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Wer ist hier gefährdet?

Bundesregierung und Opposition setzen in der Asylpolitik auf Härte. Die Sicherheit von Schutzsuchenden gerät dabei völlig aus dem Blick. Ein Besuch bei zwei Verletzten

Die Gemeinschaftsunterkunft in Obermehler, aufgenommen 2016. „Heute sieht es hier deutlich heruntergekommener aus“, sagen Hasan und Nadim Foto: Tobias Kruse/ostkreuz

Aus Jena Joscha Frahm

Schrauben aus Titan stabilisieren die Wirbel, die sich Hasan* beim Sprung aus dem vierten Stock der Sammelunterkunft gebrochen hat. Das Gehen fällt noch schwer, ohne seinen Rollator schafft er gerade mal ein paar Schritte.

Der junge Asylbewerber liegt im Bett einer kleinen Wohnung, die Ak­ti­vis­t:in­nen für ihn organisiert haben, mitten in der Altstadt von Jena. Anfang Oktober ist die Luft eisig, beim Ausatmen bilden sich kleine Dampfwolken vor dem Mund. Freunde von Hasan kochen Tee in einer goldenen Kanne, verteilen unterschiedlich große Gläser. Die Einrichtung ist zusammengewürfelt, das meiste kommt vom Sperrmüll. Auf dem Nachttisch stapeln sich Schmerzmittel, die der 30-Jährige seit Wochen mehrmals täglich einnehmen muss.

„Jede Nacht träume ich vom Fallen“, erzählt Hasan. Sein Gesicht ist blass, seine Bewegungen sind vorsichtig. Er trägt einen langen dunklen Bart, ist dünn und still. Nur in wenigen Momenten blitzt ein anderer Hasan durch. Einer, der mit seinen Freunden herumalbert, und sie mit dem Greifarm ärgert, den er aus dem Krankenhaus bekommen hat. Doch schnell versinkt er wieder in sich.

Während er im Tee rührt, erzählt der junge Mann von der Angst, die ihn seit Monaten zermürbe und ihn schließlich zum riskanten Fluchtversuch aus dem vierten Stock getrieben habe: die Angst vor seiner Abschiebung.

Die migrationspolitische Debatte in Deutschland spitzt sich seit Monaten zu. Opposition und Ampelparteien überbieten sich insbesondere seit den islamistischen Anschlägen in Mannheim (Mai) und Solingen (August) mit harten Forderungen. Das sogenannte Sicherheitspaket der Regierung, das der Bundestag am Freitag verabschiedet hat, sieht eine ganze Reihe von Maßnahmen vor: mehr Grenzkontrollen, weniger Geld für Asylsuchende, erweiterte Befugnisse für die Polizei, eine härtere Abschiebepraxis.

Die zeigt sich schon jetzt in Zahlen. Im ersten Halbjahr 2024 wurden 9.465 Personen in Nicht-EU-Staaten abgeschoben – etwa 20 Prozent mehr als noch im Vorjahreszeitraum. Weitere 3.043 Menschen wurden per Dublin-Verfahren in EU-Länder abgeschoben.

Der frühere Grünenpolitiker Tareq Alaows, der heute als Sprecher von Pro Asyl arbeitet, nennt das neue Ampelgesetz ein „Unsicherheitspaket“, denn es lasse die Sicherheit von Asylsuchenden völlig außen vor. „Das Gesetz schafft das letzte bisschen Menschenwürde ab, das Geflüchteten geblieben ist“, sagt Alaows.

Eine bedrohliche Debatte

Woher genau Hasan kommt, möchte er nicht öffentlich machen. Nur so viel: Aus Deutschland wird bisher nicht in sein Heimatland abgeschoben. Der junge Mann ist, wie viele andere, in Deutschland geduldet. Das bedeutet, dass er zwar offiziell ausreisepflichtig ist, weil sein Asylgesuch abgelehnt wurde, in der Praxis aber nicht abgeschoben wird. Ob das so bleiben wird, ist unklar. Denn längst wird gefordert, Menschen auch in Hasans Heimatland abzuschieben. Bei einer Rückkehr, so fürchtet Hasan, würden ihm Haft und Folter drohen.

Jenny Baron ist Psychologin und Sprecherin der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Sie sagt: „Für viele unserer Pa­ti­en­t:in­nen ist die Abschiebedebatte extrem bedrohlich.“ Der feindselige öffentliche Diskurs spiegele sich im alltäglichen Leben Geflüchteter wider und verstärke das Gefühl, dem Land zur Last zu fallen. So komme es bei Betroffenen zu einem massiven Vertrauensverlust. „Selbst wenn Geflüchtete einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, fragen sich viele inzwischen: Was ist dieser noch wert? Bin ich der nächste, der abgeschoben wird?“

Nach einer Weile beginnt Hasan von der Nacht Anfang September zu erzählen, in der er den Fluchtversuch aus der Sammelunterkunft in Obermehler, etwa anderthalb Autostunden von Jena entfernt, unternahm. „Um vier Uhr morgens habe ich gehört, wie die Wagen von Polizei und Ausländerbehörde vorgefahren sind. Es war noch dunkel draußen.“ Gerade habe er sich auf sein Morgengebet vorbereiten wollen und seinen kleinen weißen Gebetsteppich gen Mekka ausgerichtet. Er sei hochgeschreckt, sein Herz habe angefangen, schneller zu schlagen. Plötzlich habe er einen der Beamten „107“ sagen hören – seine Zimmernummer. Dann Schlüsselklappern. „Alles was du fühlst ist Angst, Angst, Angst.“

Danach sei alles sehr schnell gegangen. Hasan sagt, er habe den Balkon betreten, sei auf das Geländer gestiegen und ohne darüber nachzudenken gesprungen.

„Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, wie ich im Krankenwagen aufgewacht bin.“ Eine komplizierte Operation an der Wirbelsäule und drei Wochen im Krankenhaus folgten. Ak­ti­vis­t:in­nen halfen Hasan dabei, einen sogenannten Umverteilungsantrag zu stellen, der ihm erlauben soll, in Jena zu bleiben, um gesund zu werden. Eine Entscheidung dazu steht noch aus. Inzwischen ist aber klar: Die Beamten kamen in besagter Nacht wohl nicht, um Hasan abzuschieben. „Dass das beim nächsten Mal nicht anders ist, kann mir niemand garantieren“, sagt er.

Psychologin Jenny Baron sieht die Vorgehensweise bei Abschiebungen sehr kritisch: „Die Konfrontation mit Uniformierten kann gerade bei Menschen, die traumatische Erfahrungen in Haft gemacht haben, extreme Panik auslösen.“ Dass Beamten unangekündigt und meist nachts kämen, sei hochproblematisch.

Die weite Entfernung zum nächsten Flughafen rechtfertige nächtliche Abholungen zu Abschiebungen, schreibt der Migrationsfachdienstleiter des Unstrut-Hainich-Kreises, in dem Obermehler liegt, auf taz-Anfrage. Jenny Baron argumentiert dagegen: Nicht nur für akut Betroffene könne eine nächtliche Abschiebung extrem belastend sein. „Wenn nachts Türen eingeschlagen werden und Freunde aus der Unterkunft am nächsten Tag plötzlich weg sind, greift das tief in das Sicherheitsgefühl der Menschen ein.“

Seit Februar dürfen Po­li­zis­t:in­nen auch ohne richterlichen Beschluss in Zimmer von Unbeteiligten eindringen, die in Sammelunterkünften leben. Baron zufolge führe das dazu, dass nicht nur tatsächlich von Abschiebung bedrohte Menschen eine solche fürchteten, sondern nahezu alle Geflüchteten.

Ein neuer Ton in Thüringen

Tareq Alaows von Pro Asyl sagt: „Die immer lauter werdenden Forderungen nach mehr Abschiebungen, setzen die Kommunen massiv unter Druck.“ Dies führe dazu, dass Landkreise ihre Abschiebepraxis verhärteten und häufiger Fehlentscheidungen treffen würden.

Ein Freund von Hasan, der noch immer in Obermehler lebt, bestätigt diese Darstellung. Nadim* trägt einen Schnurrbart und kleine Tattoos, verstreut auf dem ganzen Körper. Den Namen seiner Geliebten hat sich der 23-jährige Syrer gleich an zwei Stellen verewigen lassen, daneben ein kleines Herz.

Seit einigen Wochen kämen immer häufiger Beamte in die Sammelunterkunft in Obermehler und gingen immer weniger respektvoll mit den dort lebenden Asylsuchenden um. Die Rede ist auch von körperlicher Gewalt, die Po­li­zis­t:in­nen gegenüber Asylsuchenden anwendeten.

Das zuständige Landratsamt widerspricht. Fälle von physischer Gewalt bei Abschiebungen seien nicht bekannt, schreibt die Behörde auf Anfrage der taz. Auch der Migrationsfachdienstleiter des Unstrut-Hainich-Kreises beteuert, man habe die Abschiebepraxis im Landkreis nicht verändert.

„Seitdem die AfD die Wahlen gewonnen hat, hat sich der Ton in Thüringen verändert“, erzählt Nadim. Er berichtet von Busfahrern, die ihn trotz gültigem Ticket aus dem Bus werfen und rassistischen Beleidigungen auf offener Straße. Dazu komme die isolierte Lebenssituation vieler Aslysuchender. Die Sammelunterkunft in Obermehler liegt knapp 20 Kilometer vom nächsten größeren Ort, Mühlhausen, entfernt. Viermal täglich fahre ein Bus, erzählt Nadim. „Wir sind wie die Kühe, die neben der Unterkunft grasen – gefangen in Obermehler“, sagt er.

„Solch isolierte Wohnsituationen können sich extrem negativ auf die psychische Gesundheit Geflüchteter auswirken“, sagt Psychologin Baron. Außerdem blieben so Rechtsverletzungen bei Abschiebung häufig unter dem Radar. Aus Mangel an Ressourcen könnten Geflüchtete kaum auf ihre Notlage aufmerksam machen.

„In letzter Zeit verstecken wir uns nachts oft draußen“

Nadim, 23, fürchtet eine zweite Abschiebung

„In letzter Zeit verstecken wir uns nachts oft draußen“, sagt Nadim. Auch, wenn es regne und sehr kalt werde. „Ich lasse mich auf keinen Fall nochmal abschieben.“

Denn eine Abschiebung nach Polen hat Nadim schon hinter sich. Er krempelt den Ärmel seiner dunkelblauen Übergangsjacke hoch und zeigt die tiefen weißen Narben, die seinen Arm zeichnen. „Von den Stiefeln der polnischen Polizisten“, erklärt er. Immer wieder dringen Berichte von Polizeigewalt und systematischen Menschenrechtsverletzungen aus polnischen Haftanstalten, in denen viele Asylsuchende landen.

Nadim schaffte es mit viel Glück zu entkommen und die Grenze zu Deutschland zu überqueren, wie er berichtet. Eines der Tattoos auf seinem Körper ist ein Satz auf Arabisch, er lautet: Auch wenn ich ins Wanken gerate, falle ich nicht.

Inzwischen engagiert sich Nadim in einem neuen Thüringer Geflüchtetennetzwerk. Bei entsprechenden Treffen tauscht er sich mit anderen Geflüchteten und Ak­ti­vis­t:in­nen aus. Gemeinsam sammeln sie Spenden und organisieren rechtliche und psychologische Beratung für Asylbewerber:innen. Es ist der Versuch, die Isolation zu durchbrechen und sich den Schutz zu suchen, den er braucht. Im Netzwerk hat er Ak­ti­vis­t:in­nen kennengelernt, mit deren Hilfe es gelang, Kirchenasyl für ihn zu sichern. Doch auch das bietet keinen garantierten Schutz mehr: Erst kürzlich wurde der Fall eines 29-jährigen Afghanen bekannt, der trotz Kirchenasyl aus Hamburg abgeschoben wurde.

Nadim setzt sich an Hasans Bett und schenkt heißen Tee nach. Die beiden sind durch die Vernetzung mit Ak­ti­vis­t:in­nen sicherer als noch vor einigen Wochen und stützen sich gegenseitig. Doch die Narben auf ihrer Haut werden bleiben.

* Die Namen wurden aufgrund der prekären Situation der Betroffenen geändert.

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