Luftbild-Auswerter über Blindgänger: „Die Welt sauberer machen“
Schleswig-Holsteins Kampfmittelräumdienst sucht ZeitzeugInnen und Fotos, die Aufschluss über Blindgänger im Zweiten Weltkrieg geben können.
taz: Herr Bock, warum sucht der Kampfmittelräumdienst jetzt erstmals Zeitzeugen zu Blindgängern des Zweiten Weltkriegs?
Alan Bock: Weil wir im Zuge der Digitalisierung die Qualität unser Informationen verbessern und den Umfang der vorhandenen historischen Dokumente erweitern wollen. Wir möchten die Kampfmittelbelastung im Land bestmöglich erfassen. Am Ende möchten wir auf der digitalen Karte das heutige Grundstück anklicken können und alle Informationen über sein „Schicksal“ während des Zweiten Weltkriegs sehen. Dafür erhoffen wir uns Informationen wie Privatfotos, Zeitzeugenberichte, Karten, Informationen über Bombenabwürfe und Blindgänger sowie vieles weitere auch in Stadt-, Kreis- und Kirchenarchiven. Diese wertvollen historischen Quellen sind noch längst nicht erfasst.
Mit welchem Material arbeiten Sie bislang?
Wir werten Kriegsluftbilder der britischen und US-amerikanischen Alliierten aus. Außerdem sichten wir alliierte Angriffsdaten und Angriffschroniken, sodass wir genau sagen können, wann welche Bombenlast auf welches Gebiet geworfen wurde.
Weiß man, wie viele Bomben auf Schleswig-Holstein fielen?
Aus Listen der Alliierten geht hervor, dass auf Schleswig-Holstein 45.000 Tonnen fielen, 29.000 davon auf Kiel. Insgesamt existieren 126.000 Kriegsluftbilder, von denen der Kampfmittelräumdienst 97.000 hat. Die fehlenden könnten wir unter anderem bei der britischen Krone kaufen, aber angesichts der Haushaltslage fehlt dafür das Geld.
Jg. 78, Vermessungstechniker, leitet die Lufbild-Auswertung des Kampfmittelräumdienstes Schleswig-Holstein
Sie müssen die Bilder wirklich kaufen?
Inzwischen ja. Ende der 1980er-Jahre durften sich die deutschen Bundesländer die Bilder im Zuge eines bilateralen Vertrags für fünf Jahre von den Briten ausleihen und selbst projizieren bzw. kopieren. Dann gingen die Fotos wieder zurück, und was damals im Rahmen der Leihfrist nicht eingearbeitet werden konnte, müssen wir seither einzeln kaufen, für 100 bis 120 Euro pro Foto.
Wie entstanden diese Fotos?
Man muss sich das so vorstellen: Am Montag sind die Briten hergeflogen und haben Luftbilder potenzieller Ziele gemacht. Am Dienstag haben sie die Bomben abgeworfen. Am Mittwoch sind sie nochmal wiedergekommen, um das Ergebnis zu fotografieren und zu dokumentieren. Entstanden sind Bilder aus ca. 6.000 Metern Höhe. Hinter unserem Zeitzeugen-Aufruf steckt auch die Idee, Nahaufnahmen der Zerstörungen am Boden zu bekommen.
Waren auch in Schleswig-Holstein die Städte am stärksten betroffen?
Betroffen waren Regionen mit starker Rüstungsindustrie – natürlich der Marinestützpunkt Kiel, aber auch die Ölraffinerie in Hemmingstedt an der Westküste und die kriegswichtige Bahntrasse in Neumünster.
Wie viele Blindgänger vermuten Sie noch in Schleswig-Holstein?
Schwer zu sagen. Von den rund 1.100 schleswig-holsteinischen Gemeinden sind 90 laut Kampfmittelverordnung als antragspflichtig ausgewiesen. Das heißt, wenn Sie dort bauen wollen, müssen Sie bei uns, dem Kampfmittelräumdienst, anfragen, damit wir die entsprechenden Luftbilder überprüfen.
Wurden die wichtigsten Städte nach 1945 systematisch abgesucht?
Nein. Sie konnten bauen, wo Sie wollten. Es gab lediglich die Empfehlung, das Gebiet auf Blindgänger prüfen zu lassen. Die Verpflichtung für besagte 90 Gemeinden, den Räumdienst anzufragen, besteht seit 2012.
Wie viel Prozent Blindgänger gibt es generell?
Es sind im Schnitt zehn bis 15 Prozent, die nicht explodiert sind und noch im Boden liegen. Zurzeit finden wir in Schleswig-Holstein ein, zwei Stück pro Monat. Mit der Räumung werden wir aber wohl noch Jahrzehnte beschäftigt sein.
In welchen Regionen liegen die meisten?
Das hält sich zwischen Stadt und Land die Waage. Derzeit kommen wegen des Breitband-Ausbaus an der Westküste zum Beispiel viele Anfragen aus dem ländlichen Bereich.
Und was könnten die nun erhofften Privatfotos zeigen?
Schäden an Haus und Hof zum Beispiel. Im Zweiten Weltkrieg gab es ein Kriegsschadensamt, dem gegenüber man den Schaden dokumentieren konnte, um Kompensation zu bekommen. Solche Bilder wurden von offiziellen Fotografen des NS-Regimes gemacht, aber auch von Privatleuten. Wir erhoffen uns darüber hinaus Informationen über versprengte oder vergrabene Munition, Absturzstellen oder detonierte und blindgegangene Bomben. Vielleicht weiß jemand: Hier ist ein Flieger abgeschossen worden. Auch das möchten wir dokumentieren.
Haben Sie schon Erfahrungen mit Zeitzeugenberichten?
Ja. Oft rufen gerade nach Bombenentschärfungen Zeitzeugen an, um auf weitere mögliche Blindgänger hinzuweisen. Bei älteren Menschen, die den Krieg noch erlebt haben, kommen solche Erinnerungen oft wieder hoch, wenn sie von einer Bombenentschärfung erfahren.
Zeitzeugen, die Informationen, Karten oder Fotos zu eventuellen Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg haben, können sich gern per Mail unter zeitzeuge@mzb.landsh.de oder unter ☎ 04340 / 40 49 3 melden.
Wie gehen Sie dann vor?
Wir treffen uns vor Ort mit der Person, hören zu, schreiben mit und versuchen die Angaben mit unseren Unterlagen abzugleichen: Gab es einen Angriff an diesem Tag, gibt es Luftbilder? Dann gehen wir, wenn möglich, mit dem Zeitzeugen an den betreffenden Ort. Manchmal haben sie recht, manchmal nicht. Da hat man sich zum Beispiel in der Koppel geirrt. Oder derjenige meint mit Blindgänger nicht, wie wir, eine Fliegerbombe, sondern eine Kanonenkugel oder eine Patrone. Aber auch das räumen wir natürlich weg, wenn wir es finden.
Sie sind seit 25 Jahren Kriegsluftbild-Auswerter. Ist das nicht belastend?
Natürlich sieht man auf diesen Bildern jeden Tag das Unheil des Zweiten Weltkriegs. Aus 6.000 Metern Höhe erkennt man allerdings keine Menschen, keine Verletzten oder Toten, sondern „nur“ die großen Bombenkrater. Außerdem ist diese Arbeit sinnstiftend: Wenn man draußen vor Ort einen Blindgänger geortet, den Sondiertrupp geholt und die Entschärfung veranlasst hat: Dann ist das ein toller Erfolg, und man denkt: Wir tun irgendwie etwas Gutes. Wir versuchen die Welt etwas sauberer zu machen.
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