Totale Elite: Hilfe, ich bin elitär
Keine Gesellschaft kommt ohne Eliten aus. Es gilt die Eliten zu demokratisieren und die Demokratie zu elitisieren.
![Eine Geigenspielerin während des Frühjahrs-Konzerts der Rhein-Ruhr Philharmonie am Samstag, den 27. April 2024 Eine Geigenspielerin während des Frühjahrs-Konzerts der Rhein-Ruhr Philharmonie am Samstag, den 27. April 2024](/picture/7123725/624/Geigespielerin-1.jpeg)
Der Besuch eines Taylor-Swift-Konzerts kann teurer sein als der einer Oper, gilt aber als weniger elitär Foto: imago
Auf meiner Rating-Liste der Dinge, die mir echt bis zum Hals stehen, kommen die Blödsinnigkeiten, die mit dem Begriff „Elite“ verbunden sind, auf Rang 11. (Rang 12 belegt übrigens die Manie für Rating-Listen.)
Klar, die Rechten mussten „Eliten“ erfinden, weil sie sonst kein Gegengewicht zu ihrem heiligen „Volk“ hätten, das ja bekanntlich in der Demokratie nicht wirklich an der Macht ist, weil es diese verdammten Eliten gibt, die einen tiefen Staat unter Pizzerien führen und auf Geheiß von George Soros das Volk mit Impfzwang und großem Austausch vernichten wollen.
Aber es gibt auch weniger blöde Leute, sogar Linke, die meinen, dass „Eliten“ und das „Elitäre“ so ziemlich an allem schuld sind, vor allem an der Ungerechtigkeit der Verhältnisse. Ganz allgemein und nach dem Sprachgebrauch lässt sich der Begriff „Elite“ in fünf verschiedenen Zusammenhängen fassen.
Jede Gesellschaft, jede Staatsform braucht eine Elite, so wie Maschinen nicht ohne Maschinist*innen funktionieren
1: Zur Elite gehören Menschen, die irgendwas besser können als andere. Das heißt: Jeder Berufszweig, jede Klasse hat eine Elite. Das gilt für Wissenschaftler*innen, Künstler, Politikerinnen wie für Fußballspieler oder Postbotinnen. Das, was wir gerade als „Fachkräftemangel“ erleben, könnte man also auch als Elitemangel verstehen. Dass Leute, die irgend etwas besser können als andere, in der einen oder anderen Weise dafür auch belohnt werden (sei’s durch Freiheit, durch Anerkennung oder Luxus), ist okay. Man darf das aber keinesfalls übertreiben. Eher kein Geniekult, eher kein Privatflugplatz!
2: Elite könnten auch jene Menschen sein, die ein System genauer kennen als andere. Daher gibt es eine Elite der Wissenschaften, aber auch eine Elite des Wissenschaftsbetriebes. Und eben eine politische, ökonomische, kulturelle Elite. Jede Gesellschaft braucht eine Elite, so wie Maschinen nicht ohne Maschinist*innen funktionieren. Es gibt, so wie es feudale oder faschistische Eliten gibt, demokratische Eliten, die allerdings etwas komplizierter wirken: Sie müssen zugleich Demokratie elitisieren und Eliten demokratisieren.
Wissen, Macht, Besitz
Dagegen gibt’s freilich Widerstand, und damit sind wir bei 3: Elite wird zu einem selbstreferentiellen Subsystem innerhalb von Staat und Gesellschaft, das die Kontrolle über die Verbindung der drei Herrschaftselemente für sich beansprucht: Wissen, Macht, Besitz. Immer wieder setzt sich das Phantasma einer „totalen Elite“ fest. Diese Elite, die vor allem mit dem Erhalt der eigenen Macht beschäftigt ist, tendiert dramatisch zu Verblödung und Verrohung.
Sehen wir uns nebenbei die Kandidat*innenliste der AfD an: Bemerkenswert viele von ihnen entstammen der staatlich-gesellschaftlichen Elitenbildung: Justiz, Militär, Polizei, Erziehung, Wissenschaft, Verwaltung. In den Thinktanks und „Instituten“ der „neuen Rechten“ wird eifrig an der Herstellung einer eigenen „Elite“ gearbeitet. Man hat’s von den historischen Nazis gelernt, deren Ziel der möglichst rasche Austausch der bürgerlichen durch die faschistische Elite war. Die Rechten sind alles andere als antielitär; sie mögen bloß keine demokratische Elite.
Dass sich ein so auffälliger Teil der ökonomischen Gewinner an die rechtspopulistischen bis rechtsextremen Bewegungen hält, führt zu 4: Elite sind Menschen, die ihre Privilegien, ihre Macht, ihren Reichtum, ihren Einfluss, ihr Ansehen, aber auch ihre Umgangsformen, ihre Konsumgewohnheiten, ihre Statussymbole mit aller Gewalt gegen Kritik, Widerstand und Veränderung verteidigen. Eine Klasse für sich innerhalb der Klassenherrschaft.
So furchtbar wie die chinesische Kulturrevolution
Bleibt umgekehrt 5: Eine Elite der vom Besitz durch die Klasse gelösten Kultur, die das System semantisch und organisatorisch durchschaut und seine verborgene Wahrheit preisgibt, die gehassliebte „intellektuelle Elite“. Sie befindet sich in einem populistisch-autokratischen Regime vorwiegend im Gefängnis, im Exil oder im Untergrund. Dort sähe sie auch unsere neue Rechte am liebsten.
Was man da theoretisch auseinanderhält, ist leider in der Praxis ein gewaltiges Durcheinander, alles zwischen „Erstickt doch an eurer Arroganz!“ bis „Wo sind die Eliten, wenn man sie mal braucht?“. Stand der Dinge ist: Eine Gesellschaft funktioniert nicht ohne Eliten, so widersprüchlich sie in sich auch sein mögen. Und Versuche, die Eliten abzuschaffen, enden so furchtbar wie die chinesische Kulturrevolution. Es kommt nicht darauf an, die Eliten zu beseitigen, sondern sie demokratisch zu kontrollieren und ihre Arbeit für alle nutzbar zu machen.
Ist schon „Elite“ ein Begriff voller innerer Widersprüche, dann setzt es mit „elitär“ vollends aus. Denn „elitär“ können sich auch Leute geben, die mit den Eliten nichts zu tun haben: Angeber, Snobs, Menschen, die dem Irrtum aufsitzen, dass jemand, der etwas besser kann (zum Beispiel Tennis spielen), auch was Besseres ist. Man kann allerdings auch alles, was einem zu anstrengend, zu kompliziert, zu kritisch, zu „abgehoben“ vorkommt, als „elitär“ bezeichnen. Wenn man etwas als „elitär“ kennzeichnet, muss man sich damit nicht mehr auseinandersetzen.
Dabei sind die traditionellen Merkmale des „Elitären“ längst verschwunden: Das Weltwissen ist für jede und jeden mit ein, zwei Clicks verfügbar. Ein Taylor-Swift-Konzert oder das Ticket für ein WM-Spiel kosten mehr, als wir gewöhnliche Menschen im ganzen Jahr für Kultur ausgeben – und trotzdem nennt man nicht dies, sondern das Hinterhoftheater „elitär“. Und dass höhere Bildung für immer weniger erschwinglich wird, hat weniger mit Elite als mit dem Kapitalismus zu tun.
Und jetzt kommt’s: Ganz offensichtlich funktioniert die einstige Verbundenheit zwischen ökonomischen, politischen, sozialen, wissenschaftlichen, kulturellen Eliten nicht mehr. Im Kampf um die kulturelle Hegemonie und um die Fleischtöpfe bekommt die rechte Heimtücke der Anti-Elite-Kampagne willige Helfer. Die Demokratie ist verloren, wenn sie keine Eliten der Demokratie und keine Demokratie der Eliten hervorbringt.
Leser*innenkommentare
Dietmar Rauter
Zum Thema 'Elite' fällt mir nur ein, dass in der Politik bzw. in 'unserem' so gehandhabten Parlamentarismus die wahre Elite, die sich um das Überleben in der Klimakastrophe kümmern sollte, eigentlich nicht vorhanden ist bzw. nie gab: Die CDU wurde gegründet von Altvorderen (darunter auch Nazis) zusammen mit Lobbyisten aus den Unternehmen. Die SPD war zunächst Teil einer Arbeiterbewegung mit Selbsthilfeeinrichtungen wie Coop oder der Neuen Heimat, wurde aber von aufstrebenden Funktionären unterwandert, wobei es durchaus nach den 68ers einen Reformflügel gab, der Impulse wie die Forderung nach Abschaffung der $ 218 oder zu einer neuen Friedensordnung beinhaltete, während die alten Kader der CDU mit Strobel, Barschel & Co kurz vor der Versenkung unter 'ferner liefen' standen, wenn sich Alternative und Reformwillige einer SPD (u.a. Heide Simonis) zusammengefunden hätten im Bemühen, die Kluft zwischen fortschrittlichen Elementen in der Gesellschaft und einer viel zu sehr auf Abhängigkeit im Konsum eingestellten Wählerschaft zu verringern. Wo liegt der Fehler im System, wenn die politische Macht bei uns eben nicht verantwortungsvoll zum Wohle der ganzen Gesellschaft wahrgenommen wird ?
Ansgar Reb
Schon in den 80ern, Linie 1:
Was nach uns kommt ist Schiete,
denn wir sind die Elite.
Wenn man sich die Verteilung des Vermögens anschaut, ist der Elitebegriff durchaus praktisch.
Jeder kann sich seine Elite erfinden, der er angehört und die Eliten definieren, die er ablehnt. Echt praktisch.
Garak
OK, fangen wir mit der Nebenbemerkung an: "Das Weltwissen ist für jede und jeden mit ein, zwei Clicks verfügbar" - mag für Trivia gelten, aber ich bezweifle das ein Großteil der Bevölkerung ein Konzept wie z.B. Entropie allein aus dem Wikipediaartikel verstehen und sinnvoll anwenden kann.
That said, und besonders auf Punkt 4 bezogen: Schlimm wird es, wenn die Elite ihre Position als reine Eigenleistung begreift - z.B. Bildungselite: sicher, mensch hat sich durch ein Studium geschlagen, aber dessen Infrastruktur hat die Gesellschaft, den Inhalt Generationen von Wissenschaftler:innen geschaffen. Und die Vorzüge von einem bildungsnahen, wohlhabenden Elternhaus sind auch nicht zu verachten. Auch andere Formen der Elite benötigen Startkapital, Infrastruktur, Dienstleistungen, Informationen etc. Eliten müssen realistisch bleiben, dann heben sie auch nicht ab.
Offensichtlich gehen die "völkischen Eliten" ja in die ganz andere Richtung - da feiert man sich dann für großartige "Eigenleistungen" wie Geburtsort, Hautfarbe...
Kurt Kraus
"Geniekult" ist ein lustiges Wort in einem Land, das geistige Leistung so sehr verachtet, wie es Fußballer vergöttert. Unser Bild von Wissenschaft ist immer noch der weltfremde Gelehrte im Elfenbeinturm, gerne auch noch angereichert mit technikfeindlichen Superschurkenfantasien. Es gibt im Gegensatz dazu auch bildungsaffine Kulturen: Kinder von vietnamesischen Tellerwäschern schneiden bei uns im Durchschnitt besser ab, als einheimische Kinder. Aber geistige Leistung ist nicht wichtig und sollte am besten gar nicht gemessen werden, findet die deutsche Kultusministerkonferenz. Diese kriminelle Vereinigung eifersüchtiger Provinzler verhindert seit Jahrzehnten jegliche Bildungsreform.
Rudi Hamm
Elite gibt es bald nicht mehr, mit bitteren Konsequenzen
Eine Elite im Sinne von Punkt 1 wird es nicht mehr geben, da unsere Schulen durch ihre wilde soziale und kulturelle Mischung, und das ist nicht abwertend gemeint, kaum noch Eliten ausbilden kann. Das fängt damit an, dass in vielen ersten Klassen ein großer Teil der Kinder gar kein deutsch versteht und somit der Unterricht leidet. Das geht damit weiter, dass in sozialen Brennpunkten der Unterricht nicht mehr aus Bildung, sondern fast nur noch aus Konfliktbewältigung besteht.
Hinzu kommt ein Bildungssystem, das vom Inhalt her der Zeit 20 Jahre hinterher hinkt.
Auch ausgebremst durch Helikopter- und rechthaberische Eltern, welche meinen, die Schule allein sei für die Erziehung da. Auch ausgebremst von Lehrkräften, die Konflikten mit Schülern und deren Eltern aus dem Weg gehen, um nicht selbst zum Konfliktpunkt zu werden - innerlich kapituliert.
Wer dann doch noch zur Elite im Sinne Punkt 1 wird, ich nenne es Könner, der sucht zunehmend sein Glück lieber im Ausland, wo er nicht gleich als Kapitalist verschrieben wird, nur weil er Erfolg hat. Zurück bleibt ein Volk der Neider und immer klammere Staatskassen.
Troll Eulenspiegel
Dann wird es mal Zeit, Ansätze aus dem Anarchismus anzuwenden. Selbstorganisation und Subsistenzwirtschaft all das unter einer Demokratie.
Sorgt dafür, dass der Kapitalismus verschwindet. Sorgt dafür, dass Menschen keine Gewinne einfahren müssen, nur um andere Menschen zu versorgen.
Dann klappt es auch, dass der elitäre Geigenspieler aus dem Bild auf derselben Stufe steht, wie ein Obdachloser mit zerrissener Kleidung.
Nansen
Gibt's diesen Artikel auch als Comic?
Lowandorder
@Nansen Der olle Fritjof Nansen hat‘s bis zum Nord-Pol geschaft auf angespitzten Dachlatten! “Er revolutionierte die Techniken des polaren Reisens und beeinflusste damit alle nachfolgenden Expeditionen in Arktis und Antarktis. Newahr
Nù. Spitzen‘s ehra ✏️ ✏️✏️✏️ - 📑📑📑
Und frisch ans Werk! Sie schaffen das!
&
images.app.goo.gl/irq2DWvbsLwUywnTA
Parameter: “…Die Demokratie ist verloren, wenn sie keine Eliten der Demokratie und keine Demokratie der Eliten hervorbringt.“
…anschließe mich & masel tov - 🪠
den Ratzefummel immer gern at hand!
images.app.goo.gl/YnTD6CvWspnUdFnJ9
Aber wahrscheinlich guckt wieder kein🐽
images.app.goo.gl/RF1aNvipnQ8NNFd96
Willi Müller alias Jupp Schmitz
@Lowandorder F.K.Waechter passt sehr gut zu Georg Seesslen.
Und Ratzefummel Ahoi
alteropi
Ich möchte vehement widersprechen. Ich kenne niemanden in der ernst zunehmenden politischen Diskussion, der den Elitenbegriff nicht ausschließlich im Machtkontext benutzt.