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Altern in einer jungen StadtIch bin gerne Boomerin

Alle wollen jugendlich bleiben und verfallen dabei manchmal ins Kindliche. Unsere Kolumnistin hat die Kindheit lange zurückgelassen.

Ich bin Boomerin – dieses Statement hat so was Unvernünftiges, Jugendliches Foto: imago

I ch muss sagen, ich bin gerne Boomerin. Das Wort hört sich schön an, nach „La Boum – die Fete“ oder „Boomer, der Streuner“, viel besser als „Millennial“ oder „Gen Z“. Ab und zu versucht mal einer den lahmen „Okay Boomer“-Witz anzubringen – who cares!

Ich bin Boomerin – dieses Statement hat so was Unvernünftiges, Jugendliches. Klingt viel schöner als Silver Ager, Best Ager, Golden Ager oder gar Seniorin. Es klingt jünger und jünger wollen ja alle klingen, nicht nur die Boomerinnen.

Keiner will älter oder alt werden, das liegt angeblich an der Stadt. Einer der vielen Vorwürfe an Berlin lautet, dass hier niemand erwachsen werden wolle und erst recht nicht alt. Ganz Berlin leide am Peter-Pan-Syndrom und gleiche einem runtergekommenen Neverland, so die Berlinkritiker.

In Berlin-Neverland trage man gerne Kapuzenpullis, Cargohosen, Jeans und Turnschuhe, man kleide sich weniger schick und bürgerlich, hier sehe man 40-plus-Leute noch BMX fahren, skaten, Plattenkisten auf Flohmärkten durchwühlen, in Clubs und auf Konzerten abhängen. Ich würde dem zustimmen, aber auf 60-plus erweitern.

Peter-Pan-Syndrom in Berlin

Diese städtische Freiheit, jung und anders zu bleiben, hat natürlich für die Boomerin auch Schattenseiten. Überall sieht sie hinter den Glasfronten der Co-Working-Spaces und Start-ups ­bärtige Werbedeppen, die an ­Kaffeemaschinen rum­slacken und beim Tischfußball in der Brain­stormingpause rumbrüllen wie ­Vierzehnjährige. Oder ist das auch schon wieder vorbei? Als Boomerin kommt man da manchmal nicht hinterher.

Das Peter-Pan-Syndrom zeigt sich ja in jeder Dekade mit neuen Trends. Um die Jahrtausendwende konnte man in den In-Bezirken einen geschlechterübergreifenden Kindheitsretrotrend beobachten: Rollerfahren, Zöpfchen flechten, Schürzchen tragen, sticken. Interessanterweise spielten die damals Dreißigjährigen nicht ihre eigene, sondern eher eine Sechziger- oder Siebziger-Jahre-Kindheit nach.

In Restaurants bekam man handgeschriebene Zettelchen oder Schulhefte statt Speisekarten vorgelegt. Etwa 2010 übernahm man auch kulinarisch den Kindheitstrend. Es wurden vermehrt bunte, weiche Kuchen angeboten. Das Leben sollte ein einziger Kindergeburtstag sein. Zur Beschreibung dieses Phänomens wurde das schöne Wort „cupcakification“ erfunden.

Auf lieblich-woke Art altern

Weil alle kindlich-jugendlich sein wollten, mussten die echt jungen Leute bis zum Säuglingsalter zurückgehen: Sie bildeten eine Vorliebe für Brei und Flüssignahrung aus. Überall gab es plötzlich pürierte Suppen und Smoothies.

Und nun wird die ewige Kindheit auch sprachlich manifestiert. Erwachsene Menschen sprechen und schreiben wie Fünfjährige, sagen zum Beispiel „mein Papa und meine Mama“. Gestandene Musiker und Musikerinnen teilen in den sozialen Medien mit, sie „dürfen ein Konzert spielen“ sie „dürfen auf der Bühne stehen“, als habe es ihnen ihre „Mama“ und ihr „Papa“ erlaubt.

Die Boomerin hingegen hat die Kindheit lange zurückgelassen, wundert sich über Zeiterscheinungen, ­versucht dabei nicht allzu pessimistisch und grantig, sondern ganz boomeresk auf lieblich-woke Art älter zu werden.

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9 Kommentare

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  • Danke,



    ja, es ist ein guter Ansatz, nicht allzu grantig werden zu wollen, denn Gründe gäbe es ja genug!



    Ich bin ganz froh, die Jugend hinter mir gelassen zu haben, sonst wären ich jetzt in einer Altersgruppe, die in Mehrheit "afd" und CDU wählt - was wählen Die denn, wenn sie alt sind?



    Ach, ja nicht aufregen... die Gelassenheit im Alter will noch nicht so ganz eintreten, ist vielleicht eine Frage des Alters, dann hoffe ich mal auf nächstes Jahr...



    Mein Kindheitsbild vom Altern sind Boule spielende Männer im Schatten der Platanen. Neben der notwendigen Coolness fand ich auch den ernstzunehmenden Chic der



    Teilnehmer überzeugend: weder Bermuda noch



    " Funktionskleidung" trübten hier das Bild.



    In einem Hörspiel erklärte jüngst eine



    Seniorenermittlerin: " Wir Alten erkennen und ja noch an der Schrift", auch ein schöner Gedanke!

  • „ – who cares!" ?

  • Äh, bin ich pedantisch, wenn ich drauf hinweise, dass jemand, der zur Jahrtausendwende 30 war durchaus eine 70er Jahre Kindheit verbracht haben könnte?



    Aber davon ab, bin ich durchaus dafür, dass homo ludens sich durch so etwas unwichtiges wie eine Jahreszahl nicht vom Spielen abhalten lassen darf.

  • Nach diesem amüsant geschriebenen Artikel, habe ich mich pudelwohl gefühlt! Boomer zusein, ist eine super tolle Sache. Ich bereue nichts!

  • Habe sehr gelacht, danke dafür. Ist wichtig in der aktuellen Nachrichtenlage.



    Aber so unter uns BoomerInnen: Was heißt rumslacken?

    • @aujau:

      Liggers. Bin ja “noch bei Adolf“ helfe aber gern



      “auf der Slackline* balancieren



      "sie haben den ganzen Morgen im Park geslackt"



      *Slack·line



      /ˈslɛkla͜in/



      Substantiv, feminin [die]



      als Spiel- und Sportgerät dienender, zwischen zwei Befestigungspunkten fixierter Spanngurt zum Balancieren**



      &



      nachgeben, abflauen, nachlassen, erschlaffen

      ** wennste Pech hast - wie unlängst im Grüngürtel in Kölle - reißte die Widerlager aus dem Fundament! Help

      • @Lowandorder:

        Danke für die Info. Doofes totes Addilein konnte also die Aktualisierung Ihrer Wahrnehmung von Slangwörtern nicht verhindern.



        Allerdings erschlaffe ich eher nicht, wenn ich mir einen Kaffee nach der guten alten Art mit Filtertüte brühe. Da ist die Jugend mit ihren Kaffeemaschinen wohl am abschlaffen. Putzen müssen sie das Ding trotzdem selber.

  • Künstlich infantiles Benehmen ist für jedes Erwachsenenalter unpassend. Aber warum soll man mit 60 nicht Tischfußball spielen oder auf Konzerte gehen?



    Generell sollte man aufhören, von "Boomern" zu reden. Man hat den Begriff und die angeblich damit verbundenen Eigenschaften aus Amerika übernommen, wo er aber eine andere Generation bezeichnet als bei uns. (Man vergleiche Wikipedia: dt. 1955-1970, engl. 1946-1964.)



    Übrigens: In meiner Familie sprach die Generation meiner Großväter (geb. um 1900) von "Papa" und "Mama"; wir (geb. in den 60ern) sagten und sagen "Mutter" und "Vater".

  • YMMD, danke für diesen Beitrag, der manchem "OK-Boomer"-Spruchklopfer einen schönen Spiegel vorhält.