Analyse der Wahlergebnisse seit 1994: Wie Deutschland nach rechts rückte
Ganz Deutschland ist in den letzten drei Jahrzehnten nach rechts gerückt, zeigt eine taz-Datenanalyse. Im Osten besonders drastisch.
I m Juni feierte die rechsradikale AfD in Mecklenburg-Vorpommern einen erneuten Erfolg: In Wilhelmsburg, einer beschaulichen Gemeinde am Rande der Ueckermünder Heide, gewann ihr Kandidat die Bürgermeisterwahl. In dem 720-Menschen-Ort gaben bei der Stichwahl 54 Prozent der Wähler*innen Peter Volker Weimer ihre Stimme. Landesweit erhielt die AfD bei den Kommunalwahlen mit 25,6 Prozent die meisten Stimmen – mehr sogar als die CDU. „Die Zeit der Brandmauern ist vorbei“, feierte Landeschef Leif Erik Holm.
Mit den zu befürchtenden Wahlerfolgen der Rechtsextremist*innen in Thüringen und Sachsen dürfte diese Vorstellung nun noch mehr in der Partei verankert werden. Es ist ein starker und schneller Aufstieg: Schon zehn Jahre nach ihrer Gründung kann die AfD regional größte Kraft werden und hat lokal vielerorts bereits die Mehrheit der Wähler*innen hinter sich.
Am Beispiel Wilhelmsburg wird exemplarisch sichtbar, was sich fast überall in der Bundesrepublik vollzogen hat, aber nicht gerne wahrgenommen wird: ein deutlicher Rechtsruck. Sichtbar wird auch, dass die AfD von der Vorarbeit anderer rechtsextremer Parteien profitiert: In Wilhelmsburg hatten 1998 noch knapp 10 Prozent der Wähler*innen für die Rechtsextremist*innen von DVU, Republikaner oder NPD gestimmt. Bei der Bundestagswahl 2021 machten 40 Prozent ihr Kreuz bei der AfD und 5,6 Prozent weitere bei der rechtsextremen Kleinpartei Die Basis und weitere 2 Prozent wählten die NPD. Insgesamt 47,5 Prozent.
In den vergangenen Monaten haben wir die Wahlergebnisse der Bundestagswahlen seit 1994 analysiert und berechnet, wie sich in den Gemeinden Deutschlands der Zweitstimmen-Anteil rechter Parteien über die Jahre verändert hat. Das Ergebnis: In fast allen der mehr als 10.000 Gemeinden ist der Stimmanteil rechter Parteien gestiegen, teilweise um über 50 Prozentpunkte – wo in den 1990er Jahren rechtsradikale Politik nur einen einstelligen Stimmenanteil bekam, war er bei den vergangenen zwei Wahlen oft schon mehrheitsfähig.
So erhielten rechte Parteien in Karlsdorf, Thüringen, 1998 noch 3 Prozent der Stimmen – inzwischen sind es 54 Prozent. In Groß Luckow, Mecklenburg-Vorpommern, stieg der Anteil von 7 auf fast 60 Prozent. Auch im Westen gibt es neue Hochburgen dort, wo rechte Wähler*innen früher rar waren: In Molbergen, Niedersachsen, und Augustdorf, Nordrhein-Westfalen, erhielten rechte Parteien 2021 etwa 20 Prozent der Stimmen. 1998 gab es in den Orten jeweils noch weniger als 1 und 3 Prozent rechte Wähler*innen.
Das Datenprojekt bietet einen zeitlich und regional differenzierten Überblick. Der Rechtsruck ist in Ostdeutschland viel ausgeprägter als in Westdeutschland. Im Westen gibt es zwar mehr rechte Wähler*innen, aber die Akzeptanz ist in der Gesellschaft etwas geringer. AfD-Bürgermeister sind in den tausenden Gemeinden Deutschlands noch Einzelfälle, dürften aber in den kommenden Jahren häufiger werden – wenn der Trend sich nicht umkehrt.
Die Daten legen für den Osten nahe, dass das rechtsradikale Wähler*innenpotenzial dort erst erschlossen werden musste: mit den Baseballschlägerjahren in den 1990er Jahren, dem Aufstieg der NPD in den 2000er Jahren und schließlich der Neuerfindung im neurechten Gewand in den 2010er Jahren. Im Westen wurden länger bestehende rechte Milieus reaktiviert.
Frühe Erfolge im Westen
Schon vor der Wiedervereinigung gewannen extrem rechte Politiker im Westen immer wieder Wähler*innenstimmen. In den 1960er Jahren war die NPD bereits in sieben Landtagen präsent, die Republikaner zogen 1989 ins Berliner Abgeordnetenhaus und ins Europaparlament ein und saßen schließlich von 1992 bis 2001 im Landtag von Baden-Württemberg. Die DVU zog kurz nach der Wende in die Bremer Bürger*innenschaft als auch in den Landtag von Schleswig-Holstein ein. In Hamburg konnte hingegen die extrem rechte Schill-Partei im Jahr 2000 gleich die Regierung mitbilden – dank einer CDU, die unbedingt die Macht der SPD brechen wollte.
Damals zeigte sich in Hamburg, wohin eine mangelnde Abgrenzung nach rechts führen konnte und offenbarte die Gefahr, wenn Politik und Medien die Themen der Rechten aufgreifen – gegen eine multikulturelle Gesellschaft und für eine scheinbar harte Law-and-Order-Politik. Dass rechte Bewegungen verharmlost werden und ihren Forderungen politisch sogar entgegengekommen wird, zieht sich als bundesweiter Trend durch die Jahrzehnte. Während – beispielsweise – Klimaaktivist*innen schnell zu „Terroristen“ abgestempelt werden, diskutieren Politik und Medien oft über Jahre hinweg, ob rechte Parteien wirklich „rechtsextrem“ sind und ob ihre Wähler*innen nicht einfach nur „Wutbürger“ oder „Protestwähler“.
Die Hochburgen der rechten Parteien im Westen sind heute oft Hochburgen für die AfD. In Großerlach, Baden-Württemberg, wählten 1998 noch mehr als 11 Prozent der Menschen eine rechte Partei, 2021 waren mehr als 25 Prozent. Im hessischen Freiensteinau erreichten rechte Parteien bei der Bundestagswahl 1998 schon mal 10 Prozent, 2021 waren es mehr als 20 Prozent. In Pfeffelbach, Rheinland-Pfalz, wählten 16 Prozent der Wähler*innen 1998 rechts, 2021 waren es fast 30 Prozent. Im bayerischen Oberrieden wählten 9 Prozent rechte Parteien, 2021 waren es mehr als 25 Prozent. In Langenlehsten, Schleswig-Holstein, wählten 1998 mehr als 8 Prozent rechts, 2021 waren es fast 17 Prozent.
Rechte Gewalt im Ost-Alltag
In Ostdeutschland vermochten es rechte Parteien dagegen noch nicht, direkt nach der Wende Stimmen einzusammeln: Bei der Bundestagswahl 1994 gab es kaum Gemeinden, wo sie zusammen mehr als 5 Prozent der Stimmen erhielten. Doch das Potenzial gab es: Inzwischen wird die gewalttätige rechte Hegemonie in den Ost-Bundesländern als „Baseballschlägerjahre“ zusammengefasst. Einzelne besonders gewaltsame Ereignisse, wie die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda, wurden überregional wahrgenommen – für viele Menschen war aber auch der Alltag von rechter Gewalt durchsetzt, der linke oder unangepasste Jugendliche traf, aber auch Arme, Obdachlose und als nichtdeutsch wahrgenommene Einwohner*innen.
Dass rechte Stimmen im Osten inzwischen soweit normalisiert sind, dass die AfD – wie in Wilhelmsburg – eine Mehrheit sichern kann, führt der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch „Ungleich vereint“ auf eine „Verfestigung grundlegender kultureller und sozialen Formen“ zurück, die der AfD nützen. In der Wiedervereinigung seien die Ostdeutschen in die „Rolle des Sich-Einfügens, Unterordnens und Lernens“ verwiesen worden und wurden auch ökonomisch ausgegrenzt: Massenhafte Arbeitslosigkeit und berufliche Deklassierungen lösten nachhaltige Verletzungen aus.
Die „Pulverisierung“ der alten Gesellschaft führte zu einer ideellen Orientierungslosigkeit, die durch eine „Aufwallungen nationaler Gemeinschaftsgefühle“ ausgefüllt wurde, so Mau. Diese Effekte wirken generationsübergreifend nach. Hier – so könnte man subsumieren – wurde die Basis gelegt, die sich in den darauf folgenden Jahrzehnten voranschreitenden rechten Ressentiments in der Mitte der Gesellschaft weiter ausdehnen konnte. So weit, dass im rechten Wahlergebnis 2021 die Grenzen der ehemaligen DDR wieder deutlich erkennbar sind.
1998 gab es dann in Ostdeutschland bereits flächendeckend mehr als 5 Prozent für rechte Parteien. In diesen Jahren zog die DVU in die Landtage von Brandenburg und Sachsen-Anhalt ein und Anfang der 2000er Jahre schaffte auch die NPD in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern den Sprung in den Landtag.
Auch im Osten gibt es die damaligen Hochburgen wie Wilhelmsburg, die auch heute noch rechte Hochburgen sind. In Kaulsdorf, Thüringen, wählten bei der Bundestagswahl 1998 noch 8 Prozent der Menschen eine rechte Partei, 2021 waren es mehr als 41 Prozent. In Neusalza-Spremberg, Sachsen, gaben 1998 12 Prozent einer rechten Partei ihre Stimme, inzwischen sind es 46 Prozent. In Hirschfeld, Brandenburg, stieg der Anteil von 14 auf 51 Prozent und in Plötzkau, Sachsen-Anhalt, von 8 auf 34 Prozent.
Entscheidender Wendepunkt mit Sarrazin
Ende der 2000er Jahre flaute das Interesse an den rechten Parteien kurz ab. In Sachsen, wo die NPD 2006 zum zweiten Mal einzog, grenzten die demokratischen Parteien die Rechtsextremist*innen dezidiert aus und interne Konflikte führten dazu, dass die NPD-Fraktion deutlich schrumpfte. In Mecklenburg-Vorpommern belasteten die Parteiverbotsverfahren die NPD, die hier ebenfalls nach zwei Legislaturperioden rausgewählt wurde. Und so bildet die Bundestagswahl 2009 vielerorts ein Zwischentief für das rechte Wahlergebnis.
Doch schon ein Jahr später kam der entscheidende Wendepunkt für die Szene: Thilo Sarrazin veröffentlichte sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, das schon mehrere Jahre vor Gründung der AfD die neurechte Wende im rechtsextremen Milieu vorbereitete. Während die Neonazis der NPD noch relativ offen von Nationalsozialismus geschwärmt hatten, verankerte Sarrazin biologistische Positionen und eugenische Traditionen ohne direkten NS-Bezug breit in der deutschen Öffentlichkeit.
Dass er SPD-Mitglied war, verlieh seinen rechtsextremen Thesen ein 'neutrales’ Image. „Sarrazin war ein Rammbock“, sagte der rechtsextreme Verleger Götz Kubitschek in einem 2015 erschienenen Gesprächsband. Er sei „auf eine vorher nicht zu ahnende Weise durchgestoßen. Das war eine Resonanzbodenerweiterung für uns, Begriffe wurden ventiliert, die wir seit Jahren zuspitzen, aber nicht im Mindesten so durchstrecken können, wie Sarrazin das konnte.“
Von Anfang an von Rechtsextremismus durchsetzt
Als sich dann 2013 kurz vor der Bundestagswahl die „Alternative für Deutschland“ gründet, wählen fast überall in Deutschland mehr als 5 Prozent der Menschen rechte Parteien und die AfD verpasst nur knapp den Einzug in den Bundestag. Ihr Erfolg zeigt, dass rechtsextreme Wähler*innen sehr wohl verstanden, wer sich hier anbietet. Von Anfang an war die Partei von Rechtsextremismus und Rechtsextremist*innen durchsetzt. Björn Höcke, beispielsweise, trat bereits in den ersten Monaten bei. Ein Jahr später schaffte sie den Einzug in die Landtage von Thüringen, Sachsen und Brandenburg – in Sachsen und Thüringen wird sie mittlerweile vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft.
In den Folgejahren wächst auch im Westen die Verunsicherung durch die kurz aufeinander folgenden Krisen: von der Krise der Flüchtlingspolitik 2015 über die Krise durch die Covid-19-Pandemie und dem gestiegenen Handlungsdruck in der Klimakrise. 2017 steigt die Zustimmung für die AfD bei der Bundestagswahl auf über 12 Prozent und sinkt 2021 wieder leicht auf 10 Prozent. Unsere Wahlanalyse zeigt: Fast überall in Deutschland ist inzwischen die Zustimmung für rechte Parteien weit höher als in den 1990er Jahren. In Hessen erzielte die AfD bei der Landtagswahl 2023 mit über 18 Prozent eines ihrer besten Ergebnisse im Westen.
In Ost und West formiert sich eine Abwehr gegen eine vielfältige Gesellschaft und gegen die durch den Klimawandel notwendig werdende ökologische Transformation, getrieben von der Angst, den eigenen Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Daniel Mullis hebt im Buch „Der Aufstieg der Rechten“ hervor, dass solche Abstiegsängste desintegrierend wirken und sich zu „rechten Einstellungen“ entwickeln können – selbst wenn der Abstieg nicht erfolgt. In Thüringen und Sachsen ist aus der Abwehrhaltung inzwischen ein Machtanspruch geworden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen