dass ihr Mann Max „Sternträger“ war und dass neben den mir bereits bekannten Verwandten auch noch seine Kusinen Julchen, Johanna, Nanny und Sally Meyer sowie Kobes Wolf „im Zusammenhang mit den Maßnahmen des Naziregimes umgekommen“ sind, wie es im Formularvordruck heißt.

Anna Anschel beschreibt dort auch, welche Repressalien sie und ihr Mann schon seit Beginn des Nazi-Regimes erleiden mussten.

„1933 drang S.A.. Sturm Stettiner Bahnhof in unsere Wohn- und Geschäftsräume“, heißt es in dem ausgefüllten Formular. Der Stettiner Bahnhof lag rund 700 Meter westlich vom Wohnhaus der Anschels. Er war ein Sackbahnhof für Züge Richtung Ostseeküste und wurde im Krieg zerstört. Heute findet man auf dem Gelände nur noch die unterirdische S-Bahn-Station Nordbahnhof.

„1938 Geschäftsboykott, aus den dabei befindlichen Privaträumen wurde auch noch geplündert“, berichtet Anna Anschel weiter. Ihren Mann habe sie „durch Herausgabe von Schmuck freibekommen“. Sie benötige nun dringend „Geschirr und Bestecke, da unser sämtlichen Bestecke gestohlen wurden (99 Teile Silber)“. Auch ihrem Kinde sei sämtliche Kleidung gestohlen worden.

Arolsen-Archiv: Mitmachen bei der Digitalisierung

Das Arolsen-Archiv verfügt über eine der größten Datenbanken mit Dokumenten zum Holocaust. Fast alle der 30 Millionen Original-Dokumente sind nach Angaben des Archivs bereits online verfügbar. Hier kann man, ähnlich wie beim United States Holocaust Memorial Museum auch die Akten zu Max Anschel aus dem KZ Stutthof einsehen.

Hervorgegangen ist das Archiv aus einer Sammlung von Dokumenten über die Situation der Inhaftierten, Zwangsarbeiter und Flüchtlinge in Mitteleuropa, die die Allierten bereits bei ihrem Vormarsch auf Deutschland ab 1943 angelegt hatten. Seit 1946 hat das Archiv seinen Sitz in der hessischen Stadt Bad Arolsen, nach der es benannt wurde.

Eine besondere Initiative ist das Projekt #everynamecounts (jeder Name zählt). „Die Nazis verfolgten und ermordeten Millionen Menschen. Hilf mit, an die Opfer zu erinnern“, heißt es auf der dazugehörigen Webseite.

Hier kann sich jeder und jede an der Digitalisierung alter Akten beteiligen. Das Arolsen Archiv stellt dort Foto alter Dokumente online und bittet darum, die dortigen Angaben zu den Opfern in leicht zu verstehende Formular übertragen. Damit werden die Akten in Datenbanken durchsuchbar – eine unschätzbare Hilfe für alle, die nach Dokumenten zu einzelnen Personen suchen.

In einer beigelegten ausführlichen Erklärung schildert Anna Anschel die Situation im Jahr 1933, als sie und ihr Mann ihren Schokoladenhandel noch in der Bergstraße 17 hatten:

„Bei uns kaufte ein Händler Willy Herz. Als er in unseren Geschäftsräumen war, erklärte er meinem Mann, dass die Bäume in Deutschland nicht ausreichen würden, an denen die Juden aufgehängt werden.“ Weil er mit einem Messer ein Hakenkreuz in die Platte des Abfertigungstisches geritzt habe, habe sie in ihrem Zorn dem Mann eine Backpfeife gegeben. Die Folge sei gewesen, „dass bei dem einige Tage später stattfindenden Judenboykott der S.A. Sturm, zu dem wohl dieser Herz gehörte, abends vor unseren Wohn- und Geschäftsräumen Aufstellung nahm“. Einige seien auch eingedrungen und hätten „rund 1.500 Mark Bargeld aus der Kasse, sowie Schmuck, darunter Brilliantohrringe – Erbstück von der Mutter meines Mannes – und eine goldene Uhr genommen.“

Bis 1938 hätten sie das Geschäft „unter größten Schwierigkeiten weiter geführt“. Dann sei durch den großen Judenboykott „unsere Existenz erledigt“ worden. Erneut seien ihnen dabei Schmuck, Bilder, ein Nerzpelz, eine Mercedes-Schreibmaschine und vieles mehr entwendet worden. „Der Warenverlust beträgt ca. 12.000 M.“

In beigefügten Abschriften bestätigen ehemalige Geschäftspartner das Aus des Schokoladenhandelns in Folge der Pogromnacht. „Bei dem grossen Boykott, den die Nazi gegen die Juden angezettelt haben und alles in Trümmern schlugen, ist auch das Engrosgeschäft von Anschel erledigt worden. Das kann ich eidesstattliche versichern“, steht auf einem von Marietta Glasser und Gertrud Bergmann unterzeichneten Schreiben, die laut Stempel Vetreter der Zuckerwaren-Industrie in der Elisabethkirchstr. 9 waren.

Die Elisabethkirchstraße In Berlin-Mitte Foto: Sophie Kirchner

„Mir sind alle Vorgänge bekannt und noch in unangenehmer Erinnerung“, schreibt Paul Kalz, Zigarrenhändler aus der Invalidenstraße 2, und stellt sich zur mündlichen Aussprache gern zur Verfügung.

Und eine Dora Jasse aus der Fehrbelliner Straße 4 bestätigt, dass sie Händlerin bei der Firma Anschel gewesen sei. Sie wisse, dass nach dem „Judenbokott“ „Frau Anschel selbst als Händlerin ging, um sich ihren Lebensunterhalt für Mann und Kind zu verdienen.“ Das sei aber nur eine kurze Zeit möglich gewesen, „da ihr kein Engroshändler mehr Ware gab.“

Zwangsarbeit in Weißensee

Von 1938 an sei ihr Mann bis 1941 „als Jude“ arbeitslos gewesen, schreibt Anna Anschel weiter. Erst als „das Arbeitsamt Fontanepromenade für Juden“ eröffnet wurde, sei er als Arbeiter bei der Firma Scherb & Schwer in Weißensee „bei niedrigem Lohn“ eingesetzt worden.

Die Firma, heißt es bei einem Eintrag bei museum-digtital, sei von David Jaroslaw ursprünglich im 19. Jahrhundert in Breslau gegründet worden und 1906 nach Berlin-Weißensee umgezogen. Schon 1933 sei der jüdische Betrieb Jaroslaw in die Firma „Scherb & Schwer, vormals Jaroslaw“, später in „Scherb & Schwer Kommanditgesellschaft“ umgewandelt worden. „Der Schwiegersohn von Jaroslawl, Dr. Schröder, musste seinen Anteil an Scherb & Schwer verkaufen. Wenig später musste er eine hohe Summe zahlen, um mit seiner Familie und dem gesamten Mobiliar über Italien in die USA emigrieren zu können.“

Akten zu Anna Anschel auf dem Computerbildschirm im Diözesanarchiv. Und ein Autor im Spiegelbild Foto: Gereon Asmuth

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges sei der Betrieb auf Rüstungsproduktion umgestellt worden, heißt es weiter. „Ca. 1500 Arbeiter, darunter Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, waren bis Ende des Krieges dort beschäftigt.“ Auch auf der digitalen Karte der Webseite ns-zwangsarbeit.de ist die Firma „Elektro Glimmer und Preßwerke Scherb & Schwer KG“ zu finden. Dort habe es einen „geschlossenen Arbeitseinsatz deutscher Juden“ gegeben, zudem seien Kriegsgefangene aus der Sowjetunion, Polen und Italien eingesetzt worden.

Einer der Zwangsarbeiter war Max Anschel – bis Anfang 1943. Dann „erfolgte von dieser Firma aus die Massenverhaftung der Juden“, schreibt Anna Anschel. „Er sass 8 Tage lang von der Gestapo aus in der Rosenstraße.“

Die Fabrik-Aktion und die Rosenstraße

Damals gab es ein wohl recht einmaliges Ereignis im Nazi-Deutschland. Am letzten Samstag im Februar 1943 waren zunächst alle noch in Berliner Fabriken arbeitenden Juden festgenommen worden. Mit der so genannten „Fabrik-Aktion“ verfolgte der Propagandaminister und Gauleiter der Hauptstadt Joseph Goebbels das Ziel, Berlin „judenfrei“ zu machen. „Die SS trieb alle Juden, die in Fabriken Zwangsarbeit leisteten, zusammen und verschleppte sie in die Sammellager in der Levetzowstraße und in der Großen Hamburger Straße. Dort wurden die Häftlinge sortiert. Die ‚Mischlinge‘, so bezeichnet, weil sie mit arischen Partnern verheiratet waren oder arische Elternteile hatten, transportierte man in die Rosenstraße 2-4“, schrieb Anja Seeliger 1992 zum 50. Jahrestag in der taz.

Doch in der Rosenstraße, einer kleinen Seitenstraße zwischen dem Alexanderplatz und dem Hackeschen Markt, versammelten sich viele Ehefrauen der Inhaftierten. Sie versuchten, sie mit Nahrung zu versorgen – und demonstrierten für die Freilassung der Männer, tagelang. Sie ließen sich offenbar auch nicht durch von der Gestapo aufgestellte Maschinengewehre beeindrucken.

Das Mahnmal in der Rosenstraße, das heute in Berlin-Mitte an die „Fabrik-Aktion“ 1943 erinnert Foto: Gereon Asmuth

Rund 7.000 der bei der „Fabrik-Aktion“ Verhafteten wurden in den kommenden Tagen nach Auschwitz deportiert, nur die etwa 2.000 Juden aus „Mischehen“ wurden nach und nach entlassen. Wegen des Protests ihrer Angehörigen?, fragte Susanne Memarnia 2018 in der taz. Und antwortete sich selbst: Vermutlich nicht, sagen heute die meisten Historiker. Wahrscheinlicher ist, dass sie ohnehin nicht deportiert werden sollten, um die „arische“ Verwandtschaft zu schonen.

Im Vorwort zum Buch „Gedenkort Rosenstraße 2–4“ schrieb Andreas Nachama, geschäftsführender Direktor der Stiftung Topographie des Terrors: „Der Frauenprotest war singulär und ist deshalb von größter Bedeutung. Selbst wenn der Protest gescheitert wäre und die Verhafteten deportiert worden wären, gibt es in der zwölfjährigen NS-Geschichte kein vergleichbares Ereignis zivilen Protests einer größeren Gruppe in der Öffentlichkeit über mehrere Tage.“

In der Rosenstraße stand damals das Gebäude der Sozial-Verwaltung der Jüdischen Gemeinde. Dahinter stand in der Heidereutergasse die älteste Synagoge der Stadt, erfährt man auf eine Gedenktafel vor Ort. Sie wurde 1714 eingeweiht, 1942 war dort letztmalig ein Gottesdienst abgehalten worden. Von den damaligen Gebäuden ist heute nichts mehr zu sehen. Sie wurden im Krieg zerstört.

Zwischen den zu DDR-Zeiten errichtenten Plattenbauten, die heute das Gelände umgeben, findet man eine mehrteilige Plastik der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger. Sie zeigt in der Mitte die gefangenen Männer, drumherum die protestierenden Frauen. „Die Ehefrauen und Mütter gingen mit ihrem Protest ein hohes Risiko ein“, heißt es auf einem Erklärschild neben dem Denkmal. Denn seit 1941 habe bei „öffentlich gezeigten freundschaftlichen Beziehungen zu Juden“ bis zu drei Monate „Schutzhaft“ gedroht.

Eine beeindruckende Geschichte, die im Jahr 2003 auch fürs Kino verfilmt wurde.

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Und Teil dieser gut ausgehenden Geschichte waren also Max Anschel und seine Frau Anna.

Doch das Leid der Familie war damit keineswegs vorbei.

„Nach der Inhaftierung wurde er wieder durch das Arbeitsamt Fontanepromenade bei der Firma Paul Kretschmar, Lichtenberg, Frankfurter Allee 124a, als Bauarbeiter für wenig Geld eingesetzt“, schreibt Anna Anschel in ihrem Bericht für das katholische Hilfswerk über ihren Mann, „bis es dann zu der weiteren Verhaftung kam. Sein Leidensweg ging bis nach Auschwitz, von wo er nicht zurückgekehrt ist“.

Wann und warum es zur erneuten Verhaftung kam, erklärt sie an dieser Stelle nicht. Dazu muss ich noch andere Unterlagen finden.

Läuse, Typhus und der bestochene Wachmann

1944 war Max Anschel zunächst im Reichsarbeitserziehungslager Wartenberg, schreibt Anna Anschel weiter. Sie habe „wie die anderen Frauen und Mütter“ sämtliche Lebensmittelmarken „bei dem Kaufmann Freud“ in der Brunnenstraße gegen Reisemarken eingetauscht, um ihren Mann dort zu versorgen.

Doch habe er dort „durch die entsetzlichen Läuse“ Flecktyphus bekommen und sei in ein Krankenhaus in Böhmisch Leipa verlegt worden. Sie sei sofort in die heute in Tschechien liegende Stadt gefahren, habe ihren Mann aber erst nach langem Bitten kurz am Fenster sehen dürfen. Vier Wochen später fuhr sie erneut nach Böhmisch Leipa und blieb diesmal drei Wochen. „Ich besuchte ihn täglich heimlich. Alles freute sich, wenn ich kam. Es waren in dieser Baracke wenig Juden, viel Russen und Polen, die mich alle deckten.“

Wieder genesen, kam Max Anschel ins Polizeigefängnis. Um ihm auch dort zu helfen, „machte ich mich dort mit den wachhabenden Polizeibeamten bekannt“, schreibt Anna Anschel weiter. Schließlich habe sie den Beamten Paul Engel gefunden, den sie „durch Geschenke, wie überteuerten Alkohol, Zigaretten und Geld bestach.“ So habe sie ihrem Mann laufend Lebensmittel, Briefe und Rauchwaren überreichen können und der Beamte habe ihr „manchen lieben Gruß“ ihres Mannes übermittelt.

„Dann kam Auschwitz“, heißt es am Ende des Berichts von Anna Anschel. Ab da habe sie nur noch Pakete schicken können. „Ende Oktober wurde mein Mann das letzte Mal in Auschwitz gesehen. Wöchentlich erhielt er 3 Lebensmittelpakete von mir. Nichts wurde zurückgeschickt.“ Noch bis Januar 1945 habe sie Pakete geschickt, „vor Weihnachten noch 2 Wertpakete mit warmen Sachen“.

Dass Max Anschel da schon längst ins Konzentrationslager Stutthof deportiert worden war, wo er am 22. 11. 1944 ums Leben kam, weiß seine Frau Anna im Sommer 1945 noch nicht, als sie diesen Bericht verfasst. Noch in dem am 1. Februar 1946 ausgefüllten Fragebogen gibt sie das „KZ Auschwitz“ als Todesort an. Versehen mit einem Fragezeichen.

Die Morddrohung und die geplünderte Wohnung

Und dann ist da noch der kurze Hinweis auf eine massive Bedrohung, der mich überhaupt erst zu den Akten des Diözesanarchivs geführt hat. „Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee im Mai 1945“, schreibt Anna Anschel, „wurde ich von 4 Leuten gewarnt, dass ich als ‚Judenaas‘ erledigt werden soll und zwar durch P.G. Klatt, der meinen Mann durch seine Intrigen ins K.Z. beförderte. Das schlechte Gewissen dieses Mannes hatte nun auch noch die Absicht, sich von seiner Anklägerin zu befreien.“

Wer dieser P.G. Klatt war, bleibt unklar. Auch warum er gegen Max Anschel und seine Familie vorging, ist vorerst ein Rätsel. Ich hoffe auf die Akten im Landesarchiv, deren Einsicht ich schon beantragt habe.

Anna Anschel gibt an, dass sie sich nach dem Hinweis mit ihrer Tochter bei guten Bekannten verborgen habe. Währenddessen sei ihre Wohnung aufgebrochen worden. „Über Nacht nun hat man die Türfüllung zertrümmert, um dadurch in die Wohnung zu gelangen. Ich traf geplünderte Schränke und Kästen an. Wäsche, Kleidungsstücke etc. waren entwendet. Das Kind und ich haben heute kaum etwas zum Anziehen, Bettwäsche und Handtücher fehlen.“ Und dann fügt sie noch hinzu: „Besonders jammert mein Mädel um den Verlust ihrer Geige und der Noten.“

Der Riss in der Tür

Kaum bin ich aus dem Diözesanarchiv zurück, nehme ich alle Wohnungstüren unter die Lupe. Das Haus ist eins der letzten unsanierten im Viertel. Die Anstriche im Treppenhaus sehen so aus, als könnten sie noch aus Vorkriegszeiten stammen. Eine zertrummerte Türfüllung könnte also Spuren hinterlassen haben.

Gibt es hier Einbruchsspuren? Die Wohnungstür in der Elisabethkirchstraße Foto: Sophie Kirchner

Ein Gedanke drängt sich auf: Es könnte meine Wohnungstür sein.

Aber auf den ersten Blick ist nichts zu sehen. Erst bei einem zweiten Blick sehe ich leichte Risse bei einer Tür. Aber nicht an meiner, es ist die von meinem Nachbarn Wolfgang, der hier seit 50 Jahren wohnt. Ich drehe an seiner Klingel, um zu fragen, ob er was weiß, ob man von innen vielleicht noch mehr sieht.

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Aber Wolfgang weiß etwas anderes zu berichten. Der leichte Riss stamme garantiert nicht aus den letzten Kriegstagen, sondern irgendwann aus den 70ern. Da habe er mal den Schlüssel vergessen und dann …

Später schaue ich mir die Akten des Diözesanarchivs nochmal genauer an. Darin gibt Anna Anschel an, in einer 4-Zimmer-Wohnung zu wohnen. Für 78 Mark Miete. Wolfgang aber hat nur drei Zimmer, wie alle Wohnungen auf seiner Seite des Hauses. Nur die Wohnungen auf unserer Seite haben vier. Haben die Anschels genau dort gelebt, wo ich jetzt sitze und schreibe? Die Wahrscheinlichkeit hat sich nun schlagartig verdoppelt. Eine Antwort werde ich aber erst Monate später bekommen.

Auch weil ich immer wieder mal eine Pause brauche von den Anschels. Manchmal lasse ich die Akten über Monate ruhen, irgendwo gespeichert im Computer. Um Abstand zu bekommen, bevor ich wieder Energie genug habe, um mich wieder dran zu setzen. Weiter, vor allem aber genauer zu lesen, auf Details zu achten.

Der Traum von Amerika

Im Frühjahr 1946 hatte auch Anna Anschel genug. Sie wollte nur noch eins: weg von hier. Bei Punkt „Ausreise“ schreibt sie in den Fragebogen: „Herzlich gern, besonders meine 15 jährige Tochter, welche schon fleissig englisch lernt. Sie bleibt nicht in Deutschland, wo man sie beschimpft, mit Steinen beworfen u. in den Schmutz gestossen hat. Sogar von Frauen wurde sie vor den Geschäften beim Einkauf beschimpft. Auch vor unserer Wohnungstür hielt man Judenhetze: ‚Wir sollen nach Palästina usw.‘“

Als Angehörigen im Zielland benennt sie Walter Hasendahl, einen in Los Angeles lebenden Vetter. Hasendahl war der Mädchenname von Max Anschels Mutter.

Warum aus dem Traum von Amerika nichts wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Vielleicht lag es am Fehlen von Auswanderungspapieren, das im Fragebogen vermerkt ist. Vielleicht lag es am Geld.

Aus den Ostberliner Adressbüchern geht hervor, dass Anna und Ruth Anschel noch bis Mitte der 60er Jahre an der Elisabethkirchstraße gewohnt haben.

Die Berliner Adressbücher

Die Zentrale Landesbibliothek Berlin hat die Adress- und Telefonbücher der Stadt digitalisiert ins Netz gestellt. Unter https://digital.zlb.de/viewer/berliner-adress-telefon-branchenbuecher/ kann man alle vorhandenen Adressbücher der Stadt ab 1799 einsehen und durchsuchen. Hier finden sich die Telefonbücher, teils getrennt in den West- und Ostteil der Stadt, Branchenbücher, sowie Adressbücher und -kalender bis zurück ins Jahr 1707.

Besonders interessant sind die Adressbücher bis 1945. Dort sind jeweils im hinteren Teil die Haushaltsvorstände jedes einzelnen Wohnhauses sortiert nach Adressen zu finden. Das ermöglicht zum Beispiel nachzuschauen, wer damals alles an einer bestimmten Adresse gewohnt hat.

Besonders gut scheint es ihr nicht ergangen zu sein. Aus den Notizen des katholischen Hilfswerks geht hervor, dass Anna Anschel „nervenkrank“ war, „verursacht durch fortgesetzte Aufregungen und Leiden, durch die Verhaftung meines Mannes und der nicht erfolgten Wiederkehr“.

Es gibt nur wenige weitere Unterlagen aus dem Bestand des katholischen Hilfswerks. In einer Notiz aus dem September 1947 wird vermerkt, dass Frau Anschel angerufen und mitgeteilt habe, dass sie nach Liebenthal zur Erholung fahre. Frau Dr. Sommer habe versprochen, sich derweil um die damals 16-jährige Tochter Ruth zu kümmern.

Die kommt auf Einladung zu den Katholikinnen, aber möchte dort offenbar keine Hilfe annehmen. „Sie mag nicht anderswo essen gehen“, heißt es in einer handschriftlichen Notiz, mit der die Akten enden. Die Mutter habe gut vorgesorgt und sie koche sehr gern für sich.

Der Brief von Trudel

Zuvor aber findet sich noch die Abschrift eines Briefes an die „Liebe Anne und Ruth!“ vom 15. Oktober 1945. Unterzeichnet ist er nur mit „Deine Trudel“:

„Liebe Anna, wir leben alle noch haben alles überstanden. Am 1. April sind die Amerikaner bei uns einmarschiert, mittag um 1 Uhr. Es war eine Zeit, die man nie wieder vergessen kann. Karl und Lieschen ihr Mann sind zu Hause.“

Dann berichtet sie über die neue Lage vor Ort. „Hier bei uns ist die Grenze: Wir sind amerikanisch. Meine Eltern russisch. Schwierig ist es überhin zu kommen.“ Der Brief stammt aus Archfeld, einer kleinen Gemeinde in Hessen, keine zwei Kilometer von der Landesgrenze nach Thüringen, der Grenze, an der dann bis 1989 infolge des Krieges die Grenzanlagen der DDR standen.

„Wir waren auch 4 Tage nicht in unserem Haus, da waren die Amerikaner drin“, schreibt Trudel weiter. „Ein Korb von dir haben sie aufgemacht. Es lag alles darum. Der grosse Korb ist zugeblieben.“

Offenbar waren Trudel und Anna Freundinnen oder Verwandte, jedenfalls standen sie sich so nah, dass Anna Anschel Sachen in Archfeld untergestellt hatte.

„Mein lieber Mann, der ist noch nicht da. (…) Wo mag er wohl sein? Durch einen Kameraden habe ich erfahren, dass sie zuletzt bei Frankfurt/Oder gekämpft hat, also beim Russen“, schreibt Trudel. Es könnte sich um die große Schlacht bei den Seelower Höhen handeln, bei der Mitte April 1945 innerhalb weniger Tage insgesamt rund 100.000 Soldaten ums Leben gekommen sind. „Ob wohl Ernst in Frankfurt/Oder im Lager ist? Wenn ich das nur mal wüsste.“

Und dann fragt Trudel auch nach Max. „Ist dein Mann da? Der müsste aber schon längst da sein. Ja ja“.

Max Anschel war da schon fast ein Jahr lang tot.

Wie hat diese Erfahrung das Leben seiner Tochter geprägt?

..........

Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie unter taz.de/maxanschel.

Teil 1: Mein Vormieter Max Anschel, ermordet im KZ Stutthof 1944

Teil 2: Vier Tage und ein halbes Brot – Das KZ Stutthof, in dem Max Anschel starb, galt unter Häftlingen als schlimmstes Lager.

Teil 3: Die gnadenlose Kirche gegenüber – Die jüdisch-katholische Famlie Anschel lebte direkt gegenüber einer NS-dominierten Kirche.

Teil 5: „Mutti, ich habe eine sehr, sehr grosse Bitte an Dich!“ – Die Geschichte der Tochter Ruth Anschel

Teil 6: Der Verrat im Luftschutzkeller und das Leben im Nazinest nach dem Krieg

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