Fotografische Träume

Menschen, die sorglos in den Tag hinein leben und doch im krassen Missverhältnis zu unserer Welt stehen: Das C/O Berlin zeigt eine erste Einzelausstellung von US-Fotograf Tyler Mitchell in Deutschland

Spiele, die zum Verhängnis werden können: „Wish This Was Real“, 2015 Foto: Tyler Mitchell

Von Martin Mettin

Manche Fotografien zeigen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern wie sie sein könnte. Eine Sphäre des Möglichen, dargestellt mit nichts als Wirklichkeitsfragmenten. Diesen Geist der Utopie atmen Tyler Mitchells Foto- und Videoarbeiten, die derzeit in seiner ersten Einzelausstellung in Deutschland unter dem Titel „Wish This Was Real“ in der C/O Berlin Foundation zu sehen sind.

Mitchells Werke, bekannt durch seinen Bildband „I Can Make You Feel Good“ (2020), zeigen auf den ersten Blick Wunschlandschaften von träumerischer Schönheit. Bewohnt sind diese Szenerien von Menschen, die sorglos in den Tag hinein leben. Ein Idyll unter freiem Himmel, das Utopia als nirgendwo eindeutig lokalisierbaren Sehnsuchtsort und zugleich als allgemeine, überall mögliche Gegend vorstellt. Diese Bilder kommen ohne politisches Programm aus, ohne belehrenden Gestus. Und doch stehen sie, hoch politisch, im krassen Missverhältnis zu unserer Welt.

Auf den zweiten Blick erst, oder bei der Lektüre der Begleittexte, fällt ins Auge, dass in den Werken ausschließlich Schwarze Menschen oder People of Color abgebildet sind und dass ihnen bisweilen die Luft zum Atmen genommen wird. In der titelgebenden Videoarbeit („Whish This Was Real“, 2015) spielen einige Jugendliche mit Wasserpistolen. Die weichen Stoffe ihrer Wollpullis und der rosa-blaue Hintergrund wirken wie eine queere Hip-Hop-Szene, der man gerne zuschauen möchte. Liest man die Erklärung dazu, fällt ein düsterer Schatten über die vermeintliche Sorglosigkeit: Das Video verweist auf den 12-jährigen Tamir Rice, der, mit einer Airsoftpistole hantierend, von einem Polizisten erschossen wurde.

Trotz der Schwere, die Themen wie Rassismus und Polizeigewalt, soziale Ausgrenzung und Anpassungsdruck bereiten und die Mitchells Arbeiten durchziehen, kreiert dieser Künstler eine Welt von be­eindruckender Leichtigkeit. Mitchell spricht von einem Optimismus seiner Bilder – allerdings ein Optimismus, der einen Schlag in die Magengrube bedeutet. So wirft sein Bildwerk Fragen auf: Wie könnte eine Welt aussehen, in der alle Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe oder Herkunft, ihrer Identitäten oder angeblicher Leistungen, glücklich sein können? Ein Universalismus, in dem Abweichungen, Andersartigkeit und Versponnenheiten nicht durchgestrichen werden? Mitchells Bilder geben keine theoretische Antwort und sind deshalb auch kein Beitrag zur hitzigen Debatte über Identitätspolitik, sondern eine leise, flüchtige Vorahnung, wie sich ein solcher Zustand anfühlen könnte.

Da sind drei Kids, die mit Skateboard und Einkaufswagen durch ein etwas heruntergekommenes Stadtquartier preschen („Motherlan Skating“, 2019) – kein sportlicher Wettstreit, sondern zielloses Spiel, das mit der unaufdringlich wuchernden Vegetation harmoniert. Da sind die schönen Hände einer älteren Frau, mit Goldringen besetzt und stolz ein kleines Familienfoto der Kinder oder Enkel präsentierend („The Root Of All That Lives, 2020). Da sind zwei menschliche Silhouetten in liebevoller Pose, durch ein blaues Laken auf einer Wäscheleine im Abendlicht durchscheinend („Blue Laundry, 2019). Menschlichkeit wird hier nicht sonntagsredenhaft beschworen. Vielmehr ist ein humaner Zustand spürbar in den Bildern, gerade weil sie so unscheinbar und flüchtig daherkommen, fluide wie die omnipräsenten Textilien in den Arbeiten. Manche sind sogar auf Seiden- oder Baumwollstoffe gedruckt und kulissenhaft drapiert.

Das Material passt zum Künstler. Mitchell reüssierte auch als Mode- und Starfotograf, unter anderem lichtete er Beyon­cé für die Vogue ab. Ein wenig wirkt seine Kunst tatsächlich wie Reklame. Zwei junge Männer in schicken Anzügen („Topanga II“, 2017) würden ein gutes Plakat für einen angesagten Herrenausstatter abgeben. Doch Mitchells Werke sind listiger, als es scheinen mag. Sie zeigen nämlich nicht einfach einen Abklatsch der Werbeindustrie, sondern weichen auf vielfältige und doch nicht immer leicht zu identifizierende Weise von bloßer Werbung ab. Die Gesten der Modelle sind zarter, manche auch unverschämter. Das gezeigte Glück bleibt im Ungefähren und undefinierbar, Produkte verkaufen lassen sich damit nicht, zumal die Bilder auf keine zu erwerbenden Waren verweisen. Dieser Ausbruchsversuch aus der Werbung mit ihren eigenen Mitteln führt in ein anarchisches Niemandsland zwischen Kunst und Kitsch, zwischen sogenannter Hoch- und Alltagskultur. Als New Black Vanguard wird dieser Stil bezeichnet.

Besonders beeindruckend ist das Bild einer jungen Dame in schillerndem Gewand („Ugbad in Flower Bush“, 2018). Ihre Augen sind bedeckt wie die der Justitia, allerdings mit Blumen, nicht von einer Binde verschnürt. Kulturgeschichtlich ist es eine späte Idee, dass es ausgerechnet in der Rechtsprechung gerechter zuginge, wenn beim Urteil (oft Verurteilung) die Person und ihre Umstände nicht angesehen werden, wo doch sonst allenthalben die Umstände das Schicksal einer Person bestimmen. In Ansehung individueller Gegebenheiten, abgesehen aber von eigenen oder allgemeinen Ressentiments Urteile zu fällen: Wäre nicht dies die erstrebenswerte Form gerechter Rechtsprechung? Unter den gegebenen Umständen jedenfalls zementiert abstrakte Gleichheit die reale Ungleichheit. „Die Binde über den Augen der Justitia bedeutet nicht bloß, daß ins Recht nicht eingegriffen werden soll, sondern daß es nicht aus Freiheit stammt“, wie es in der „Dia­lektik der Aufklärung“ heißt. Das Modell auf Mitchells Bild wirkt indes wie eine vielfarbige Raupe, deren Metamorphose zum Schmetterling sich bereits andeutet. Vielleicht hat sie die Augen und Ohren verschlossen, weil sie dieser warnenden Sinnesorgane nicht mehr bedarf. Eingewoben in einen Kokon kann sie Träumen nachsinnen von einer besseren, gerechteren, glücklicheren Welt.

Der Optimismus von Mitchells Bildern ist einer, der einen Schlag in die Magengrube bedeutet

Erinnern mögen Mitchells Arbeiten an jenen berühmten Traum, den Martin Luther King im August 1963 am Lincoln Memorial in Washington, D. C., verkündete, der in seiner Verwirklichung jedoch jäh steckenblieb. Solange der Traum nicht Wirklichkeit geworden ist, wird er weiter geträumt, etwa als Amanda Gorman 2021 zur Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris ihr Poem „The Hill We Climb“ rezitierte.

Mitchell zeigt uns ähnliche Träume. Das aber sind keine bloßen Fantastereien. Vielmehr decken sie im erfahrbaren Wirklichen das Mögliche auf. Eine kritische Fantasie als „freischwebende, doch welttreue Utopie eigener Art“, wie Ernst Bloch es von Kunst als einer Ästhetik des Vor-Scheins sagte. Tyler ­Mitchells Bilder halten diese Utopie lebendig, wie ein Echo aus einer unbestimmten, ortlosen Zukunft, gebrochen an der vielfältig zerklüfteten Zeit zwischen Traum und Wirklichkeit.

„Tyler Mitchell. Wish This Was Real“: C/O Berlin Foundation, bis 5. September 2024