Personennahverkehr in Berlin: Er kann der Himmel und die Hölle sein
Der Berliner ÖPNV ist Fluch und Segen. Es gibt schon Grund, ihn zu lieben. Aber er sollte die Gelassenheit der Kund*innen nicht überstrapazieren.
I ch bin Fußgängerin – natürlich habe ich ein Abo für den ÖPNV! Wie schön ist es, ganz ohne eigenen Rad- oder Autofahrstress am Wochenende die Stadt Berlin und ihr Umland zu erkunden, indem man einfach einen Bus bis zur Endhaltestelle oder eine S-Bahn nimmt, die bis nach Brandenburg fährt, und dann den bisher weißen Fleck auf der individuellen Landkarte entspannt zu Fuß erkundet. (Vorher aber immer schön gucken, wann der Bus oder die S-Bahn wieder zurückfährt! Könnte ja stimmen, die Angabe …) Man darf dabei stets auf Überraschungen gespannt sein – wenn mir persönlich auch noch nie jemand begegnet ist, der in der U-Bahn Zwiebeln schneidet, wie das in einem alten Video der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zu sehen ist, die gern mit dem Slogan „Weil wir dich lieben“ für sich werben.
Man muss eigentlich sogar stets auf Überraschungen gefasst sein: Der Berliner ÖPNV ist Fluch und Segen, ist Hölle und Himmel, ist stets Grund zum Klagen und häufig Retter in der Not. Seine Busfahrer:innen sind Held:innen der Gelassenheit; ich frage mich oft, was die BVG ihnen dafür in den Kaffee tut – das will ich auch! (Reizen darf man sie aber dennoch nicht zu sehr – dann können sie explodieren wie wahre Gewittergött:innen und alle Fahrgäste in Salzsäulen verwandeln.)
Die BVG ist witzig, und das ebenso divers wie ihre Fahrgäste: vom klassischen Berliner Humor (Ich zum Busfahrer, vor meiner Abo-Zeit: „Kann ich bei Ihnen auch ein Tagesticket kaufen?“ Der Busfahrer: „Wennse jenuch Jeld ham, könnse ooch den janzen Bus koofen!“) bis zur zielgruppengerechten Ansprache auf Instagram und Youtube.
Und sie ist kreativ bei der Lösung von Stau- und Überfüllungsproblemen: analog etwa als Erfinderin der legendären Busraupe, wenn erst kein Bus kommt und dann plötzlich gleich drei auf einmal; digital durch listiges Zeitmanagement. Denn BVG-Minuten dauern auf den Anzeigetafeln einfach immer so lange, wie der Bus oder die Bahn eben braucht: ein Trick, dem ich neulich erstmals begegnete und dessen Gelingen auf der ebenfalls legendären Freundlichkeit vieler Berliner:innen fußt.
Die Sperrung einer Hauptstraße führte zu heftiger Verspätung der dortigen Buslinie. Die BVG-Tafel an der Haltestelle zeigte an: Der nächste Bus kommt in 9 Minuten, danach drei weitere im Minutenabstand. Das führte dazu, dass viele nicht in den überfüllten Bus stiegen, der nach 9 Minuten kam, sondern jenen den Vortritt ließen, die schon länger dort standen. Sobald der Bus jedoch abfuhr, sprang auch die Digitalanzeige um und verkündete nun wieder: nächster Bus in 14 Minuten, dann drei weitere im Minutenabstand. Liebe BVGler:innen: Ja, wir lieben euch ja auch, aber bitte überstrapaziert unsere Gelassenheit nicht!
Der BVG-Insta-Account forderte mich kürzlich auf, an einer Umfrage teilzunehmen, es ging dabei um die Sauberkeit meiner U-Bahn-Linie, der – ja, genau – legendären U8. Ob mir aufgefallen sei, wie viel besser dort seit einiger Zeit für Sicherheit und Sauberkeit gesorgt werde, wurde ich gefragt. (War es nicht, aber ich bin ehrlich: Jetzt, wo ich es weiß, sehe ich es plötzlich auch.) Und dann noch: Was mir das denn wert wäre, wenn das immer so sein würde – wie viel ich dafür mehr bezahlen würde?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Da bin ich dann doch ein bisschen sauer geworden. Leute! Wo führt uns das denn hin?! Werden Eltern demnächst gefragt, was sie dafür zahlen würden, wenn ihre Kinder nicht nur in die Schule gehen dürfen, sondern ihnen dort auch etwas beigebracht wird? Haha, das gibt’s schon und heißt Privatschule, sagt eine Freundin. O weh!
Dann heißt das im Mobilitätsbereich ja wohl Auto. Oder vielleicht bald: „BVG-Premium-Abo mit Zugang zum gewischten und bewachten Wartebereich – weil wir manche von euch mehr lieben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen