Gedenken an Halle-Anschlag: „Liebe ist stärker als Hass“
Zum selbstbestimmten Gedenken der Überlebenden fünf Jahre nach dem Terror kamen Hunderte. Die Reden handelten nicht nur vom Erinnern.
Aufgerufen zur Kundgebung unter dem Titel „Trauer, Angst, Wut – Hoffnung?“ hatte die Soligruppe 9. Oktober und der Tekiez. Vor dem Laden, der vor fünf Jahren noch Kiez-Döner hieß und wo 2019 ein Rechtsterrorist sein zweites Opfer umgebracht hatte, wollten sie nicht nur still gedenken, sondern den Betroffenen eine Bühne bieten. Dabei kamen auch Überlebende und Hinterbliebene anderer Anschläge zu Wort. In ihren Reden verdeutlichten sie, wie sich rechter Terror durch die jüngste Geschichte in Deutschland zieht.
Vor fünf Jahren hatte der rechtsterroristische Täter am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, die Synagoge in Halle zu stürmen und die Feiernden darin zu ermorden. Nachdem er an der verschlossenen Tür gescheitert war, tötete er zunächst die Passantin Jana L. und fuhr dann zum 600 Meter entfernten Kiez-Döner, um auf die Menschen darin zu schießen. Dort tötete er Kevin S. und lieferte sich einen Schusswechsel mit der Polizei. Auf seiner Flucht fuhr er den Schwarzen Passanten Aftax I. an, schoss später Dagmar M. und Jens Z. an. Der Anschlag war antisemitisch, rassistisch und misogyn.
Leichter Nieselregen tröpfelte auf die Zuhörer*innen, manche spannten bunte Schirme auf. Auf der Fensterbank und vor den Holzbänken des Tekiez flackerten ein paar Kerzen. Von den Häuserwänden reflektierte das blinkende Blaulicht der Polizeiautos, die den Straßenabschnitt absperrten.
Das häufigste Wort: „Danke“
Als 2019 der Täter in Halle versuchte, die Synagoge zu stürmen, beging Christina Feist dort mit etwa 50 anderen jüdischen Menschen Jom Kippur. Weil die Tür standhielt, blieben sie körperlich unverletzt. Der Täter erschoss auf der Straße die Passantin Jana L. und fuhr dann weiter zum nahe gelegenen Kiez-Döner. Am Mittwoch, fünf Jahre später, stand Feist zwar nicht in Halle am Mikrofon, sondern bei der parallel stattfindenden Kundgebung in Berlin – aber ihre vorher aufgezeichnete Rede schallte dennoch klar vernehmbar über die Kreuzung: „Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem. Das gilt heute sogar noch mehr als vor fünf Jahren.“
Seit dem Anschlag kämpfe Feist mit den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung. „Ich habe mich gezwungen, das Haus zu verlassen, einkaufen zu gehen, in die Synagoge und zum Sport zu gehen.“ Sie habe zudem „über Jahre hinweg“ mit den Behörden über die Erstattung ihrer Behandlungskosten streiten müssen.
Rechtsextreme Anschläge zu verhindern oder juristisch aufzuarbeiten, das sei Aufgabe des Staats – eigentlich. „Trotzdem sind es am Ende immer die Betroffenen, Überlebenden und Hinterbliebenen rechter Gewalt, die zusätzlich zu ihrem Leid, zusätzlich zu unserem Schmerz auch noch die Last der Aufklärung, die Last der Aufarbeitung und die Last des Gedenkens tragen müssen“, kritisierte Feist.
Noch am Abend vor dem fünften Jahrestag des Halle-Anschlags habe sie zwei antisemitische Hassnachrichten erhalten. Die Ansichten des Täters, sie seien auch woanders in der Gesellschaft zu finden – und das sei bedrohlich. Feist beendete ihre Rede mit einem Aufruf: „Halle gedenken heißt, niemals aufzugeben.“
Nathan Biffio sprach bei der Kundgebung am Mittwoch zum ersten Mal seit dem Anschlag, den auch er in der Synagoge überlebte. Bislang hätten ihm die Worte gefehlt, sagte er und fuhr fort: „Am Tag des Anschlags trafen die Kugeln meinen Körper nicht und gingen doch mitten in meine Seele. Das, was bleibt, sind Trauer, Schmerz und die immer währende Frage: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“
Überlebende vernetzen sich
In mehreren Redebeiträgen ging es auch um den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und seine Folgen: Unsicherheit, Angst. Jüdische Menschen weltweit spürten das. So berichtete zum Beispiel Naomi Henkel-Guembel, Überlebende des Halle-Anschlags: „Das Schweigen vieler progressiver Kreise war ohrenbetäubend, das Fehlen einer klaren Haltung gegen antisemitische Gewalt zutiefst enttäuschend.“
Doch Henkel-Guembel betonte auch den Zusammenhalt zwischen den Betroffenen rechter Gewalt in Deutschland. Sie spreche, „weil wir als Überlebende ein Netzwerk gebildet haben, ein Band, das im Feuer der Gewalt geschmiedet wurde. Gemeinsam kämpfen wir gegen diese rechtsextremen Verbrechen.“ Auch sie sprach in Berlin, ihr Beitrag wurde in Halle von der Soligruppe 9. Oktober verlesen.
Mamadou Saliou Diallo, dessen Bruder Oury Jalloh vor 19 Jahren in der Polizeiwache von Dessau verbrannte, wünschte „viel Kraft für alle Opfer, Überlebenden und alle Menschen, die für Gerechtigkeit kämpfen“. Er kenne den Schmerz und die Trauer. Kurz danach betrat Emiş Gürbüz die improvisierte Bühne vor dem Tekiez. „Mein Sohn Sedat wurde am 19. Februar 2020 in Hanau kaltblütig von einem Rassisten ermordet“, stellte sie sich vor.
Gürbüz trug ein T-Shirt mit den Namen und Gesichtern der Opfer von Hanau. Sie erinnerte daran, dass wenige Tage zuvor ein Graffity mit ihren Porträts in Hanau übersprüht worden war. „Wie oft wollen sie unsere Kinder noch töten?“, fragte sie. Dann richtete sie ihre Worte an die Ermordeten: „Wir werden euch nicht vergessen und nicht zulassen, dass ihr vergessen werdet“, sagte Emiş Gürbüz, „Liebe ist stärker als Hass“.
Nach jedem Beitrag gab es anhaltenden Applaus. Die Redner*innen wurden mit Umarmungen auf der Bühne begrüßt und verabschiedet. Das wohl häufigste Wort war „Danke“. Danke für die Zeit, die Bühne, die Aufmerksamkeit und die Reden.
Steinmeier für Gespräch im Tekiez
Die Kundgebung war nicht die einzige Gedenkveranstaltung am Mittwoch in Halle. Über den Tag hinweg legten Menschen Blumen vor der Synagoge und dem Tekiez ab. Das Bündnis Halle gegen Rechts hatte einen Rundgang organisiert, bei dem ebenfalls mehrere Hundert Menschen demonstrationsartig durch die Stadt zogen und den Opfern gedachten.
In der Ulrichskirche, etwa einen Kilometer südlich des Tekiez, veranstaltete die Stadt ein offizielles Gedenken. Dabei hielt auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine Rede. Für İsmet Tekin, einen der Überlebenden des Anschlags und späteren Betreiber des Tekiez, war sie besonders. Steinmeier habe klare Worte gefunden, „die ich bis jetzt so nicht gehört hatte“, sagte Tekin. De Überlebenden erklärten seit Jahren, dass der Terror nicht von Einzeltätern ausgehe. „Steinmeier hat das auch betont“, sagte Tekin. Das sei wichtig.
Mittags hatte der Bundespräsident auch den Tekiez besucht und sich Zeit für ein Gespräch genommen. Auch darüber freute sich İsmet Tekin. Steinmeier habe zugehört. „Für uns war es das erste Mal, aber hoffentlich nicht das letzte Mal“, so Tekin. Beim nächsten Gespräch sollten auch die Hinterbliebenen und Überlebenden aus anderen Städten dabei sein, in denen es Anschläge gab, forderte er. „Wir kämpfen zusammen für eine bessere Gesellschaft.“
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