Schwere Unruhen in Großbritannien: Rechtsextreme machen mobil

In vielen britischen Städten kommt es zu Krawallen gegen Migranten und Muslime. Die Regierung erwägt hartes Durchgreifen.

Ein Mann mit einem auf das Gesicht gemalten Union Jack bei einem Protest

Rechtsextreme protestieren in über britischen Städten, hier in Leeds am Samstag Foto: Hollie Adams / reuters

LONDON taz | Noch vor wenigen Wochen glaubten so manche in Großbritannien, das Problem des Rechtsextremismus sei eines von EU-Staaten, gegen dass man im Vereinigten Königreich immun sei. Doch die Unruhen seit dem Mord an drei Mädchen in der nordwestenglischen Stadt Southport am vergangenen Montag lassen dies anders aussehen. Nicht nur wegen der gewalttätigen Ausschreitungen in Southport am Dienstag, und danach in Hartlepool und Manchester, sondern wegen der Mobilisierung Rechtsextremer im ganzen Land danach.

Am Wochenende gingen Rechtsextreme im unzähligen englischen Städten auf die Straßen: Sunderland, Stoke-on-Trent, Blackburn, Bolton. Leeds, Hull, Bristol, Newcastle, Liverpool, Preston, Portsmouth Blackpool, Nottingham, vom Süden bis zum Norden und vom Westen bis zum Osten Englands. Sogar im nordirischen Belfast, wo pro-irische katholische und pro-britische protestantische Rechte gemeinsam gegen Migration auf die Straße gingen.

In über 30 Städten wurde gegrölt und geschrien, wurden Fahrzeuge in Brand gesetzt, Flaschen und Feuerwehrkörper geworfen, Läden zerstört und leergeräumt und Menschen verprügelt. Die Randalierer waren oftmals vermummt und hüllten sich in die rot-weiße englische Flagge – sie denken, sie handeln im Namen Englands.

In Sunderland wurde eine Polizeiwache in Brand gesetzt, und es sollen einige sogar versucht haben, uralte Grabsteine aus dem Friedhof der Kathedrale zu reißen, um sie als Wurfmunition zu benutzen.

Gewaltaufrufe verbreiteten sich schnell über Social Media

In Hull und in Aldershot waren die Ziele der Meute Hotels, in denen Asylsuchende untergebracht sind. In Stoke-on-Trent war es eine Moschee. Einige Szenen wurden von den wütenden Mobs live gestreamt. Ihre Opfer waren neben Polizeibeamten auch Menschen mit dunkler Hautfarbe. An verschiedenen Orten gab es immerhin antirassistische Gegenproteste. So nahmen Aktivisten in Bristol ein Flüchtlingshotel in Schutz, in Liverpool stellten sich die einen den anderen gegenüber und fauchten sich gegenseitig an.

Manchmal waren es nur ein paar Dutzend Personen, anderorts mehrere Hunderte, oft von andernorts in die Gegend gereist. Einer der meistgehörten Sprüche dabei war: „We want our country back“, – wir wollen unser Land zurückhaben, eine bekannte Parole aus den Zeiten des Brexit-Referendums 2016. Diesmal richtet er sich nicht gegen die EU, sondern als Schlachtruf gegen Muslime und Asylsuchende, manchmal gemeinsam mit „England, bis ich sterbe!“ Den Spruch begleiteten manche mit dem Hitlergruß, nicht gerade die patriotische englische Art.

Die Parolen und Gewaltaufrufe verbreiteten sich mithilfe von TikTok, X und Telegram, auch über „Channel 3 Nows“, ein bisher kaum bekannter Kanal, der AI-bearbeitete Nachrichten über die USA und das Vereinigte Königreich in den sozialen Medien verbreitet, darunter Fake News zu dem Attentäter von der Messerattacke am Montag. So wurde der Attentäter – ein 17-jähriger, dessen Eltern als Flüchtlinge aus Ruanda kamen und der in Großbritannien geboren wurde – frei erfunden als muslimischer Bootsflüchtling bezeichnet. Dies verbreitete laut einer Recherche der Times die Mitte 50-Jahre alte Leiterin einer Bekleidungsfirma, die in einer Millionärsvilla auf dem Land wohnt und mit einem Künstler verheiratet ist. Früher machte sie sich als Aktivistin gegen Impfungen während der Covid-19-Pandemie einen Namen. Es sind also nicht nur Mobs mit Bierflaschen, die hier mitzumischen scheinen.

Ebenfalls aus dem Hintergrund in den sozialen Medien agiert Tommy Robinson, ein altbekannter Aktivist der britischen rechtsextremen Szene und Mitgründer der rechtsextremen English Defence League. Er hat erst vor einer Woche in London eine rechtsextreme Demonstration angeführt. Aufgrund eines Filmes, den er zeigte, in dem er falsche Angaben zu einem syrischen Flüchtling machte, der als Teenager Opfer eines rassistischen Angriffs war, hätte er am vergangenen Montag vor Gericht erscheinen sollen, aber stattdessen floh Robinson ins Ausland, von wo aus er weiter postete.

Opposition nutzt die Krise

Die neue britische Labour-Innenministerin Yvette Cooper konnte mit ihren Worten, dass dieses rüpelhafte Benehmen der Gewalt und Unruhen, wie sie es nannte, keinen Platz auf den Straßen hätten, nicht sofort für Ruhe sorgen. Der Krisenstab der Regierung traf sich am Samstag, um weitere Maßnahmen zu besprechen. Dazu gehört eine Aufstockung der in Bereitschaft stehenden Staatsanwälte, Tag und Nacht arbeitender Sondergerichte und mehr Unterbringungsmöglichkeiten in britischen Strafanstalten. 4.000 zusätzliche Si­cher­heits­be­am­t:in­nen wurden inzwischen in den Bereitschaftsdienst gestellt.

Dutzende Personen wurden bereits am Freitag und Samstag von der Polizei festgenommen. Die harten Maßnahmen erinnern an die Aufstände im zahlreichen britischen Städten im Sommer 2011 nach einem tödlichen Polizeischuss im Londoner Stadtteil Tottenham, als erstmals Gerichte rund um die Uhr Plünderer und Randalierer in Schnellverfahren zu teils harten Haftstrafen verurteilten. Das war ein Härtetest für die damals neue konservative Regierung – aber der britische Generalstaatsanwalt, der die Verfahren vor Gericht verantwortete, hieß damals Keir Starmer und ist heute der Labour-Premierminister.

Die konservative Opposition nutzt die Krise zur Profilierung. Labour habe seinerzeit gegen Verschärfungen der Polizeibefugnisse gestimmt, sagte Ex-Innenminister James Cleverly, dessen Familie aus Sierra Leone stammt. Die nigerianischstämmige Kemi Badenoch, die sich ebenso wie Cleverly um die Nachfolge Rishi Sunaks an der konservativen Parteispitze bewirft, ließ sich über Integrationsprobleme von Ein­wan­de­re­r:­in­nen aus. Der ehemalige Migrationsminister Robert Jenrick, ebenfalls Kandidat um Sunaks Nachfolge, veröffentlichte ein Wahlkampfvideo mit einem afghanischen Flüchtling, der im Januar mit Säure eine Frau schwer verletzt hatte, sich dabei selber verätzte und danach Suizid mit einem Sprung in die Themse beging. So als stünde er für alle Flüchtlinge.

Geradezu bestätigt fühlt sich die rechtspopulistische Partei „Reform UK“ von Nigel Farage. Labour sei selbst schuld, lautet dessen Botschaft. Reform UK erinnerte daran, dass die heutige Labour-Finanzministerin Rachel Reeves 2016 Aufstände vorhergesagt habe für den Fall, dass die Einwanderung nach Großbritannien nicht gebremst werde. Im rechten TV-Sender GB News sagt der Gewerkschafter Paul Embery, dass zwar einige der Übeltäter rechtsextrem seien, aber es sich vor allem um eine Rebellion der Arbeiterklasse handele.

Die Botschaft der Rechtspopulisten: Hier ist sie also, die Revolte, von der Nigel Farage vor der Wahl vom 4. Juli sprach. Aber eines kann niemand mehr im Vereinigten Königreich tun: Mit dem Finger auf Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Ungarn oder Italien zeigen und behaupten, dass Rechtsextremismus bloß ein Problem jener auf der anderen Seite des Ärmelkanals sei. Manches verbindet Europa eben doch noch. Und das, während schwarze Ath­le­t:in­nen gerade für „Team GB“ in Paris Medaillen ernten und sich in den Union Jack hüllen.

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