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Arbeit als Nahost-KorrespondentinDer Krieg der Konjunktive

Kommentar von Lisa Schneider

Die Wahrheitsfindung im Krieg gegen die Hamas ist eine Herausforderung. Denn: Leid ist Leid – aber politisch und rechtlich kommt es auf Details an.

Rafah, Gaza, 27. Mai: zwei Männer umarmen sich in einem durch einen israelischen Militärschlag zerstörtem Flüchtlingslager Foto: Jehad Alshrafi/ap

I n der Nacht zum Montag fliegt das israelische Militär einen Luftangriff auf ein Flüchtlingscamp in Tal as-Sultan im Süden des Gazastreifens. Ein Feuer breitet sich aus, Dutzende Menschen sterben. Es ist das Letzte, was ich vor dem Einschlafen lese. Am Morgen sehe ich die Meldungen der Nachrichtenagenturen: Israel habe in einer ausgewiesenen humanitären Zone bombardiert.

Moment. Israels Militär veröffentlich eine immer wieder aktualisierte Karte, die Gaza in verschiedene Zonen aufteilt. Ein Teil von ihnen ist gelb markiert – als humanitäres Schutzgebiet. Gehört Tal as-Sultan dazu? Während ich Zähne putze, suche ich auf der Seite des israelischen Militärs die Karte heraus. Meine Erinnerung ist richtig: Tal as-Sultan ist nicht Teil der gelb umrahmten Fläche. Doch sollte das Gebiet evakuiert werden? In den Beiträgen des arabischsprachigen Kanals der Armee auf X suche ich die letzten Evakuierungsaufrufe heraus – und merke: einen solchen gab es nicht.

Sind die Agenturmeldungen also falsch? Letztlich ändert das Detail, ob ein Bereich als „humanitäre Zone“ oder als Nicht-Evakuierungszone ausgewiesen war, nichts an den entstellten Toten und zerstörten Behausungen. Nichts am Leid der Menschen in Gaza, nichts an der Beklommenheit, wenn ich etwa an Sami denke, einen Journalisten aus Gaza, der immer wieder für die taz berichtet. Ist seine Familie noch in Rafah? Vielleicht sogar in Tal as-Sultan?

Trotzdem ist jedes kleine Detail in diesem Konflikt – der mit Waffen wie mit Worten geführt wird – wichtig. Noch nie habe ich in meinem Berufsalltag so häufig den Konjunktiv verwendet wie in den vergangenen acht Monaten. Wer war verantwortlich für die Raketen auf das Al-Schifa-Krankenhaus? Wie viele israelische Säuglinge starben tatsächlich am 7. Oktober? Wie viele Frauen und Kinder sind unter den Toten in Gaza?

Leid ist Leid. Auf einer menschlichen Ebene ändert eine gelb umrahmte Fläche mit der Aufschrift „humanitäres Gebiet“ auf einer Karte wenig. Auf politischer – und auf rechtlicher – schon.

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Redakteurin für Nahost
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8 Kommentare

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  • war Tal as Sultan, keine Safety Zone? Jedenfalls gibt es starke Hinweise, dass es z u v o r doch als solche ausgewiesen war, jedenfalls hat die IDF entsprechende Flugbletter abgeworfen: www.cbc.ca/news/wo...rael-war-1.7215999

  • Danke, dass Sie, dass die taz, sich die Mühe macht, auf solche Details zu achten. Leider eine Ausnahme in diesen Zeiten und besonders im Kontext dieses schrecklichen Konfliktes. Ich möchte Ihnen gerne berichten, dass die taz deswegen in den letzten Monaten für mich zur primären deutschsprachige Nachrichtenseite (nicht nur) im Kontext dieses Konfliktes geworden ist; und dass dies dann auch vor ein paar Wochen den Anstoß gab, Genosse zu werden.

  • Danke für diesen richtigen und besonnenen Hinweis. So schrecklich die Toten sind, es scheint zunächst plausibel, dass der Angriff - rein völkerrechtlich - in Ordnung ging und durch einen Unfall (Splitter) etwas nahebei in Brand geriet. Dass dies in der Weltöffentlichkeit und auch in der deutschen Presse weithin niemanden mehr interessiert (der "Spiegel" schreibt einfach nur: Inferno), ist ein Skandal. Warum sich realistischerweise an das Kriegsvölkerrecht noch halten, wenn es keinerlei Bonus mehr bringt - während die Gegenseite es fortlaufend verletzt und das wiederum niemanden mehr empört?

    • @LeoStein:

      "Warum sich realistischerweise an das Kriegsvölkerrecht noch halten, wenn es keinerlei Bonus mehr bringt"

      Warum sollte s ein Bonus bringen wenn sich ein angebl immer rechtstaatlich u demokratisch handelnder Staat an das Recht hält. Mal ehrlich, Israel hat sich viel zu oft und viel zu lange daran eben genau nicht gehalten.

    • @LeoStein:

      Ich frage mich echt wie man drauf sein muss, damit einem nicht etwa 40 Menschen lebendig zu Verbrennen als Skandal erscheint, sondern denen, die die Bombe abgeworfen haben, die Verantwortung zu geben.

  • "Leid ist Leid."

    Genau so ist es!

    Wer hat ganz aktuell Raketen auf Tel Aviv abgeschossen? Raketen, mit denen man gezielt(!) nichts treffen kann, außer gewollt(!) Zivilisten in dichter besiedelten Gebieten? Also Leid anrichten!

    "Wer war verantwortlich für die Raketen auf das Al-Schifa-Krankenhaus?"



    Nach allem, was wir wissen, waren es (sehr gut gesichert!) nicht die Israelis.

    "Wie viele israelische Säuglinge starben tatsächlich am 7. Oktober?"



    Macht es wirklich einen Unterschied, ob man einen oder mehrere Säugling(e) im Backofen zu Tode geröstet, erstickt, erschossen, geköpft oder abgestochen hat?

    "Wie viele Frauen und Kinder sind unter den Toten in Gaza?"



    Vermutlich viele! Aber das Aufrechnen von Opfern löst das eigentliche Problem nicht. Wie viele Frauen und Kinder wären unter den Toten in Israel, wenn Israel sich nicht gegen die Hamas-Terroisten aus Gaza wehren würde (könnte)?

    Israel nimmt zwecks seinger Verteidigung(!) auch zivile Opfer in Kauf, aber im Gegensatz zu den Hamas-Terroisten ist bislang nicht erkennbar, dass Israel primär (oder gar gezielt) Zivilisten attakiert.

    • @Al Dente:

      Es ist seit Monaten dasselbe.

      Auf der einen Seite haben wir eine Menge Konjunktive - wäre Israel nicht durch Hightech-Waffen geschützt würde es bestimmt - theoretisch - mutmaßlich Opfer geben). Und bestimmt wird nur auf Zivilisten gezielt. Klar, sind ja die Bösen.

      Auf der anderen Seite haben wir täglich neue, reale, zählbare, reale Menschen: Tote und Verstümmelte, denen tatsächlich tagtäglich die behaupteten Gräueln angetan werden. Natürlich sind das immer militärische Ziele. Bis es nicht mehr zu leugnen ist, dann vollkommen unabsichtlich zivile Ziele. Klar, sind ja die Guten.

      Stimmt, da gibt es nichts aufzurechnen.

      Sehr bequem in so einer schwarz weißen Fantasiewelt zu leben.

      • @ Martin Schneider:

        Es geht nicht um Schwarz und Weiß, um die Bösen und die Guten.

        Auch wenn ein Krimineller einen anderen Kriminellen attackiert, dann handelt jener, der angreift, im Unrecht, und der andere darf sich zu Recht so lange verteidigen, bis der Angreifer ihm nichts mehr anhaben kann.

        Selbst wenn sie ansonsten beide kriminell sind/waren, stehen sie in dieser direkten Auseinandersetzung (moralisch) nicht auf der gleichen Stufe.

        Angegriffen haben die Hamas und mit ihr verbündete Terroristen. Ihr Ziel (und das ist bestens belegt) ist die Auslöschung des Staates Israel. Und auch die Opfer in Israel waren/sind real und nicht theoretisch/mutmaßlich.