Spezielle Olympia-Ereignisse: Große Randgeschichten

Eine Geste auf dem Podium der Turnerinnen oder ein angeblich zu dicker Handballkeeper. Viele Olympia-Momente gehen in der Fülle der Ereignisse unter.

Simone Biles (l.) und Jordan Chiles (r.) gehen vor der brasilianischen Siegerin Rebeca Andrade im Bodenturnen in die Knie Foto: Abbie Parr/ap

Es ist eines der Bilder dieser Spiele. Die Brasilianerin Rebeca Andrade lässt sich gerade als Goldmedaillengewinnerin im Bodenturnen feiern, da gehen die Zweit- und die Drittplatzierte des Wettbewerbs zu einer nie dagewesen Huldigungsgeste in die Knie.

Die US-Amerikanerin Jordan Chiles und ihre Landsfrau Simone Biles bekommen viel Lob dafür und zu vielleicht wenig Beachtung für den Teil der Begründung für ihre Geste, der über den Respekt für die Gegnerin hinausgeht. Es sei das erste Mal gewesen, dass drei Schwarze Frauen im Turnen auf dem Podium standen, sagt Simone Biles nach dem letzten Wettbewerb im Kunstturnen bei diesen Spielen.

In der Arena Paris Bercy sind immer dann, wenn Simone Biles antritt, besonders viele Fans aus den USA. Sie wollen ihr Idol begleiten auf dem Weg in die Geschichtsbücher des Turnsports als beste aller Zeiten, als GOAT, ­Greatest of all Time. Nach gewonnen elf ­Olympiamedaillen, darunter sieben aus Gold, fühlt sie sich sichtlich wohl in der Rolle als US-Superstar der Spiele und badet im Applaus ihrer Landsleute in der Halle, unter denen auffällig viele junge Schwarze Frauen sind.

Turnen ist wirklich nicht mehr nur weiß. Dem nachzugehen, wäre gewiss spannend. Doch kaum tut sich bei diesen Spielen ein Thema auf, schon geschieht etwas ebenso Berichtenswertes. Bisweilen ­direkt nebenan – so wie an diesem Tag.

Während sich die Medaillengewinnerinnen nach der Siegerinnenzeremonie für die Bodenturnerinnen auf den Weg in die fällige Pressekonferenz machen, steht die 18-jährige Ana Barbosu bei den wenigen Journalistinnen, die sich nicht nur für Simone Biles interessieren. Sie hat Tränen in den Augen. Ihr war gerade der größte Moment ihres Lebens gestohlen worden.

Als die Noten für Jordan Chiles’ Vortrag am Boden angezeigt werden, scheint festzustehen, dass die Rumänin Bronze bekommt. Sie greift sich die Fahne ihres Landes, geht auf die Matte und jubelt. Plötzlich verschwindet ihr Name wieder aus den Top drei.

Bemerkenswertes Geschichtsbewusstsein

Einem Protest des US-Teams war stattgegeben worden. Das hatte bemängelt, dass der Schwierigkeitsgrad der Bodenübung von Jordan Chiles zu niedrig eingeschätzt worden war. Nachdem der nach oben korrigiert war, ist ­plötzlich die US-Amerikanerin auf Platz drei.

„Ich weiß, dass ich stolz auf mich sein kann“, sagt Barbosu in bestem Englisch und versucht ihre Tränen wegzulächeln. Nein, so etwas sei ihr noch nie passiert, sagt sie und erzählt, dass sie die Fahne am Morgen einfach mal eingesteckt hat. „Man kann ja nie wissen.“ Und dann schien sie tatsächlich Dritte geworden zu sein.

Mit einem für diese Situation bemerkenswerten Geschichtsbewusstsein spricht sie davon, wie wichtig eine Medaille für die rumänische Turnschule in der Tradition von Nadia Comaneci doch gewesen wäre. Und jetzt das. Nichts.

Später sollte sich jene Nadia Comaneci auch noch zu dem Fall äußern. Die mittlerweile 62-Jährige hatte die ganze Welt in Bann gezogen, als sie im Alter von 14 Jahren bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal besser und schöner geturnt hatte, als je eine Frau vor ihr.

Seit der Eröffnungsfeier ist sie in Paris präsent und kann sich darauf verlassen, dass die Menschen förmlich in die Knie gehen, wenn sie auftaucht. Den Protest der US-Trainerin Cecile Landi, der Ana Barbosu die Freude stahl, bezeichnet sie als Angriff auf die psychische Gesundheit.

Mental Health, das ist eines der Lebensthemen von Simone Biles. Bei allen Auftritten thematisiert sie es. Auch in Paris spricht sie darüber. Und jetzt kommt Nadia Comaneci, deren kindlicher Körper in den 70er Jahren zum Ruhme des rumänischen Turnsports mit aller nur denkbaren Gewalt klein und mager gehalten wurde, und wirft dem US-Team vor, einen Angriff auf die Psyche von Ana Barbosu gefahren zu haben.

Geschundene Körper

Diese Geschichte genauer auszuleuchten, auch dazu bleibt im olympischen Ereigniswahnsinn, bei dem sich ein Wettbewerb an den anderen reiht, keine Zeit. Dabei hat es die in sich. Nachdem Comanecis Trainer Béla Károlyi in die USA emigriert war, führte er das US-Frauenteam mit seinen Methoden an die Spitze der Welt.

Das Trainingszentrum in Texas, in dem über Jahre Turnerinnen misshandelt wurden, trug lange seinen Namen. Simone Biles hat sich irgendwann geweigert, dort zu trainieren. Was für eine Geschichte! Doch OIympia lässt zu wenig Raum, um von geschundenen Körpern zu erzählen.

Einen solchen scheint Mohamed Aly nicht zu haben. Der Torhüter der ägyptischen Handballauswahl sieht wahrlich nicht aus wie ein Modellathlet. Er sieht überhaupt nicht aus wie ein Sportler. Eine respektable Wampe trägt er auf die Platte. Dementsprechend höhnisch reagiert das Publikum beim Vorrundenspiel Frankreichs gegen Ägypten, als die Spieler vorgestellt werden. Schnell lacht niemand mehr. Aly bringt mit seinen Paraden Frankreich schier zur Verzweiflung. Zehn Paraden zeigt er allein in der ersten Hälfte.

Und wäre Frankreich nicht der Ausgleich in allerletzter Sekunde gelungen, hätten sie sich womöglich früh aus dem Turnier verabschiedet und die Sportwelt würde über einen Weltklassetorhüter sprechen, der so aussieht, als hätte er noch nie ein Fitnessstudio betreten. So ist das eben. Viele Geschichten und Biographien werden nicht erzählt, weil ihre Protagonisten früh ausscheiden, hinterherlaufen, es nicht aufs Podest schaffen.

Zypriotische Russin

„Sie ist eine Russin“, meint eine ukrainische Journalistin und zeigt auf die für Zypern startende Hochspringerin Elena Kulitschenko, die gerade durch die Mixed Zone schleicht. Hätte sie in den Kampf um Medaillen gegen Weltrekordlerin Jaroslawa Mahutschich eingreifen können, wäre ihre Story gewiss ganz groß geworden.

Als es für russischen Leichtathletinnen unmöglich wurde, international zu starten, konnte sie plötzlich eine zypriotische Staatsbürgerschaft präsentieren. Ihr Vater, der in Zypern Immobiliengeschäfte macht, wird sie ihr besorgt haben.

Wer in dem Inselstaat genug investiert, hat das Recht, eine Staatsbürgerschaft zu erwerben. Doch da ist noch eine Geschichte. Wer die Hochspringerin unbedingt nackt sehen will und dafür etwas Geld zahlen möchte, kann ihren Kanal bei der Erotikplattform „Only Fans“ abonnieren.

Als Bilder Kulitschenkos aus diesem Kanal im frei zugänglichen Netz gelandet sind, beschuldigte sie die ukrainische Weltrekordlerin Jaroslaw Mahutschich dahinterzustehen und witterte eine Verschwörung des Westens, um sie als Russin zu diffamieren.

Darüber ließe sich gewiss intensiv mit den Managern des ukrainischen Hauses diskutieren, das neben der Partyzone für die französischen Fans und den olympischen Pavillons, in denen sich unter anderem Südafrika, die Niederlande, Serbien, Mexiko oder Kolumbien vorstellen, im Parc de la Valette eine temporäre Heimat gefunden hat. Im Park ist es laut. Jede Nation liefert einen eigenen Sound zu dieser Party.

Nur im ukrainischen Haus ist es ruhig. Wer rein will, muss sich registrieren lassen – aus Sicherheitsgründen. „Russland ist ein mächtiges Land, das überall seine Leute hat“, sagt Roman Bebech, einer der Manager des Hauses dazu. Jeden Tag werden ukrainische Spitzensportler auf der Bühne präsentiert. Einmal ist Oleh Wernjajew da, der Turner, der in Rio de Janeiro Gold am Barren gewonnen hat. Er stammt aus Donezk, wohin er schon lange nicht mehr kann.

Partystimmung, die verfliegt

Er erzählt von russischen Turnern, die er seit Jahren kennt, mit denen er oft vor Wettkämpfen die Umkleide geteilt hat. Sie würden ihn kontaktieren, um ihn davon zu überzeugen, dass nicht stimmt, was er in seiner Heimat selbst gesehen hat. Sind sie Opfer der Propaganda oder überzeigte Kriegsunterstützer? „Beides“, sagt Wernjajew. „Z-Sportler“ nennt er seine ehemaligen Konkurrenten, die zu Feinden geworden sind.

Die Partystimmung, die in den Arenen von professionellen Gute-Laune-DJs angeheizt wird, verfliegt schnell, wenn der Krieg zum Thema bei den Spielen wird. Nur ein paar Leute finden den Weg ins ukrainische Haus. Mit dem Krieg will sich nicht wirklich jemand beschäftigen.

Nicht viel anders ist das beim Thema Doping. Da gab es zwar mächtiges Unbehagen, als der chinesische Schwimmer Pan Zhanle nach 100 Metern Freistil in neuer Weltrekordzeit angeschlagen hat. Aber weder der Skandal um positive getestete Schwimmer aus China noch der Umgang der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada damit, die der chinesischen Verteidigungslinie folgten, wonach die Ursache der positiven Tests in einer verseuchten Hotelküche lag, sorgten für größere Aufregung.

Nein, das Thema Doping sollte die heiteren Festspiele nicht stören. Das Straßenrennen der Radlerinnen durfte sogar Jeannie Longo starten. Die Frau, die lange als unschlagbar galt, hat ihre lange Karriere schnell beendet, nachdem bekannt wurde, dass ihr Mann 2007 das Dopingmittel Epo gekauft hatte.

Verkauft hat es ihm Joe Papp, ein ehemaliger Radprofi. Der hat sich via X gemeldet und sich gefragt, wie es sein kann, dass ausgerechnet Longo bei den Spielen zur Vorzeigefrau werden kann. Sonst hat sich das kaum jemand gefragt. Der Radsport, der noch bis vor kurzem übel beleumundet war, hat jedenfalls einen unverkrampften Umgang mit seiner verseuchten Vergangenheit.

Doch längst sind die Straßenrennen beendet und die Vorbereitungen für die Schlussfeier laufen. Die gilt es dann mindestens ebenso intensiv zu begutachten wie die Eröffnungsfeier. Doch auch von all den Geschichten, die sie liefert, werden wohl nur die wenigsten erzählt.

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