„Euthanasie“ und ihr Erbe: Späte Ehrung für die Opfer

Belangt wurden sie nie: In Hamburg-Rothenburgsort wird nun an die Kinder erinnert, die von Nazi-Ärzt:innen ermordet wurden.

eine ältere Frau mit kurzem weißen Haar liest von einem Blatt Papier eab, hinter ihr sitzt eine jüngere Frau mit dunklem Haar

Am Ort des Schattens: Hildegard Thevs (l.) und Oboistin Katharina Apel-Scholl Foto: Jessica Mintelowsky/Hamburgische Bürgerschaft

Hamburg taz | Durch den Lärm dringt eine Melodie, gespielt von einer einzelnen Oboe: „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“. Der Text des Liedes erzählt davon, dass Gott alle Kinder kenne und liebe, sei ihre Zahl noch so groß. Wer nah genug herangekommen ist an das sanierte Backsteingebäude, hört auch die Stimmen, die allmählich einsteigen, mitsummen, eher, als dass sie singen: Auf einem schmalen Stück Rasen und dem Gehweg haben sich Menschen versammelt, auch viele ältere; so viele, dass nicht alle sitzen können.

Hamburg-Rothenburgsort, das ist auf dem Stadtplan keine schlechte Lage, nicht weit vom Hauptbahnhof und der Hafencity. Im Zweiten Weltkrieg quasi ausgelöscht, danach maximal zweckdienlich wieder aufgebaut und heute sichtlich in Umwälzung: Zum Verkehrs- kommt hier an der Marckmannstraße noch reichlich Baulärm, rundherum wird saniert, nachverdichtet, auch Nachkriegs-Rotklinker abgerissen und ersetzt.

Das Hamburger Hygiene-Institut steht hier schon länger, als der „Hamburger Feuersturm“ zurückliegt, jene alliierten Bombenangriffe im Jahr 1943 – zumindest das Gebäude: Ein Kinderkrankenhaus war es zwischen 1898 und 1982. Ein Kinderkrankenhaus aber, hier im hafenarbeitergeprägten, armen Rothenburgsort, das klingt nach Umsicht, nach Fürsorge, nach Sorge um die Schwächsten.

Was kaum weiter entfernt sein könnte von dem Anlass, der an diesem Dienstagmittag die Oboistin Katharina Apel-Scholl hierhergeführt hat, die Summenden und dazu allerlei Ver­tre­te­r:in­nen des Bezirks Hamburg-Mitte, Hamburgs Gesundheitssenatorin und die Bürgerschaftspräsidentin: Ein Gedenkort war einzuweihen, Kindern gewidmet, die hier im „Dritten Reich“ gezielt ermordet wurden von hochrangigen deutschen Mediziner:innen.

Mindestens 126 Kinder ermordet

„Mindestens 126 Kinder“ seien hier, in der einstigen „Kinderfachabteilung“, zu Tode gekommen, so formulierte es im Juni 2021 ein gemeinsamer Antrag von SPD, CDU, FDP, Grünen und Linken in der Bezirksversammlung. Fraktionsübergreifend wurde darin ein „dauerhafter Lern- und Gedenkort“ gefordert; im Antragstext selbst ist dann präziser von Mord die Rede. Lange Jahre verhinderte die Eigentümerin des Objekts so ein Gedenken.

Es kursiert auch die Zahl 127: So viele Namen von Opfern habe Hildegard Thevs rekonstruieren können, war noch etwas früher in der Presse zu lesen; seit Jahrzehnten inzwischen engagiert sich die frühere Lehrerin für das Gedenken im Stadtteil. Die Zahl indes hat ihre Tücken: Jetzt warnte Thevs geradezu davor, sie einfach in Umlauf zu bringen – nicht bei allen ist klar, ob sie wirklich hier ermordet wurden.

2011 bereits wurden Stolpersteine vor dem Gebäude verlegt, für Inssas­s:in­nen sowie für Carl Stamm, den 1933 vertriebenen jüdischen Direktor. Die Leitung des Krankenhauses übernahm mit Wilhelm Bayer ein überzeugter Nationalsozialist. Nach dem Krieg, 1946, hatte er keine Bedenken, so zu reden: „Was das angebliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit anbelangt, so muss ich das deshalb ablehnen, da ein solches Verbrechen nur gegen Menschen begangen werden kann. Und die Lebewesen, die hier zur Behandlung standen, sind nicht als Menschen zu bezeichnen.“

In den Augen längst nicht nur Bayers, der nie belangt wurde, wird es eine noble Aufgabe gewesen sein, den Volkskörper zu entlasten von solchen hilfsbedürftigen „Lebewesen“: Behinderte, chronisch Kranke, manchmal wohl schlicht Kinder aus sozial randständigen Familien. Dass die, die in Rothenburgsort wirkten, später vielfach weiter praktizierten, manche davon in der jungen Bundesrepublik Karriere machten – auch daran erinnerten am Dienstag Redner:innen.

Redner ziehen Linien ins Heute

Hamburgs Ärztekammerpräsident Pedram Emami bekannte sich zu vergangener Schuld, zog aber auch am deutlichsten Parallelen zur Gegenwart in Gestalt der AfD, ohne die beim Namen zu nennen. Der Psychologe Michael Wunder, der die Erforschung der „Euthanasie“ in Hamburg wesentlich vorangebracht hat, erinnerte an manche heutige Sterbehilfe-Diskussion.

Schü­le­r:in­nen der Stadtteilschule Bergedorf verlasen die 127 Opfer-Namen – der Draht zu diesem nicht direkt benachbarten Hamburger Stadtteil ergibt sich über zwei Lehrer, einer ehemals dort tätig: Dirk Schattner hatte vor Jahren ein Musical über die Kindermorde konzipiert. Daraus trugen nun zwei ehemalige Bergedorfer Schü­le­r:in­nen ein Lied vor.

Bleibender als diese eindrucksvolle Form des Erinnerns ist, was nun vor dem Gebäude, hin zur trubeligen Marckmannstraße steht: Auf Stelen sind wiederum die sacht umstrittenen 127 Namen zu lesen, dazu hat der Künstler Wolfgang Wiedey stark abstrahiert eine Szene aus dem Krankenhausbetrieb nachgebildet: eine Frau in Schwesterntracht an einem Gitterbett für Kleinkinder. „Wo Schatten ist“, auch das sagte Thevs in ihrer Rede, „ist auch Licht. Dieses Licht werfen wir alle, die wir hier versammelt sind.“

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