Übergriffe bei SOS-Kinderdorf​: „Wir haben Kinder allein gelassen“​

Schläge, Demütigungen, sexueller Missbrauch: SOS-Kinderdorf hat eine externe Kommission beauftragt, seine Schattenseiten auszuleuchten.

Kinderzeichnung eines kranken Kindes im Bett

Traurig: Manche Kinder sollen von Kinderdorfmüttern stark vernachlässigt worden sein Foto: imago

München taz | Die schöne heile Welt sieht anders aus. Eine unabhängige Untersuchungskommission hat am Mittwoch einen Bericht vorgelegt, der einen Blick hinter die Fassade der SOS-Kinderdörfer ermöglicht. Zum Vorschein kommen dort Fälle von Gewalt durch die Kinderdorfmütter, aber auch andere Mitarbeiter des Vereins, die offenbar zumindest oft auch von der Umgebung geduldet wurden.

Die Beispiele, von denen Betroffene der Kommission berichtet hätten, reichten von Vernachlässigung grundlegender Bedürfnisse bis hin zu Vergewaltigungen. So hätten Kinder schon mit zehn Jahren allein zum Arzt gehen müssen; wenn sie krank gewesen seien, seien sie von ihren Kinderdorfmüttern als Simulanten beschimpft worden. Briefe und Geschenke der Herkunftsfamilie seien abgefangen, teils weggeworfen worden, aber auch von wochenlangen Arresten wird berichtet. Ein Mädchen sei auf dem Standstreifen der Autobahn ausgesetzt und erst nach 20 Minuten wieder abgeholt worden.

Kinder seien auch stundenlang in den Keller gesperrt worden oder hätten dort auf einer Matratze im Dunkeln die Nacht verbringen müssen. Sie seien mit Essensentzug oder -zwang bestraft worden. In einem Fall sei ein Mädchen, das keine Rollmöpse essen wollte, von seiner Kinderdorfmutter gezwungen worden, so viele Rollmöpse zu essen, bis es sich habe übergeben müssen. Danach habe sie das Erbrochene essen müssen. Auch von exzessiven Schlägen und sexuellem Missbrauch ist die Rede. Die taz hatte bereits über Fälle von Übergriffen berichtet und mit Betroffenen gesprochen.

Auf einen Umstand weist Klaus Schäfer, Honorarprofessor der Universität Bielefeld und Vorsitzender der „Unabhängigen Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts beim SOS-Kinderdorf e.V.“, gleich zu Beginn seiner Ausführungen hin: Dieser Bericht unterscheide sich von vielen anderen, die von in der Kinder- und Jugendarbeit tätigen Organisationen in den vergangenen Jahren in Auftrag gegeben worden seien. Es sei keine abgeschlossene Studie, sondern mehr ein „Teilschritt“ auf dem Weg der Aufarbeitung. Daher auch der Titel des 162 Seiten starken Ringbuchs: „Der Aufarbeitung verpflichtet“.

Was ist strukturell?

Man kennt das ja aus den vergangenen Jahren: Nach langer Zeit des Vertuschens, des Unter-den-Tisch-Kehrens nehmen sich Organisationen ihrer Vergangenheit an, beauftragen externe Kommissionen mit der Untersuchung, Heime, Internate, die Kirchen. Oft ist es das Bekanntwerden handfester Skandale, das zur Erkenntnis führt, dass nur noch Aufklärung hilft.

SOS-Kinderdorf ist eine Einrichtung mit einem besonders hehren Ansatz. Der 1949 von Hermann Gmeiner in Österreich gegründete Verein, den es seit 1955 auch in Deutschland gibt, will Kindern mit der Unterbringung in einer Ersatzfamilie, in deren Zentrum die Kinderdorfmutter steht, eine Alternative zum Kinderheim bieten. Derzeit gibt es in Deutschland 38 Kinderdörfer, der Verein hat rund 2000 Kinder in seiner Obhut. Er kann seine Arbeit auch deshalb machen, weil es auf ein besonders hohes Spendenaufkommen zählen kann. Spenden, die der Organisation überwiesen werden in der Überzeugung, hier tue jemand etwas fürs Wohlergehen von Kindern, kümmere sich insbesondere um Kinder, mit denen es das Leben nicht von Haus aus gut gemeint hat. Wenn es just hier um den Kinderschutz schlecht bestellt ist, ist das Entsetzen besonders hoch.

„Jugendhilfe ist ein Risikobereich“, sagt Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende des Vereins, am Mittwoch und natürlich – das gestehen auch die Mitglieder der Kommission zu – lässt sich das Fehlverhalten Einzelner nie gänzlich verhindern. Nur: Wann wird eine Häufung einzelnen Fehlverhaltens systematisch? Welche strukturellen Bedingungen ermöglichen manche Übergriffe oder begünstigen sie? Natürlich waren dies Fragen, die im Zentrum der Untersuchungskommission standen.

Endlich mal gehört werden

Insgesamt 226 Fälle von Grenzüberschreitungen – ganz unterschiedlicher Schwere – hat die Kommission registriert. Schätzungen über die Höhe der Dunkelziffer gibt es nicht. 33 Fälle wurden an die Generalstaatsanwaltschaft München zur Überprüfung auf eine mögliche Strafrelevanz übergeben. Die Schwere der Fälle habe zwar seit den sechziger und siebziger Jahren, in denen vielfach noch ein völlig anderes Erziehungsverständnis geherrscht habe, schon abgenommen, die Kommissionsmitglieder waren aber offensichtlich erstaunt, welche Schilderungen über Fehlverhalten sie sich auch aus den letzten zehn, zwanzig Jahren anhören mussten.

Die Betroffenen hätten sich gefreut, endlich mal gehört zu werden, berichten sie jetzt. Diese Menschen hätten bisher die Erfahrung gemacht, dass abgewiegelt, ihnen nicht geglaubt worden sei, wenn sie sich hilfesuchend an Mitarbeiter von SOS Kinderdorf gewandt hätten.

Die meisten von ihnen hätten zwar darauf hingewiesen, dass Übergriffe, wie sie sie erlitten hätten, nicht die Regel gewesen seien. Dennoch befand die Kommission, wie Schäfer ausführte, dass es auch strukturelle Bedingungen gegeben habe, die einen begünstigten Raum für derlei Übergriffe geschaffen hätten. Dazu gehörten beispielsweise Überlastung und Überforderung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch mangelnde Qualifikation und Sensibilisierung.

Dem Anspruch nicht gerecht geworden

Ein zentrales Problem, dass dazu geführt habe, dass oft nicht reagiert worden sei, sei auch das Selbstverständnis des Vereins gewesen. „Wir sind gut, wir sind besser“, habe man gedacht, die bessere Alternative zu anderen Angeboten der Jugendhilfe. Wer ein solch überhöhtes Selbstbild habe, für den sei unvorstellbar, dass in diesem Umfeld Unrecht geschehen könne. Das Funktionieren des Systems sei nicht in Frage gestellt worden.

„Wir müssen anerkennen, dass wir unserem Anspruch, Kindern ein sicheres Zuhause zu bieten, nicht immer gerecht geworden sind“, sagte Schutter bei der Vorstellung des Berichts. „Und wir haben Kinder allein gelassen.“ Selbst bei Fällen, von denen man gewusst habe, habe man nicht schnell und angemessen reagiert.

Schutter versprach, die Empfehlungen der Kommission umzusetzen. Man habe bereits einen Aktionsplan Kinderschutz ins Leben gerufen, der beispielsweise vorsieht, dass in jedem SOS-Kinderdorf eine Kinderschutzfachkraft beschäftigt wird.

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