Neuwahlen in Großbritannien: Sunak geht voll auf Risiko

Der britische Premierminister Rishi Sunak kündigt trotz großen Rückstands in den Umfragen überraschend Unterhauswahlen für den 4. Juli an.

Rishi Sunak bei einer Rede

Will kämpfen: Rishi Sunak Foto: Isabel Infantes/reuters

LONDON taz | Die Überraschung war groß, als Premierminister Rishi Sunak am Mittwochabend verkündete, es werde in sechs Wochen Parlamentswahlen geben. Die haushohe Niederlage seiner regierenden Konservativen bei Kommunalwahlen in England liegt noch nicht einmal einen Monat zurück, da droht ihnen der komplette Machtverlust noch vor den Sommerferien.

Gerüchte in den sozialen Medien waren am Mittwoch die ersten Anzeichen gewesen, dass es kein gewöhnlicher Tag sein werde. Sogar Außenminister David Cameron wurde von einem Besuch in Albanien zurückgerufen, um am Nachmittag einer außerordentlichen Kabinettssitzung beizuwohnen.

Kurz nach 17 Uhr Ortszeit trat Sunak dann vor die Tür seines Amtssitzes 10 Downing Street und sprach mitten im Regen über seine Errungenschaften in den letzten vier Jahren. Er habe mit seinem Kurzarbeitsprogramm in der Pandemie Millionen Arbeitsplätze erhalten. Nach Covid sei Putins Einmarsch in die Ukraine gekommen und damit steigende Energiekosten. Sunaks Aufgabe sei die Wiederherstellung wirtschaftlicher Stabilität gewesen, und das habe er geschafft.

Da tropften schon immer mehr Regentropfen an Sunaks Anzug herunter. Am Morgen hatte Finanzminister Jeremy Hunt erklärt, dass die britische Inflationsrate auf nur noch 2,3 Prozent gesunken sei. „Unsere Wirtschaft wächst nun schneller als prophezeit und hat Deutschland, Frankreich und die USA überholt“, sagte Sunak. Nun müssten sich die Bri­t:in­nen fragen, wem sie Glauben schenken wollten: ihm oder der Labour-Opposition, die keinen Plan für das Land habe? Deshalb habe er König Charles gebeten, das Parlament aufzulösen und eine Wahl am 4. Juli zu gewähren.

Sunak gegen Starmer: Gigantischer Rückstand

Sunak erklärte, diese Wahl finde in einer Weltlage statt, die so gefährlich sei wie keine seit dem Ende des Kalten Krieges. Er nannte Putins Russland, China und die Zuwanderung, die von feindlich gesinnten Staaten zur Waffe gemacht worden sei. Er sei stolz darauf, die Inflation gesenkt, Steuern gesenkt und die Renten erhöht zu haben.

Neben dem Wachstumspotenzial des Brexit zählte er Investitionen in das Gesundheitssystem, Fortschritte bei der Lesefähigkeit von Grundschulkindern und die angekündigte Steigerung der Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Errungenschaften seiner Amtszeit auf, außerdem Investitionen in lokale Verkehrsverbindungen sowie das Stoppen der Ankunft von Boat People durch das Partnerschaftsabkommen mit Ruanda.

Die Labour-Opposition habe im Unterschied zu ihm keinen Plan; ihm, Sunak, könne man vertrauen. Es war eine Wahlkampfrede, die allerdings vom Regen sowie vom lauten Abspielen eines Tony-Blair-Wahlkampfliedes von 1997 durch Protestierende 50 Meter entfernt überschattet wurde.

Dass er der fünfte Tory-Premier seit 2010 und der dritte seit 2019 ist, erwähnte Sunak nicht. Er geht nur mit seinem Namen in diese Wahl. Es ist Sunak gegen Starmer, und damit heißt es, einen gigantischen Rückstand in den Umfragen bis zum Wahltag aufzuholen. Als Sunak mit seiner Rede fertig war, war sein Anzug vollkommen durchnässt. Vom Regen in die Traufe, doch hofft Sunak offenbar auf eitel Sonnenschein.

Sunak steht als Konservativer unter besonderem Druck

Nahezu alle Beobachter hatten geglaubt, dass Sunak mit den Neuwahlen – sie müssen spätestens im Januar 2025 stattfinden – bis Oktober oder November warten werde. Bis dahin könnte sich die Aufhellung der Wirtschaftslage stärker in den Geldbeuteln vieler Bri­t:in­nen bemerkbar machen. Außerdem bestand die Hoffnung, bei Keir Starmer bis dahin mehr Schwachpunkte bloßzustellen.

Im Durchschnitt der Umfragen liegen die Konservativen derzeit bei 20 bis 25 Prozent der Stimmen, Labour bei 40 bis 45 Prozent. Das riesige Minus verfolgt Rishi Sunak, seit er im Oktober 2022 die Nachfolge von Liz Truss antrat.

Anders als Truss ist Sunak als vorsichtiger und kalkulierender Politiker bekannt. Hinter der unerwartet frühen Wahlankündigung stecken auch lauernde Gefahren für seine Regierung. Sunak steht als konservativer Politiker unter immensen Druck, die Steuerlast zu senken, die nach der Pandemie auf ein Rekordhoch gestiegen ist, vor allem durch die „kalte Progression“ bei der Einkommensteuer. Für den Herbst waren Senkungen etwa bei den Sozialversicherungsbeiträgen angedacht. Doch für solchen Zauber im Herbst fehlt Sunak jetzt offenbar der Spielraum.

Ein markantes Ereignis dieser Woche war nämlich der Endbericht des Untersuchungsausschusses zu einem Blutskandal, wie er vor Jahren auch in Deutschland Wogen machte. Der Bericht stellte im staatlichen Gesundheitsdienst Versagen auf allen Ebenen und aller Verantwortlicher fest. 30.000 Menschen wurden mit HIV- und Hepatitis-C-verseuchten medizinischen Blutprodukten behandelt und infiziert, 3.000 davon leben bereits nicht mehr. Sunak verpflichtete sich am Dienstag zu einem Entschädigungspaket für Geschädigte von umgerechnet 11,75 Milliarden Euro.

Auch Labour würde hohe Bürden übernehmen

Obendrauf kommen hohe staatliche Entschädigungszahlungen an ehemalige Fi­li­al­lei­te­r:in­nen britischer Postämter, die fälschlicherweise wegen Betrugs verfolgt worden waren, weil die ihnen zugewiesene Software fehlerhaft war, was die Verantwortlichen aber geleugnet hatten. Manche Opfer nahmen sich das Leben, andere klagen seit Jahren.

Auch Labour wird im Falle eines Wahlsieges diese Bürden zu spüren bekommen und damit umgehen müssen. Die Ankündigung einer Erhöhung des britischen Verteidigungsbudgets auf 2,5 Prozent des BIP vor wenigen Wochen ist die dritte Bremse für jegliche weitere Ambition auf Steuersenkungen. Somit sind die Zeiten finanzpolitisch jetzt so gut, wie sie sein können. Wozu also mit Wahlen noch warten?

Womöglich dachte Sunak auch daran, der rechtspopulistischen Partei Reform UK nicht bis zum Herbst Zeit zu geben, sich weiter auf Kosten der Tories auszubreiten. Ihr Mitgründer, der immer noch populäre Brexit-Politiker Nigel Farage, schloss am Donnerstag zwar eine Kandidatur zu den Parlamentswahlen aus, will aber Reform UK im Wahlkampf unterstützen.

Die neue Kraft will landesweit antreten und könnte den Konservativen wertvolle Stimmen nehmen. Dieses Risiko wäre wohl im Herbst noch höher, wenn zuvor in den Sommermonaten wieder wie in den letzten Jahren Zehntausende Asylsuchende per Boot über den Ärmelkanal kommen und Sunaks Ruanda-Partnerschaft doch nicht so funktioniert wie gedacht. Vor dem Wahltermin wird es, wie die Regierung am Donnerstag bestätigte, keine Deportationsflüge nach Ruanda geben.

Sunak hofft auf einen Überraschungssieg

Selbstverständlich sind Wahlen im Sommer auch mit einem Wohlfühlfaktor zu verbinden. Vielleicht gibt es etwas Wahlkampfhilfe durch das englische Fußballteam, das dann hoffentlich noch nicht aus der Fußball-EM in Deutschland ausgeschieden ist – der Wahltag 4. Juli fällt einen Tag vor Beginn der Viertelfinalspiele.

Und ganz hat Sunak die Hoffnung auf einen Überraschungssieg nicht aufgegeben. 2017 hatte die damalige Premierministerin Theresa May überraschend Wahlen mit einem soliden 20-Prozent-Vorsprung ausgerufen. Am Wahltag blieben gerade mal 2 Prozentpunkte Vorsprung zum damaligen Labour-Chef Jeremy Corbyn übrig und May verlor die absolute Mehrheit im Parlament. Sunak hofft, dass Starmers Vorsprung in der Hitze des Wahlkampfs genauso dahinschmelzen könnte.

Ob am Morgen des 5. Juli rote Erdbeeren oder Blaubeeren auf dem Tisch stehen werden, wird sich also noch zeigen. Traditionell sind es während der Wimbledon-Tennissaison, dieses Jahr zwischen dem 1. und 14. Juli, rote Erdbeeren. Mit Sahne.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.