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Keks-Hersteller Bahlsen in der NS-ZeitMehr Zwangsarbeiter als bekannt

Das Familienunternehmen hat seine Verstrickungen mit dem NS-Regime untersuchen lassen. Die Geschäfte zogen im Nationalsozialismus enorm an.

Hat sich endlich der Firmengeschichte in der NS-Zeit gestellt: Werner Michael Bahlsen, Chef des Familienunternehmens Bahlsen Foto: dpa

Hannover dpa | Fünf Jahre nach den empörenden Aussagen der Firmenerbin arbeitet eine Studie die Geschichte des Gebäckherstellers Bahlsen auf. Verena Bahlsen hatte viel Kritik auf sich und das Unternehmen gezogen, als sie 2019 behauptete, man habe Zwangsarbeiter bei Bahlsen während der NS-Zeit „gut behandelt“. Kurz danach hatte sie sich entschuldigt und von einem Fehler gesprochen. Doch der Name Bahlsen stand plötzlich nicht mehr nur für Leibniz-Keks und Pick-up-Riegel.

Die öffentlichen Diskussionen hätten dazu geführt, dass sich intensiv mit der Vergangenheit auseinandergesetzt wurde, teilte die Familie nun in einer Stellungnahme mit. „Viele Details aus der Unternehmensgeschichte waren uns nicht bekannt und die Wahrheit ist, dass wir auch nicht nachgefragt haben.“

Eine Studie der beauftragten Historiker Manfred Grieger und Hartmut Berghoff sollte folglich Antworten liefern. Entstanden ist ein 600 Seiten starkes Buch mit dem Titel „Die Geschichte des Hauses Bahlsen“, das sich mit den Jahren von 1911 bis 1974 beschäftigt.

Das Ergebnis der Untersuchung: Der Konzern unterstützte das Naziregime und profitierte vom System, insbesondere durch den Einsatz von Zwangsarbeitern. Bahlsen beschäftigte mehr Zwangsarbeiter als bislang bekannt. Die Geschäfte im Nationalsozialismus zogen gewaltig an.

Von 1940 bis 1945 haben nach Unternehmensangaben mehr als 800 ausländische Arbeitskräfte Zwangsarbeit für Bahlsen geleistet. Bahlsen zufolge handelte es sich zumeist um Frauen aus Polen und der Ukraine. Die Zwangsarbeiter in Deutschland unterlagen generell weitreichenden rassistisch motivierten Diskriminierungen, wie die Autoren ausführen. Polinnen und Polen mussten eine violett-gelbe P-Raute auf ihrer Kleidung tragen, die sie als rassistisch diskriminierte Personen erkennbar machte.

Archiv erstmals vollständig geöffnet

Auch bei Bahlsen mussten Zwangsarbeiter aus Polen das stigmatisierende P-Zeichen tragen, schrieben Grieger und Berghoff. Sie erhielten geringere Löhne, kleinere Lebensmittelrationen und eine schlechtere medizinische Versorgung. Der Studie zufolge waren sie in Baracken untergebracht und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Sozialer Kontakt zu Deutschen war ihnen verboten. Polnischen Männern, denen sexuelle Kontakte zu deutschen Frauen nachgewiesen wurden, drohte die Hinrichtung.

Die Wahrheit über die damaligen Ereignisse sei unbequem und schmerzhaft, teilte die Familie weiter mit. „Wir bedauern das Unrecht, das diesen Menschen bei Bahlsen geschehen ist, zutiefst. Auch bedauern wir, dass wir uns dieser schwierigen Wahrheit nicht früher gestellt haben.“

Das Unternehmensarchiv sei erstmals vollständig für wissenschaftliche Forschungen geöffnet worden. Bahlsen habe das Projekt großzügig finanziert, aber keine inhaltlichen Vorgaben auferlegt, schrieben die Autoren. Ein besonders enger Kontakt habe zu Werner M. Bahlsen und seiner Tochter Verena bestanden.

Jahrzehntelang habe das Unternehmen seine Erinnerung an Zwangsarbeit im eigenen Haus auf das Narrativ eines einvernehmlichen Miteinanders in schweren Zeiten reduziert. Heute bekenne man sich zu seiner Geschichte. „Es ist an uns, diese Erinnerung wachzuhalten und dafür zu sorgen, dass sich diese Geschichte des Nationalsozialismus nie wiederholt“, steht auf einer Erinnerungstafel im Foyer des Stammhauses.

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16 Kommentare

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  • Die objektive Wahrheit ist doch die nie stattgefundene Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland. Das sind doch alles nur Scheindebatten. Auch unser System verweigert sich konsequent des Angehens von Ursachen. Egal wo du hinblickst wirkt Adenauers Generalamnestie heute noch überall toxisch. Keiner übernimmt Verantwortung. Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein in diesem Falle würde doch bedeuten das die Bahlsen Familie das Unternehmen den Arbeitnehmern überträgt und das eigene Privatvermögen Demokratie stabilisierenden NGOs zu kommen lässt, sowie um danach bescheiden, aber die Sache geklärt von 1.500€ im Monat zu leben, aber mit reinem Gewissen. Seit dem Neuanfang Deutschlands nach 45 ist das Land eine einzige sich durchziehende Kette von Skandalen und Ungerechtigkeiten. Gelebte Verantwortungsübernahme war und ist auch in diesem Land eine Utopie. Und jetzt haben wir es bald wieder hinzu 1933 geschafft. Selbst der derzeitige Finanzminister blickt es nicht, ob seiner eigenen Interessen, dass sein aktueller Haushalt unsere Demokratie weiter destabilisiert. Woher ich das weiß? Hier: makronom.de/berlin...k-the-people-47012

  • Die objektive Wahrheit ist doch die nie stattgefundene Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland. Das sind doch alles nur Scheindebatten. Auch unser System verweigert sich konsequent des Angehens von Ursachen. Egal wo du hinblickst wirkt Adenauers Generalamnestie heute noch überall toxisch. Keiner übernimmt Verantwortung. Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein in diesem Falle würde doch bedeuten das die Bahlsen Familie das Unternehmen den Arbeitnehmern überträgt und das eigene Privatvermögen Demokratie stabilisierenden NGOs zu kommen lässt, sowie um danach bescheiden, aber die Sache geklärt von 1.500€ im Monat zu leben, aber mit reinem Gewissen. Seit dem Neuanfang Deutschlands nach 45 ist das Land eine einzige sich durchziehende Kette von Skandalen und Ungerechtigkeiten. Gelebte Verantwortungsübernahme war und ist auch in diesem Land eine Utopie. Und jetzt haben wir es bald wieder hinzu 1933 geschafft. Selbst der derzeitige Finanzminister blickt es nicht, ob seiner eigenen Interessen, dass sein aktueller Haushalt unsere Demokratie weiter destabilisiert. Woher ich das weiß? Hier: makronom.de/berlin...k-the-people-47012

  • Ich finde die Betonung im Artikel auf die Umstände wie Diskriminierung, schlechterer Bezahlung und sozialer Ausgrenzung (bis zu Hinrichtung) etwas schief. Ich meine allein schon die Zwangsarbeit, dass die Menschen gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, durch das Nazi-Regime und die davon profitierenden Firmen ausgebeutet zu werden, und dass noch unter tödlichen Arbeitsbedingungen. Klar kommt dann das andere noch obendrauf, aber mal krass gesagt, Ausschwitz wäre kein Stück besser, wenn es da drei warme Mahlzeiten am Tag gegeben hätte.

  • Bahlsens Betriebsgeschichte während des Nationalsozialismus ist leider die Regel und nicht die Ausnahme. Bertelsmann war für Propaganda Hitlers bester Mann, die Familie Quandt (Deutschlands reichste Familie) profitierte massiv von der Enteignung jüdischer Betriebe die ihnen überschrieben worden sind. Die Familie Oetker war in Himmlers Freundeskreis, Thyssen Krupp hat sich im Krieg eine goldene Nase verdient, Degussa wortwörtlich durch enteignet es Gold ebenfalls.



    Leider wird man in Deutschland bis heute sofort in die Kommunismusecke gerückt, Sammelklagen gegen Konzerne wie in den USA gibt es in Deutschland nicht (da hätten ehemalige Zwangsarbeiter und ihre Hinterbliebenen gute Chancen auf Schadensersatz)

  • In Deutschland wurde weder der billige Pelz je zurückgegeben, selten das plötzlich billige Haus, das billige Unternehmen; und auch Reparationen für die massivsten Kriegsschäden in Europa fanden kaum statt.



    Dafür können wir uns aber hervorragend selbst auf die Schulter klopfen (und die Griechen, denen wir immer noch u.a. ihr Zentralbankgold schulden, die sind angeblich gierig, verrät uns die Springerpresse)

    Die reichen Quandt-Klattens, die nicht wissen, mit welchen "Begleitern" sie ihre Dividenden noch durchbringen sollen: Erben eines NS-Opportunisten.



    Und und und.



    Gut, dass wir wenigstens jetzt so langsam einiges nachholen. Geschichtswissenschaft ist manchmal hilfreich: mehr davon!

  • Wie viel Entschädigung haben sie bisher gezahlt, außer ein lächerliches Sorry?

    • @Dude666:

      An wen denn bitte, die sind alle nicht mehr am Leben

      • @PartyChampignons:

        An die Hinterbliebenen vielleicht? Ehemalige Zwangsarbeiter und ihre Familien waren in ihren Heimatländern oft Diffamierungen ausgesetzt, da man ihnen vorwarf mit den Nazis unter einer Decke gesteckt zu haben nur weil sie gezwungen wurden für deutsche Nazibetriebe zu arbeiten.

  • Geschäfte mit den Nazis und Beschäftigung von Zwangsarbeiter sind ein beschämendes



    Thema, ein anderes kaum aufgearbeitet ist der Raubzug im Zug der sog. Arisierung,



    die Beseitigung jüdischer Gesellschafter oder jüdisch geführter Wettbewerbsfirmen.



    Federführend dabei die deutschen Großbanken, die den „Kuchen“ mitverteilten,



    dabei zogen Aufsichtsratsmitglieder/Firmeninhaber die Fäden. Ein Beispiel:



    Philipp Reemtsma, der nicht nur mit den Nazis, die er mit viel Geld geschmiert hatte,



    glänzende Geschäfte machte, sondern als AR der DB die Strippen bei der Arisierung



    auch zum Vorteil der eigenen Gesellschaft zog. Die Erben gelten in HH als großzügige



    Mäzene, die der 3. u. 4 Generation beschäftigen sich lieber mit Klimaproblemen, schweigen zu der skandalösen Firmenhistorie, dazu die Lügengeschichten über das



    Nicht gesundheitsschädliche Rauchen.

    • @Hubertus Behr:

      Hätten Sie mal den letzten Satz fortgelassen. Jan Philipp Reemtsma hat hierzulande die Beschäftigung mit der Vergangenheit so gefördert, wie andere es längst hätten machen müssen. Klimaaktivisten tun wenigstens heute das Richtige. Auch wenn es Ihnen vielleicht noch unbequem ist, dass sie das aussprechen, oder auch nicht.

      Beim Rest bin ich jedoch bei Ihnen. Ein viel zu wenig bearbeitetes Thema.

  • Und wie viel Belastung steckte bis in die 1970er in der Bahlsen-Belegschaft. Ich vermute, dass die PR& Marketingabteilung ihr Handwerk in den 1930er erlernte

    • @ABG76:

      Was veranlasst Sie denn zu dieser Vermutung?

  • Enteignen! „Schmerzhaft“ jaja, aber durch diese Zwangsarbeit haben die bis heute einen Vorteil!

    • @Loulou-Cakes:

      Welchen denn? Und wem gegenüber? Entweder schmeckt das Gebäck oder nicht. Da nützen heutzutage auch Zwangsarbeiter aus den 40er Jahren nichts mehr.

    • @Loulou-Cakes:

      Und dann ? In Staatsbesitz überführen ?

      Dann hätten wir wieder eine Planwirtschaft !

      • @flaviussilva:

        Das würde mich auch mal interessieren. Was bedeutet Enteignung? Der Staat übernimmt? Oder die Mitarbeiter? Eine Genossenschaft?