Placebos: Heimlicher Star der Psychiatrie

Placebos können bei verschiedensten psychischen Erkrankungen so effektiv sein wie Medikamente mit Wirkstoffen. Das zeigt jetzt eine neue Studie.

Placebopillen auf einem dunklen Holztisch

Diese Placebopillen enthalten mikrokristalline Zellulose, die vom Körper nicht aufgenommen werden kann Foto: Isabella Moore/NYT/Redux/laif

Was ist das am meisten untersuchte medizinische Mittel der Wissenschaftsgeschichte? Es ist ein Mittel, das in Tausenden Studien getestet wurde, an sehr, sehr vielen Versuchsteilnehmer*innen. Seine Wirkung ist seit mehr als 100 Jahren beschrieben. Die Nebenwirkungen gelten als ungefährlich, das Einsatzgebiet ist breit.

Die Rede ist von Placebos, von Scheinmedikamenten, die seit den 1970er-Jahren standardmäßig in wissenschaftlichen Studien eingesetzt werden, um die Wirkung des eigentlich getesteten Medikaments zu überprüfen. Der Star ist Placebo im medizinischen Bereich jedoch selten. In einer aktuellen Studie zum Placeboeffekt bei den wichtigsten psychiatrischen Erkrankungen ist Placebo nun aber mehr als eine Randerscheinung. Die Studie macht sich die quasi nebenbei anfallenden Daten aus Medikamentenstudien zunutze.

Neuartige Medikamente und Behandlungsansätze werden in sogenannten randomisierten Doppelblindstudien getestet. Dabei wird allen Teil­neh­me­r*in­nen ein Mittel verabreicht. Doch nur ein Teil der Versuchsmenschen bekommt, per Zufall ausgewählt, das neue Medikament. Eine Kontrollgruppe erhält, ohne es zu wissen, entweder ein bewährtes Mittel oder ein Schein­medikament. Die verabreichte Pille oder Spritze ist dann – pharmakologisch betrachtet – ohne Wirkung, also ein Placebo, das in der Regel nicht viel mehr als Zucker oder Stärke enthält.

Diese Placebostudien werden immer dann eingesetzt, wenn es ethisch vertretbar ist, die Pa­ti­en­t*in­nen für die Dauer der Studie auch ohne eine bewährte Behandlung zu lassen. In sehr vielen medizinischen Bereichen ist das der Fall und so lässt sich eben mit Fug und Recht behaupten: Placebo ist das am besten untersuchte „Medikament“ der Wissenschaftsgeschichte.

Und es ist, auch das weiß man schon länger, alles andere als wirkungslos. Der Placeboeffekt wurde um 1900 beschrieben: Bereits die mehr oder minder bewusste Erwartung einer wirksamen Therapie sorgt demnach für eine Besserung der Erkrankung. Für die unter Placebo beobachteten Effekte sind auch weitere Faktoren wie eine engmaschige Betreuung der Patient*innen, wie sie auch in Studien üblich ist, von Bedeutung.

Umfangreiche Studie zum Placeboeffekt

Nun gibt es aus all den placebokontrollierten Studien umfassende Daten über den Placeboeffekt. In der Regel dienen diese aber nur zur Bewertung des jeweils getesteten neuen Medikaments. Eine Gruppe um den Berliner Psychiatrieprofessor Tom Bschor – derzeit auch Kopf der Regierungskommission, die für Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Vorschläge für eine moderne Krankenhausversorgung erarbeitet – hat nun eine Studie zum Placeboeffekt bei den wichtigsten psychiatrischen Diagnosen vorgelegt.

Dafür haben sie die Daten aus 90 Placebostudien mit fast 10.000 Ver­suchs­teil­neh­me­r*in­nen miteinander verglichen. Es ist, so die Autor*innen, die umfangreichste Studie zum Placeboeffekt bei psychiatrischen Diagnosen. Ende Mai wurde sie in der medizinischen Fachzeitschrift JAMA Psychiatry veröffentlicht.

Von den neun untersuchten Erkrankungen haben zwei besonders gut abgeschnitten. Das wäre zum einen und für die For­sche­r*in­nen wenig überraschend Depressionen. Hier hatten schon vorherige Studien gezeigt, dass der überwiegende Teil der Wirkung von Antidepressiva vermutlich auf dem Placeboeffekt beruht und vor allem bei leichten und mittleren Depressionen der Placeboeffekt sogar vergleichbar ist zur Wirkung von „echten“ Medikamenten.

Ethik und Recht im Alltag

Auch die generalisierte Angsterkrankung – also ein den Alltag beherrschendes Gefühl von Besorgtheit und Anspannung – spricht laut den Ergebnissen der Vergleichsstudie sehr gut auf Placebo an. Die Ergebnisse bei diesen beiden psychiatrischen Diagnosen seien so überzeugend, sagt Bschor, „dass sie eine Behandlung mit Placebo absolut rechtfertigen würden.“

Im Behandlungsalltag scheitert eine zu den Studien vergleichbare Placebobehandlung an Ethik und Recht: „Wir müssen unsere Patienten immer genau darüber aufklären, was sie bekommen“, so der Psychiater. „Aber in der Praxis, da muss man sich ehrlich machen, gibt es einen Graubereich“, sagt Bschor auch. Nämlich dann, wenn Ärz­t*in­nen Mittel verschreiben oder empfehlen, deren Wirkung pharmakologisch nicht nachgewiesen ist. Globuli sind hier sicher das gängigste Mittel. „In gewisser Weise rechtfertigen die Studienergebnisse auch diesen Graubereich“, sagt Bschor.

Zu der Gruppe psychiatrischer Diagnosen, die laut Studie gut auf Placebo ansprechen, gehörten außerdem Panikstörungen, das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS), posttraumatische Belastungsstörungen und soziale Phobien. Zwangserkrankungen schnitten in Sachen Placebo­effekt dagegen eher schlecht ab, genau wie Manie und das Studienschlusslicht Schizophrenie. Selbst bei Schizophrenie sei der Effekt aber nicht minimal, auch hier gab es messbare Verbesserungen in der Placebogruppe, so Bschor.

Medikamente allein reichen nicht

Das heißt: Bei allen psychiatrischen Erkrankungen ist laut Studie ein Placeboeffekt zu beobachten. „Das ist ein ganz zentrales Ergebnis“, sagt der Psychiater. Damit lasse sich der Einsatz von Placebos in Studien auch mit psychiatrisch schwer erkrankten Pa­ti­en­t*in­nen rechtfertigen – ethisch sei es vertretbar, eine Kontrollgruppe mit Placebomitteln zu behandeln, eben weil sie nicht wirkungslos sind.

Aber auch die Bedeutung für den Behandlungsalltag sei erheblich, so Bschor: Denn der Placeboeffekt wirke ja nicht nur, wenn der Patient ein pharmakologisch wirkungsloses Mittel erhält. Er ist Teil jeder Medikamentengabe. „Eine wichtige Schlussfolgerung ist, dass die in der Psychiatrie gängigen Medikamente erst dann ausreichend wirken können, wenn sie eingebunden sind in eine ordentliche Betreuung, die den Patienten ernst nimmt, Zeit für Fragen, Aufklärung und zum Sprechen lässt“, sagt der Psychiater.

Mehr Zeit für Patient*innen, mehr Zuwendung – besonders neu und bahnbrechend klingt diese Erkenntnis nicht. „Aber man muss es wiederholen und wissenschaftlich mit Zahlen belegen“, sagt Bschor und verweist auf die noch immer gängige Praxis, bei der Psych­ia­te­r*in­nen nach wenigen Minuten Patientenkontakt Rezepte ausstellen – mit Einnahmeempfehlung und Wiedervorstellungstermin in sechs Wochen. Behandlung sei immer ein Gesamtkonzept, so Bschor. „Den Placebo­effekt, den muss man mit abholen, sonst bleibt zu wenig übrig.“

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