Vietdeutsche Popkultur in Berlin: Die Geschichten selbst erzählen
Das Dong-Xuan-Center lud zum ersten Festival für vietdeutsche Popkultur. Mit „Sống ở Berlin“ feierte es auch sein zwanzigjähriges Jubiläum.
Als sie vor zwölf Jahren nach Berlin gekommen sei, erzählt die Singer-Songwriterin Another Nguyen auf der Bühne des ersten Festivals für vietdeutsche Popkultur „Sống ở Berlin“, hätte sie noch gar keine Vietdeutschen gekannt. „Ich bin in Sachsen aufgewachsen: Wir waren die einzige vietnamesische Familie im Ort.“ Damals habe sie mit Vietnam nichts zu tun haben wollen und versucht, „so Deutsch wie möglich zu sein“.
Diese doppelte Nicht-Zugehörigkeit habe sich einsam angefühlt. Umso schöner sei es deshalb, heute Teil eines Festivals zu sein, das das Aufwachsen in zwei Kulturen feiere – ebenso wie seine vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen.
Angesichts einer wiedererstarkenden Rechten in vielen europäischen Ländern wirkt „Sống ở Berlin“ („Leben in Berlin“) wie das richtige Festival, zur rechten Zeit am rechten Ort: Die viertägige Feier zum inklusiven Preis von zehn Euro, findet nämlich auf dem Gelände des „Dong-Xuan-Centers“ statt – der asiatische Großmarkt in Lichtenberg ist die wichtigste Anlaufstelle für die vietnamesische Community in Berlin.
1994 vom ehemaligen Vertragsarbeiter Nguyen Van Hien gegründet, feiert dieses „Hanoi im Herzen Berlins“ am Festivalwochenende sein zwanzigjähriges Jubiläum. Zu diesem Anlass spendiert Gründer Nguyen Van Hien am Samstag allen Festival-Besucher:innen Speis und Trank und Drachentanz.
Selbstständigkeit als Alternative
Grund zum Feiern hat er: Was auf dem stillgelegten, kontaminierten Gelände des ehemaligen DDR-Betriebes „VEB Elektrokohle“ begann, hat heute mit einer Fläche von 170.000 Quadratmetern die Größe von 24 Fußballfeldern. Wie viele Vietnames:innen war Nguyen Van Hien mit dem Ende der DDR arbeitslos geworden.
Die Selbstständigkeit war für die ungelernten Arbeitskräfte der einfachste Weg, sich in Deutschland, aller Schwierigkeiten zum Trotz, eine Existenz aufbauen. So wurden viele Vietnames:innen zu Kleinhändler:innen und Nguyen von Hien gründete 1996 in Leipzig den ersten asiatischen Großmarkt.
Der war beliebt, wuchs und zog nach Berlin: Zuerst in die Josef-Orlopp-Straße und schließlich, aus Platzgründen, in die heutigen Hallen der Hertzbergstraße, wo etwa zweitausend Menschen arbeiten. Auch Another Nguyen arbeitete schon auf dem Gelände des Dong-Xuan-Centers: Als Sozialarbeiterin hat sie vietnamesische Familien beraten.
Aufwachsen mit zwei Kulturen
Am Eröffnungsabend stimmt sie in ihrem Song „Motherland“ jedoch eine Versöhnung mit ihrer persönlichen Geschichte an: „And learn a language that I couldn’t speak/ Find a treasure I couldn’t see“. Sie habe nämlich, erzählt Ngoc Anh Nguyen, die ihren generischen Nachnamen – Ngyuen ist der am weitesten verbreitete vietnamesische Nachname – zu ihrem Markenzeichen gemacht hat, erst mit zwanzig Vietnamesisch gelernt, nachdem sie ein Jahr in Vietnam gelebt habe: „Da habe ich gemerkt, wie viele Vorurteile und Selbsthass ich in mir hatte. Und was für ein Schatz es ist, mit zwei Kulturen aufzuwachsen.“
„Ein selbstbewusster Teil dieser Gesellschaft sein“ – dazu lädt auch die Journalistin und Moderatorin der Eröffnungsgala Vanessa Vu ein, die in ihrem Podcast „Rice and Shine“ ebenfalls vietdeutsche Perspektiven aufzeigt. Das Festival sei „ein Weg aus der Unsichtbarkeit“, die Vietnames:innen, ebenso wie das Klischee der unermüdlichen Arbeit und grenzenlosen Freundlichkeit verfolge.
Rapperin Nashi 44 oder Comedienne Mai My hingegen seien, ebenso wie die in Vietnam verehrte Rapperin Suboi, beispielgebend darin, selbstbewusst und kreativ den eigenen Weg zu gehen.
Filmworkshop mit Duc Ngo Ngoc
Auch Regisseur Duc Ngo Ngoc ermuntert vietdeutsche Jugendliche in seinem Filmworkshop „Dreh’s Um“ ihre Geschichten selbst zu erzählen, statt immerzu nur als Randfiguren erzählt zu werden.
Zwei auf diese Weise entstandene Dokumentarfilme – „Alles gehört zu dir“ sowie der in Vietnam gedrehte „Zuhause ist dort, wo die Sternfrüchte sauer sind“ – laufen am letzten Festivalabend in einem von Duc Ngo Ngoc kuratierten bilingualen Kurzfilmprogramm.
Auch in den eigenen Werken des 1988 in Hanoi geborenen und mit fünf Jahren nach Berlin gekommen Regisseurs tauchen immer wieder biografische Bezüge auf: Den fiktionalisierten Dokumentarfilm „Obst und Gemüse“ hat er beispielsweise im Laden seiner Eltern gedreht.
Machtmissbrauch deutscher Behörden
Noch sehr jung erlebte Duc Ngo Ngoc als Übersetzer seines Vaters auch einen Machtmissbrauch deutscher Behörden auf dem Gesundheitsamt, der bei vielen Anwesenden Tränen auslöst: Als Vietnames:innen der ersten Generation erlebten sie oft dieselben Demütigungen, als Vietdeutsche der zweiten Generation identifzieren sie sich mit dem hilflosen Schmerz des Sohnes.
„Erlittenen Schmerz zu teilen“, glaubt Duc Ngo Ngoc, der die Episode für die ARD-Serie „Made in Germany“ schrieb und inszenierte, eine Anthologie-Serie, die postmigrantische Geschichten der zweiten Generation vereint und voraussichtlich zum „Tag der Deutschen Einheit“ erscheint, mache ihn weniger schlimm.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!