Den Nazis entkommen

Nils Klawitters Buch über das Leben einer jungen österreichischen Widerstandskämpferin gegen die Nazis in Frankreich

Von Klaus Hillenbrand

Der Untertitel ist schon mal eine Untertreibung. „Wie Melanie Berger den Nazis entkam“ steht auf dem Einband des Buchs von Nils Klawitter. Ja, wenn es nur das wäre! Tatsächlich ist Berger nicht nur „entkommen“, sie hat Widerstand geleistet, zuerst in ihrer Heimat Wien gegen den Austrofaschismus, dann in Frankreich gegen die Nazis und ihre Kollaborateure, hat Flugblätter produziert und verteilt, ist in den Knast gekommen, wo sie die Genossen in einer Wahnsinnsaktion befreit haben, hat untergetaucht überlebt, mit nichts zu essen und unter ständiger Gefahr. Und, halten Sie sich fest, sie ist heute 102 Jahre alt, und sie trug erst vor ein paar Monaten in Saint-Étienne das olympische Feuer.

Aber dieser Untertitel ist andererseits schon richtig. Denn Berger hat niemals groß mit ihrem Widerstand angegeben. Dabei war sie gleich dreifach verfolgt: als Tochter jüdischer Eltern und als Kommunistin ein Feind der Nazis, als Trotzkistin eine Gegnerin der Stalinisten.

Melanie Berger hat ihr Leben lang nicht einsehen wollen, warum Reiche reich sind und Arme arm. Das hat sie Anfang der 1930er Jahre in Wien zur Arbeiterbewegung gebracht. Das trieb sie bald danach zu den „Revolutionären Kommunisten“, einer kleinen trotzkistischen Gruppe, die von der Weltrevolution träumte.

Nils Klawitter hat sich eng an seine Prota­gonistin angeschmiegt und beschreibt ihr Leben in einem sagenhaften Tempo. Aber so schnell leben, lieben und entscheiden mussten damals die Nazigegner, die eine Chance zum Überleben haben wollten. Die Wiener „Revolutionären Kommunisten“ beschlossen nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland 1938, nach Frankreich zu gehen, dort, wo man noch halbwegs frei atmen konnte. Berger erreichte das Land illegal über Belgien, getarnt als Mann. Bald brach der Krieg aus.

Nils Kla­witter: „Die kleine Sache Widerstand. Wie Melanie Berger den Nazis entkam“. Czernin Verlag, Wien 2024,160 S., 22 Euro

Ihre Gruppe war klein, ihre Ideen größenwahnsinnig, die informellen Hierarchien deutlich. Berger tippte die Flugblätter, die andere, selbstverständlich Männer, schrieben. Einer von ihnen wurde ihr Freund. Die gerade einmal Zwanzigjährige führte ein Leben auf der Rasierklinge, bedroht von französischer Polizei, deutscher Gestapo und moskautreuen „Genossen“, die trotz ihrer eigenen Verfolgung glaubten, Trotzkisten seien ihre Todfeinde.

Nils Klawitters Buch bleibt eng an der Seite von Melanie Berger. Man kann sich heute nicht mehr annähernd vorstellen, wie es den jungen Widerstandskämpfern ging. Aber wenn man zumindest eine Ahnung davon bekommen möchte, dann greife man zu diesem Buch, das unter die Haut geht. Nur sein Titel „Die kleine Sache Widerstand“ ist schon wieder eine Untertreibung. Der Widerstand mag nicht gefruchtet haben. Aber er war ganz groß.