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Roman über chilenische MilitärdiktaturIm Strudel aus Bildern

Nona Fernández' packender Roman „Twilight Zone“ über Verbrechen der Diktatur in Chile und ihre Aufklärung beeindruckt durch seine literarische Form.

Santiago de Chile, 2. September 2023. Eine Frau hält die Fotografie ihres verschwundenen Großvaters bei einer Gedenkveranstaltung Foto: Victoria Valdivia/Hans Lucas

Einbildungskraft ist Arbeit. Im Falle von „Twilight Zone“, einem Roman der chilenischen Schauspielerin und Autorin Nona Fernández, ist es sogar Schwerstarbeit. Denn sie stellt darin die Mühsal, die Last von Erinnerungen an zeitlich zurückliegende Ereignisse dar, genauer, die Aufklärung von politischen Staatsverbrechen.

Fernández schildert sie mit der Präzision einer archäologischen Grabung, ihr literarisches Schreiben ist Spurensicherung gegen das Vergessen.

Ausgangspunkt ist eine reale Enthüllungsstory, 1984 in dem chilenischen Magazin Cauce erschienen. Ein chilenischer Luftwaffenoffizier, Andrés Morales, packte damals unter klandestinen Umständen und Gefahr für sein eigenes Leben aus und gab zu, Oppositionelle wie den Gewerkschaftssekretär José Weibel widerrechtlich gefangengenommen, verschleppt und gefoltert zu haben.

Schicksale der Verschwundenen

Damit brachte er einen Stein ins Rollen, denn viele Angehörige „der Verschwundenen“, wie jene Menschen genannt wurden, die unter damals noch ungeklärten Umständen während der Pinochet-Diktatur entführt wurden, wussten nichts über das Schicksal der ihnen Nahestehenden, die etwa in Kalkminen hingerichtet wurden.

Nona Fernández Roman

Nona Fernández: „Twilight Zone“. Aus dem chilenischen Spanisch von Friederike von Criegern. Culture Books, Leipzig 2024, 238 Seiten, 24 Euro

Zehntausende Menschen sind in Chile zwischen 1973 und 1990 der Schreckensherrschaft von Diktator Augusto Pinochet und seiner Todesschwadronen zum Opfer gefallen. Die reale historische Aufarbeitung jener Gewalttaten und der Verwerfungen von 17 Diktaturjahren dauert bis heute an.

Sie beschäftigt die chilenische Politik und Justiz nachhaltig und hat auch in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Ersichtlich wird das an den Protesten rund um die geplante Verfassungsänderung, mit der Gesetze aus der Zeit der Diktatur rückgängig gemacht werden sollten.

Sich einen Reim auf Irrationales machen

Nona Fernández, geboren 1971 in Santiago de Chile, ist mit der Ungewissheit, der Angst und der Paranoia der Pinochet-Zeit bestens vertraut. Sie macht sich in „Twilight Zone“ einen Reim auf jene Ereignisse, für die sie sich aus einer rationalen, humanen Beobachterinnenperspektive eigentlich gar keinen Reim machen kann.

Der Herzenstakt ihres Romans ist die Verschränkung verschiedener Zeitebenen und seine poe­tische Form. Ihre Sprache beschönigt nichts, sie ist karg, sparsam, aber auch vorsichtig gemeißelt. Um Unsagbares in passende Worte zu fassen und das Grauenvolle überhaupt erzählbar machen zu können, nutzt Fernández die Repetition als Stilmittel.

„Ich stelle mir vor“, mit diesen Worten hebt die Ich-Erzählerin an, von der wir nicht den Namen erfahren – dafür wissen die Leser irgendwann, wie sie „Strudel aus Bildern“ konsumiert und wieder vergisst, weitere Bilder „aufspürt“ und „durchforstet“. Die Ich-Erzählerin versetzt sich oft in die Opfer, stellt sich deren Alltag im Detail vor.

Ein Folterknecht packt aus

Wieder und wieder: „Ich stelle mir vor.“ Geschildert werden so auch die Beweggründe eines Folterknechts, im Jahr 1984 auszupacken. Rekonstruiert werden seine Verbrechen, in die er im Jahrzehnt zuvor verwickelt war.

Diese Vorgänge, nach und nach um Details ergänzt, werden mit der Chronik einer chilenischen Jugend in den mittleren und späten 1980ern, vor allem der Übergangsphase von der Diktatur in die Demokratie (der transición) gespiegelt. Einer Umbruchzeit, als aus der Ungewissheit über die Schicksale der Verschwundenen allmählich Gewissheit über ihre Ermordung wurde und damit die Wut in der Gesellschaft und der anhaltende Protest gegen die Diktatur und die von vielen als zu zaghaft empfundene Demokratisierung zunahmen.

Fernández schreibt aus Sicht einer Journalistin und Dokumentarfilmregisseurin von heute, die ihren familiären Alltagstrott mit dem prekären Alltag von Familien in den 1970ern vergleicht, Familien, welche durch die Verfolgung in der Diktatur auseinandergerissen wurden. Wie sie Fakten ergänzt, dosiert, Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven darstellt, dabei Ereignisse wiederholt, ist atemberaubend zu lesen.

Gedenkorte ohne staatliche Unterstützung

Die Form, in die sie „Twilight Zone“ gegossen hat, mischt historische Fakten mit persönlichen Beobachtungen, Aussagen vor Gericht mit investigativer Recherche. Auch der Kampf um die einsetzende Erinnerungskultur ist ein Thema. In Chile müssen Gedenkorte an historischen Schauplätzen ohne staatliche Unterstützung auskommen.

Ablenkung, ja sogar Trost stiften US-amerikanische TV- und Poperzeugnisse der 1960er und 1970er Jahre, eingängige Popsongs von Billy Joel und Sci-Fi-Märchen aus dem Space-Age. Ohrwürmer, die nicht aus dem Gedächtnis weichen, genauso wenig wie Erinnerungen an die Diktatur.

Titelgebend ist eine TV-Serie, die in den späten 1960ern auch im westdeutschen Fernsehen lief und die Weiten des Weltraums mit den Spio­nagetätigkeiten des Kalten Krieges verquickte. Der Luftwaffenoffizier, der mit neuer Identität ausgestattet schließlich in Frankreich als Lkw-Fahrer arbeitet, erinnert die Autorin an Colonel Adam Cook, der in einer Folge von „Twilight Zone“ mit seiner Raumkapsel auf einem weit entfernten Planeten im Weltraum notlandet.

Diese vermeintliche Abschweifung trägt zur literarischen Vergegenwärtigung von Unrecht bei. Geschichtsbewältigung nimmt bei Fernández eine unpathetische und doch beherzte poetische Form an.

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