Frankreichs Premier Attal bliebt im Amt: Präsident Macron bittet um Geduld​

Frankreichs bisheriger Premier Gabriel Attal bleibt vorläufig im Amt. Die linke Volksfront will auch ohne absolute Mehrheit regieren.

Marine Tondelier

Marine Tondelier gilt in den Medien als Favoritin für das Amt der Premierministerin der Linken Volksfront Foto: Abdul Saboor/reuters

Balkendiagramm mit Wahlergebnis

PARIS taz | Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron reist am Dienstagabend zum Nato-Gipfel nach Washington. Die Innenpolitik kann warten. Das Treffen mit seinen Amts­kol­le­g*in­nen im Ausland gibt ihm Zeit, über die Enttäuschung der Parlamentswahl hinwegzukommen. Und er kann sich überlegen, wie er aus der politischen Sackgasse herausfindet, in die er sich und das Land mit der Auflösung der Nationalversammlung und den Neuwahlen selbst gebracht hat. Was Macron tun muss: den Premierminister ernennen. Doch noch am Wahlabend am Sonntag ließ er mitteilen, dass er sich alle Zeit nehmen wolle, bevor er eine Entscheidung diesbezüglich treffen werde.

Bereits kurz nach Veröffentlichung der ersten Hochrechnungen hatte Gabriel Attal angekündigt, als Premierminister zurückzutreten. Am Montagvormittag bot er dann Staatschef Macron seinen Rücktritt an. Der jedoch lehnte ab und bat seinen Regierungschef, „für den Moment und im Interesse der Stabilität des Landes“ samt seinen Ministern im Amt zu bleiben. Macron will damit vor allem für die kommenden Wochen, in denen in Paris die Olympischen Sommerspiele stattfinden, eine offene Regierungskrise vermeiden.

Für Macrons Entscheidung nach der Europawahl, Neuwahlen einzuberufen, hatte es viel Kritik gegeben. Er muss gehofft haben, mit einem solchen Wahlpoker die politischen Kräfteverhältnisse zu seinen Gunsten zu verschieben. Das Gegenteil ist eingetreten. Statt, wie er versprochen hatte, politische Klarheit zu schaffen, ist die Lage nach der Wahl komplizierter denn je.

Es gibt in der neuen Nationalversammlung drei große Blöcke: Erstens die Linksparteien der Neuen Volksfront (Nouveau Front Populaire – NFP) mit 182 Sitzen. Dazu gehören die Sozialisten, die Grünen, die Kommunisten und La France insoumise. Zu ihnen kann man 12 von diversen Linken (außerhalb der Volksfront) und einen Teil der 10 gewählten Regionalisten hinzuzählen. Zweitens die macronistischen Parteien der Allianz Ensemble mit insgesamt 168 Abgeordneten. Drittens das rechtsextreme Rassemblement National (RN) mit lediglich 126 Sitzen, plus 17 Sitze der Dissidenten der rechten Partei Les Républicains (LR), die mit Ex-LR-Chef Eric Ciotti mit RN eine Wahlunion gebildet hatte. Les Républicains kommen noch auf 60 Sitze. Keiner der drei großen Blöcke hat auch nur annähernd die absolute Mehrheit erreicht, die bei 289 von 577 Stimmen liegt.

Diese Ausgangslage macht es Macron nicht gerade leicht. Die Verfassung stellt es ihm frei, einer Person seiner Wahl die Verantwortung der Regierungsbildung zu übertragen. In der Regel ist das ein führendes Mitglied der stärksten Fraktion. Daran ist Macron allerdings nicht gebunden.

Laut dem Verfassungsrechtler Dominique Rousseau in der Zeitung Libération entspräche es den republikanischen Gepflogenheiten, dass der Staatspräsident zunächst jemanden aus den Reihen der linken Volksfront nominiert – da diese die Mehrheit der Stimmen erhalten hat. Sollte die Person daran scheitern, eine Regierung hinter sich zu vereinen, könnte Macron auch den anderen Fraktionen eine Chance geben.

Verfassungsrechtlich ist es aber auch möglich, beispielsweise die bisherige Regierung des Macronisten Gabriel Attal so lange im Amt zu lassen, wie es dem Präsidenten Macron beliebt. Wie sinnvoll das ist, ist eine andere Frage: Attals Partei Ensemble hat mit den Neuwahlen 87 Sitze verloren (von 250 auf 163) und liegt auf Platz zwei. In einer so schwachen Position können lediglich laufende Geschäfte abgewickelt werden. Regieren sieht anders aus.

„Eine Minderheitsregierung kann amtieren, wenn sie nicht (durch einen Misstrauensantrag) gestürzt wird. Es ist nicht an der Regierung, zu belegen, dass sie das Vertrauen der Nationalversammlung hat, sondern umgekehrt an (den oppositionellen Abgeordneten) der Nationalversammlung, den Beweis zu erbringen, dass dieses Vertrauen nicht existiert“, schreibt der Verfassungsrechtler Dominique Rousseau.

„Wir haben gewonnen, jetzt werden wir regieren“

So könnte auch die Volksfront demnächst versuchen, eine Regierung zu bilden. Immerhin hat sie die meisten Stimmen erzielt – müsste ohne Koalitionspartner allerdings eine Minderheitsregierung bilden.

„Wir haben gewonnen, jetzt werden wir regieren“, rief Marie Tondelier auf der Siegesfeier der Volksfront. Die 37-jährige Vorsitzende der Grünen, die mit ihrer hellgrünen Weste gut sichtbar eine führende Rolle in der Wahlkampagne gespielt hat, gilt für die französischen Medien als Favoritin unter den möglichen An­wär­te­r*in­nen auf den Posten des Premierministers oder der Premierministerin einer Linksregierung.

Sie ist aber nicht die Einzige, die im Rennen ist. Zu den Namen, die am häufigsten genannt werden, gehört der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon von LFI, der indes bei den anderen Parteien wegen seiner ständigen Provokationen mittlerweile auf Ablehnung stößt. Raphaël Glucksmann wäre wiederum seitens der Sozialisten, für die er bei den Europawahlen ein unverhofft gutes Resultat erzielt hatte, der geeignete Mann. Glucksmann selbst schlug indes den früheren CFDT-Gewerkschaftsboss Laurent Berger vor.

Es könnte zu einer neuen Machtprobe kommen

Die internen Diskussionen innerhalb der Volksfrontparteien, wer welche Rolle in der möglichen künftigen Regierung spielen soll, laufen nicht ohne Spannungen ab. Gegner der Mitte und von rechts versuchen das für sich auszunutzen. Bei einer Fernsehdebatte sagte ein Sprecher des RN, die linke Wahlunion werde bereits an der Frage eines zukünftigen Premierministers zerbrechen.

Darauf antwortete die LFI-Abgeordnete Aurélie Trouvé voller Zuversicht: „Wir haben uns in bloß vier Tagen auf eine Volksfront geeinigt, auf gemeinsame Kandidaturen in allen Wahlkreisen und auf ein gemeinsames Programm mit 150 Punkten. Wir werden uns auch noch in dieser Woche auf den Namen unseres Volksfront-Regierungschefs einigen.“

Die neue Nationalversammlung wird am 18. Juli zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentreten. Dabei soll zunächst ei­n*e Vor­sit­zen­de*r gewählt und alle anderen Ämter besetzt werden. Ein neues Ministerkabinett ist dazu nicht erforderlich, falls Attal immer noch offiziell im Amt bleibt. Falls es dem Präsidenten später nicht gelingt, einen Regierungschef zu nominieren, könnte es zu einer neuen Machtprobe kommen.

Laut dem Verfassungsrechtler Rousseau bliebe dann womöglich dem Präsidenten nichts anderes übrig, als selbst zurückzutreten – was er bisher ausgeschlossen hatte. Rousseau verweist auf einen Präzedenzfall vor exakt hundert Jahren. Da der damalige Präsident Alexandre Millerand nicht in der Lage war, eine Regierung einzusetzen, zwangen ihn die Parlamentsparteien zum Rücktritt. Auch damals fanden in Paris die Olympischen Spiele statt.

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