Mörder gegenJournalisten

Beim größten Gefangenenaustausch seit dem Kalten Krieg kamen über 20 Menschen frei. Unter ihnen sind Oppositionelle, ein Auftragskiller und ein Tourist mit Cannabis im Gepäck

Der freigelassene Journalist Evan Gershkovich umarmt seine Mutter Foto: Manuel Balce Ceneta/ap

Ilja Jaschin

Ilja Jaschin während einer Anhörung vor Gericht Foto: Yury Kochetkov/epa pool via ap

Ein erstes Foto nach seiner Freilassung postete der russische Oppositionspolitiker am frühen Freitagmorgen auf seinem Telegram-Kanal. „Ich werde bald alles erzählen. In der Zwischenzeit vielen Dank an alle, die sich Sorgen gemacht haben. Ich umarme Euch alle“, schreibt Jaschin. Er ist seit 2000 politisch aktiv, war damals Vorsitzender des Jugendflügels der liberalen Partei Jabloko. Später wurde er Kommunalpolitiker für die „Bewegung Solidarnost“. Unter dem Motto „Russland ohne Putin“ stand er 2012 gemeinsam mit dem drei Jahre später ermordeten Politiker Boris Nemzow und Kremlkritiker Alexei Nawalny an der Spitze von wochenlangen Straßenprotesten gegen die manipulierten Parlamentswahlen von 2011. Obwohl der Druck größer und eine Festname immer wahrscheinlicher wurde, blieb Jaschin in Russland.

Am 9. Dezember 2022 wurde er von einem Moskauer Gericht wegen Verbreitung von „Falschnachrichten“ über die Armee zu achteinhalb Jahren Straflager verurteilt. Er hatte einen Stream über das Massaker russischer Truppen an Zi­vi­lis­t*in­nen im Kyjiwer Vorort Butscha im Frühjahr 2022 in Umlauf gebracht. Auch eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet rund 350 Euro wurde Jaschin, der zum „ausländischen Agent“ erklärt wurde, auferlegt. Sein Vergehen: Er hatte ein Foto aus dem Jahr 1969 von Protesten gegen den Krieg in Vietnam veröffentlicht. „Für den Frieden zu bomben ist, als würde man um der Jungfräulichkeit willen ficken. 50 Jahre sind vergangen, aber diese Slogans sind immer noch relevant“, hatte er darunter geschrieben. Ende Dezember 2023 gab er der Wochenzeitung Sobesednik ein Interview. Er werde einem Gefangenenaustausch nicht zustimmen, sagt er darin. Ob er seine Meinung geändert hat, ist nicht überliefert. Barbara Oertel

Wadim Krassikow

Der Tiergarten-Mörder Wadim Krassikow

Tiergarten-Mörder Wadim Krassikow bei seiner Ankunft in Russland Foto: Mikhail Voskresensky/imago

Als Wadim Krassikow in Moskau als erster die Treppe vom Flugzeug zum Rollfeld hinuntergeht, wartet unten Russlands Präsident Wladimir Putin. Dieser reicht Krassikow erst die Hand, dann umarmt er ihn. Krassikow, der sogenannte Tiergarten-Mörder, ist ein Profikiller, der im Auftrag Russlands getötet hat. Und der Mann, um den es Putin bei dem Austausch vor allem ging.

Krassikow, ein Mann mit Glatze und Kinnbart, ist 58 Jahre alt und Offizier des russischen Geheimdiensts FSB, er soll Mitglied einer kleinen Eliteeinheit gewesen sein, die auf Oppositionelle im Ausland angesetzt war. Am 23. Februar 2019 hat er zur Mittagszeit im Kleinen Tiergarten in Berlin einen Georgier tschetschenischer Abstammung ermordet, der in Deutschland Schutz gesucht hatte.

Krassikow war mit dem Fahrrad gekommen, hatte zweimal von hinten geschossen und als sein Opfer am Boden lag, noch einmal auf den Kopf. Weil Zeugen die Polizei riefen, wurde er noch auf der Flucht festgenommen. In der Datenbank von Interpol fanden Ermittler einen russischen Haftbefehl wegen eines ähnlichen Mordes in St. Petersburg gegen Krassikow, der gelöscht worden war.

Ende 2021 verurteilte ihn das Berliner Kammergericht zu lebenslanger Haft und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Das schließt eine vorzeitige Entlassung eigentlich aus.

Um Krassikow freizukriegen, hatte Putin Geiseln genommen und ein großes Erpressungspotenzial angehäuft. In der Bundesregierung allerdings war der Austausch umstritten, Außenministerin Annalena Baerbock soll starke Zweifel geäußert haben, auch der General­bundesanwalt war dagegen. Erst nach langen Abwägungen und einer direkten Anfrage von US-Präsident Joe Biden an Bundeskanzler Olaf Scholz soll dieser das Go gegeben haben. Justizminister Marco Buschmann wies den Generalbundesanwalt entsprechend an. Krassikow durfte fliegen. Sabine am Orde

Patrick Schöbel

Patrick Schöbel wurde wegen THC-Gummibärchen verhaftet Foto: Anton Vaganov/reuters

Die Suche nach einer neuen Partnerin wurde ihm zum Verhängnis. Mitten im Krieg gegen die Ukraine hatte der 38-jährige Hamburger Patrick Schöbel im Internet eine Frau kennengelernt. Am 16. Januar 2024 war er nach St. Petersburg gereist, um sie zum ersten Mal zu treffen. Doch dazu kam es nicht. Bei seiner Ankunft wurde Schöbel festgenommen, weil man eine kleine, abgegriffene Tüte Gummibärchen mit einem Marihuanablatt darauf gefunden hatte. „Fink Green Goldbears“ können in Deutschland legal erworben werden. In Russland wird Schmuggel und Besitz von Cannabis mit bis zu sieben Jahren Haft geahndet. Auf Bodycam-Aufnahmen von seiner Festnahme kann man hören, wie er die Fragen der Grenzkontrolle mit „das ist verdammtes Weingummi“ beantwortete. Die Süßigkeiten habe er schon ein Jahr zuvor gekauft, um sie „für einen erholsamen Schlaf“ auf langen Flügen zu essen.

„Geruch stechend, Gewicht 19,35 Gramm“, notierte der Zollbeamte zu den sechs Gummitieren. Ein Schnelltest bestätigte, dass sie den Cannabis-Bestandteil THC enthielten. In St. Petersburg stand Schöbel vor dem Bezirksgericht. Kurz nach der Festnahme warnte das Auswärtige Amt auf Instagram in Bezug auf den Fall vor Reisen nach Russland. Die diplomatischen Möglichkeiten seien hier begrenzt. „Anders als in Hollywood-Filmen können wir Euch nicht einfach irgendwo aus dem Gefängnis holen. Russland ist derzeit nicht das beste Reiseziel für ein erstes Date mit dem Online-Flirt.“ Gaby Coldewey

Anna Dulzewa und Artjom Dulzew

Anna Dulzewa und Artjom Dulzew kommen mit ihren Kindern in Russland an.

Die Agenten Artjom Dulzew und Anna Dulzewa kommen gemeinsam mit ihren Kindern in Russland an Foto: ITAR-TASS/imago

Der 1. August 2024 wird gewiss bald als Thriller verfilmt. Aus dem Stoff dieser Agentenfamilie kann man eine ganze Serie drehen, wie in der US-Produktion „The Americans“, in der ein KGB-Paar mit seinen beiden Kindern in den USA lebt und dort agiert (aka mordet). Dulzew und Dulzewa lebten in Slowenien unter den Decknamen Ludwig Gisch und María Mayer Muños. Das Wall Street Journal schildert ihre Jahre in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana als scheinbar gewöhnliches Vorstadtleben. Das Paar sprach mit seinen beiden Kindern (von der taz verpixelt) Spanisch und schickte sie auf die British International School. Artjom Dulzew ist aber offenkundig ein Offizier des russischen Auslandsgeheimdienstes SVR aus Baschkortostan, Anna Dulzewa, eine SVR-Offizierin aus Nischni Nowgorod. Von Slowenien aus hatten die beiden einen Zugang zur EU und koordinierten andere russische Agen­t:in­nen in Europa. Als sie Ende 2022 verhaftet wurden, fand man in einem Geheimfach im Kühlschrank Hunderttausende Euro. Ihre Kinder wurden nach der Verhaftung bei Pflegeeltern untergebracht. Gemeinsam flogen sie jetzt nach Russland. Barbara Junge

Die Liste der Ausgetauschten

Von Russland und ­Belarus freigelassen

Evan Gershkovich: Der Journalist des Wall Street Journal wurde im Juli zu 16 Jahren in einer Strafkolonie verurteilt. Er war 2023 als vermeintlicher CIA-Spion festgenommen worden.

Paul Whelan: Der Ex-US-Marineinfanterist wurde 2020 in Russland wegen Spionage zu 16 Jahren Haft verurteilt.

Alsu Kurmasheva: Im Juli wurde die Journalistin wegen „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“ zu 6,5 Jahren Gefängnis verurteilt.

Wladimir Kara-Mursa: Der Oppositionspolitiker wurde im April wegen Staatsverrats zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er engagierte sich für freie Wahlen in Russland und überlebte Giftanschläge.

Andrej Piwowarow: Er leitete die regierungskritische Gruppe „Offenes Russland“. Sie wurde 2021 zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. Piwowarow wurde zu 4 Jahren Haft verurteilt.

Oleg Orlow: Der Menschenrechtsaktivist wurde im Februar zu 2,5 Jahren Haft verurteilt. Er war Co-Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die 2022 den Friedensnobelpreis bekam.

Alexandra „Sascha“ Skotschilenko: Die Künstlerin hatte in einem Supermarkt Preisschilder gegen Anti-Kriegs-Parolen ausgetauscht. Sie wurde zu 7 Jahren Haft verurteilt.

Xenia Fadejewa, Lilja Tschanyschewa und Wadim Ostanin: Die Mit­ar­bei­te­r:in­nen des Oppositionspolitikers Andrei Nawalny, der im Februar im Straflager ums Leben kam, wurden zu mindestens je 9 Jahren Haft verurteilt.

Kevin Lick: Der 19-jährige Deutsch-Russe wurde 2023 wegen Landesverrats zu 4 Jahren Haft verurteilt.

Rico Krieger: Der Deutsche war in Belarus zum Tode verurteilt worden. Er soll Sprengstoff an einem Gleis abgelegt haben.

Demuri Woronin: Der Deutsch-Russe wurde 2023 wegen Hochverrats zu 13 Jahren Haft verurteilt.

German Moyzhes: Der Deutsch-Russe wurde im Mai in St. Petersburg wegen Landesverrats festgenommen.

Vom Westen freigelassen

Pawel Rubzow/Pablo González: Der spanisch-russische Journalist war 2022 in Polen festgenommen worden. Ihm wurde Spionage für Putin vorgeworfen.

Roman Selesnew: Der Russe wurde 2017 in Seattle (USA) wegen eines Hackerangriffs auf mehr als 500 Unternehmen zu 27 Jahren Haft verurteilt.

Wladislaw Kljuschin: Der IT-Unternehmer war in Boston (USA) wegen Cyberbetrugs zu 9 Jahren Haft verurteilt worden. Er gilt als Kenner der russischen Desinformationskampagnen.

Wadim Konoschtschenok: Er wurde 2022 in Estland festgenommen, weil er unter Umgehung von Sanktionen für militärische Zwecke nutzbare Technik aus den USA über die EU nach Russland geschmuggelt haben soll.

Michail Mikuschin: Der Russe soll Offizier des Militärgeheimdienstes sein. Er wurde 2022 in Norwegen festgenommen, wo er sich als brasilianischer Forscher ausgegeben hatte. Gereon Asmuth