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Chilenisches Theater in WeimarEs ist nicht notwendig, zu träumen

Das Theaterstück „Vaca“ von Guillermo Calderón feiert seine Premiere auf dem Kunstfest Weimar. Es entwirft das dystopische Bild moderner Sklaverei.

Wer die Welt verändern will, braucht keine Utopie, meint Regisseur Calderón. Von links: Camila Brito, Francisca Lewin, Luis Cerda Foto: Kunstfest Weimar, Candy Welz

In der Redoute, einer Spielstätte, die zu DDR-Zeiten das Kulturhaus der sowjetischen Offiziere beherbergte, zeigte das Kunstfest Weimar etwas abseits von seinem historischen Stadtzentrum „Vaca“ (Kuh), eine Inszenierung des chilenischen Theaterautors und -regisseurs Guillermo Calderón. Es handelt sich um eine der jüngsten Produktionen des chilenischen Theaterfestivals Teatro a Mil, deren Leiterin Carmen Romero am 28. August in Weimar mit der Goethe Medaille ausgezeichnet wird.

Im Theaterfoyer der Redoute erinnert nur noch das überlebensgroße Glasmosaikporträt von Wladimir I. Lenin an die frühere Nutzung des Gebäudes aus den 1970er Jahren.

In dem modernen Theatersaal ist das Bühnenbild für „Vaca“ mit wenigen Elementen hergestellt: Drei Sessel, ein paar Mikrofone, Bodenscheinwerfer. In der Mitte liegt ein großer unförmiger Körper versteckt unter einer Plane.

Im Hintergrund projizierte Zwischentitel umreißen zum Auftakt knapp die Ausgangssituation der Inszenierung. Darin wird Fresia von Aurora überredet, in ihrem Innenhof ein paar Tage lang eine Kuh zu verstecken. Doch dann taucht die Bekannte wochenlang nicht mehr auf. Schon bald ist die junge Frau mit dem Tier überfordert. Die Kuh wird auf drastische Weise krank. Patty und Osvaldo, Mopedkuriere wie sie selbst, kommen Fresia zu Hilfe. Gemeinsam suchen die drei nach einer Lösung für das sieche Tier und ihre prekäre finanzielle Situation. Doch mit jeder Aktion und jeder neuen Komplizenschaft geraten sie tiefer in einen absurden Strudel von Abhängigkeit und Gewalt. Hatten sie jemals eine Perspektive?

Eine urbane Parabel

In einem Gespräch im Anschluss an die Weimarer Premiere ergänzt Guillermo Calderón zu den Protagonisten seines Stücks: „Ich arbeite viel mit jungen Menschen, gebe Kurse an der Universität. Sie sind nicht an der Zukunft interessiert, weil sie sich die nicht vorstellen können. Die Zukunft ist nur eine Wiederholung des Hier und Jetzt. Es gibt keine Möglichkeit der Veränderung. Es geht also darum, die Idee zu etablieren, dass es nicht notwendig ist, zu träumen oder Hoffnung zu haben, um weiter an Veränderungen zu arbeiten.“

Auf der Bühne schlüpfen die Schau­spie­le­r*In­nen Camila Brito, Francisca Lewin und Luis Cerda mit wenigen Handgriffen in weitere Rollen – die einer Veterinärin, eines Metzgers, eines Kardiologen oder einer Forensikerin. Das Mikrofon in der Hand entwickeln sie ihr Spiel im Gespräch oder Monolog, aus dem Hinterhof der Mopedkuriere oder als Nachrichtensprecher in einem Fernsehsender. In seiner Inszenierung verdichtet der Regisseur Calderón die verschiedenen Ebenen seiner urbanen Parabel mit Texteinblendungen und Sound zu einem dystopischen Gesellschaftsporträt.

Guillermo Calderón, 1971 in Santiago de Chile geboren, arbeitet als Dramatiker, Drehbuchautor und Regisseur. Das Trauma der Diktatur und die staatliche Repression der Postdiktatur gehören zu den zentralen Themen seiner zahlreichen Theaterstücke. Mit „Villa“, einem Stück über das berüchtigte Folterzentrum Villa Grimaldi, wurde Calderón erstmals 2012 auf die Wiener Festwochen eingeladen. 2016 zeigte das Berliner HAU seine Inszenierung von „Mateluna“ über Jorge Mateluna, ein ehemaliges Mitglied der chilenischen Guerilla Frente Patriótico Manuel Rodriguez. Im vergangenen Jahr inszenierte Calderón „Bavaria“ am Residenztheater in München. International bekannt wurde der Theatermann nicht zuletzt durch seine Drehbücher für die Spielfime „El Club“ (2015), „Neruda“ (2017) und „El Conde“ (2023) des chilenischen Regisseurs Pablo Larrain.

Es erscheint naheliegend, dass die wiederkehrende Erfahrung eines nicht grundlegenden politischen Wandels in Chile und besonders die herbe Enttäuschung über die Ablehnung des progressiven Verfassungsentwurfs im September 2022 die Entstehung von „Vaca“ beeinflusst haben, einem Drama, das keine Hoffnung verbreiten möchte.

„Denn wenn wir auf Hoffnung, Optimismus oder irgendeine Art von Inspiration warten, wird sie nie kommen. Die einzige Möglichkeit, mit dem Problem umzugehen, ist also, es ohne Hoffnung anzugehen“, begründet Calderon auf Nachfrage seine Perspektive.

Trotzdem versteht es der chilenische Regisseur, der sein Theater als ein politisches versteht, die Inszenierung durch eigenwillige Metaphern und weitreichende Bezüge vor einer allzu naheliegenden Abbildung der Verhältnisse zu bewahren. Er verleiht ihr dadurch eine allgemeingültigere Bedeutung weit über die Grenzen Lateinamerikas hinaus.

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