Aktivismus auf Tiktok: Buckelwale gegen die AfD
Rechte nutzen Tiktok, um ihre Inhalte zu verbreiten. Langsam formiert sich eine Gegenbewegung. Anthony Moriss ist Teil davon. Was kann man von ihm lernen?
H erzchen sollen jetzt also gegen die AfD helfen. Zumindest scheint Anthony Moriss genau zu wissen, was er da gerade tut. Mit dem Zeigefinger tippt er stakkatoartig aufs Smartphone, dass es in seiner Tiktok-App nur so vor animierten Herz-Emojis wimmelt. „Erhöht die Reichweite“, sagt er, den Bildschirm vor ihm unverwandt anstarrend. So einfach kann das sein? Kräftig Likes verteilen und schon ist die rechte Überpräsenz auf der Plattform wieder austariert?
Ein bisschen mehr braucht es schon, Zeit zum Beispiel. Fast vier Stunden hockt Moriss, 32, an einem Aprilnachmittag schon auf seiner mausgrauen Wohnzimmercouch unweit des Nürnberger Zentrums. Bis gerade lief über Moriss’ Tiktok-Kanal „anthony161_“ ein Livestream, in dem es wie so oft darum ging, was man gegen die Menge an AfDlern und anderen Rechtsextremisten tun könne. Er muss da nicht immer zuhören, es gibt nämlich auch die „Community“, wie er sein Netzwerk befreundeter Tiktokerinnen und Tiktoker nennt. Auch diese wissen nach all den Monaten, wie man AfD-Fans ausdauernd Kontra gibt.
Gleich hat sich Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen, per Liveschalte angekündigt. Sie findet es wohl gut, wie ein paar private Nutzerinnen und Nutzer da gerade erfolgreich eine Gegenbewegung zur AfD auf Tiktok an den Start bringen. „Ich glaube, das ist ihr erster Livestream“, sagt Moriss. Organisiert wurde er von Gwenny, einer anderen Tiktokerin, auf deren Kanal das Gespräch stattfinden soll. Sie habe, um Lang zu kontaktieren, ihren „ganzen Mut zusammengefasst“, sagt sie vorab in einem Ankündigungsvideo. So oft haben sie das in der Community noch nicht gemacht, mit anderen Politikerinnen und Politikern reden. Wobei man Lang schon vorab eine gewisse Grundaffinität unterstellen kann. Seit vielen Jahren postet sie Videos bei Tiktok.
Bis vor Kurzem galt die Plattform als ein Ort, an dem sich hauptsächlich die Jugend im Internet herumtreibt. Rund 73 Prozent der befragten 16- bis 19-Jährigen in Deutschland gaben im Jahr 2022 laut Statista-Angaben an, Tiktok zu nutzen. Wer nicht dort aktiv ist, hat zumindest schon einmal gehört, dass es dort kurze, schrille, schnell aufeinanderfolgende Videos zu sehen gibt. Es geht ums Tanzen und lebensgefährliche Mutproben, gleichzeitig nutzen Rechte Tiktok schon länger für sich, ohne dabei groß Gegenwind von demokratischer Seite zu bekommen. Vor allem die AfD, unterstützt von rechten Influencer*innen und Anhängern, verbreitet auf der Plattform politische Inhalte.
In den USA wird wegen der chinesischen Besitzstrukturen und des möglichen Einflusses aus Peking über ein mögliches Verbot der App diskutiert. Ein Gesetz, wonach der chinesische Mutterkonzern Bytedance die App innerhalb eines Jahres verkaufen soll, um so ein Verbot zu verhindern, hat bereits den Kongress passiert. In Deutschland weht ein anderer Wind. Immer mehr Politiker:innen melden sich trotz der Sicherheitsbedenken auf der Plattform an. Das könnte auch mit den Europawahlen, bei denen man erstmals ab 16 Jahren seine Stimme abgeben kann, zusammenhängen. Der Bundes- und Vizekanzler sind jetzt auf Tiktok. Die FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann auch. Parteien wie die Grünen oder die SPD mitsamt ihren Bundestagsfraktionen ebenso. Was können sie von Tiktokern wie Anthony Morris lernen?
Fünf Minuten, bevor sich die Grünenchefin dazuschalten will, hat der Livestream auf Gwennys Kanal bereits knapp 800 Zuschauer. Die Prominenz von Lang hilft. Normalweise schalten sich etwa 60 bis 70 Leute zu. Laut Moriss sind es in rechten Livestreams durchschnittlich etwa 200 bis 300. Der 32-jährige trägt einen Nasenring und Tunnelpiercings in dafür ausgedehnten Ohrläppchen, seine Haare sind hinten und an den Seiten kurz geschoren. Konzentriert schaut er weiter auf sein Smartphone. Es klemmt in einem kleinen, dreibeinigen Stativ, was auf dem Wohnzimmertisch vor ihm steht. Links daneben ist ein Laptop aufgeklappt, rechts steht hochkant ein Tablet.
Sie haben sich die Aufgaben in der „Community“ gut aufgeteilt: Gwenny soll das halbstündige Gespräch mit Ricarda Lang moderieren, eine andere Nutzerin bereits vorher gesammelte Fragen stellen. Die Aufgabe von Moriss ist es, möglichst alle im Chat aufploppenden Hassnachrichten, blauen Herzchen oder rechte Propaganda zu löschen. Sollte trotzdem jemand während des Gespräches mit Fake News um die Ecke kommen, kann Moriss diese auf seinem Laptop schnell faktenchecken. In den vergangenen Monaten hat er sich dafür ein Dokument in Google Docs angelegt. Darin hat er eine Art Best-of-Glossar der am häufigsten benötigten Faktenchecks aufgelistet, zum Beispiel wie hoch in Deutschland der Anteil von Straftaten durch Ausländer wirklich ist.
Tiktok-Livestreams, das kann man schon nach ein paar Minuten sagen, sind ein anderes Umfeld der politischen Kommunikation. Immer wieder klirrt und rauscht es im Livestream, weil Menschen aus dem Publikum Geldgeschenke machen. Moriss kommentiert: „Das waren mal eben 20 Euro.“ Visuell wird das dadurch verstärkt, dass etwa plötzlich ein Buckelwal durchs Bild schwimmt. Das Geld sowie Reaktionen wie Herzchen machen den Livestream sichtbarer auf der Plattform. Denn sie signalisieren dem Algorithmus von Tiktok: Aha, hier ist ein Livestream, der vielen Menschen gefällt, deswegen sollte er noch mehr Usern beim Durchscrollen angezeigt werden.
Oft kämen Geldgeschenke in den Livestreams nicht vor. Sowieso könne man mit Tiktok kaum Geld verdienen, so lange man nicht viele Follower hat. Denn Geldgeschenke für normale Videos können Userinnen und User erst ab 10.000 Followern erhalten. Etwa 20 Stunden verbringt Moriss pro Woche auf Tiktok, damit verdient er umgerechnet circa 1,30 Euro pro Stunde, der Rest landet bei der Plattform. „Würde ich viel Geld verdienen wollen, würde ich rechtsradikalen Content machen“, sagt Moriss. Bei rechten Livestreams sind laut Moriss die Geldgeschenke um ein Fünf- oder Sechsfaches höher.
Anthony Moriss, Tiktok-Aktivist
Auf Tiktok hat der 32-jährige knapp 8.500 Follower. Das ist nicht besonders viel, auch wenn diese Zahl, anders als bei Instagram, nicht dafür entscheidend ist, wie vielen Menschen seine Videos oder Streams angezeigt werden. Allerdings stößt man bei der Recherche nach anderen Akteuren, denen noch mehr Menschen folgen und die ähnlich wie Moriss engagiert sind, schnell an die Grenzen. So richtig wer anderes ist da einfach nicht. „Jemand, der politisch links ist, ist halt auch oft Individualist. Der hockt nicht den ganzen Tag auf Tiktok rum und sagt, links ist geil, sondern der hat auch anderes zu tun.“ Die Gegenseite hingegen sei da fokussierter: „Die haben eine Mission und die ist, alles Rechte nach vorne bringen“. Linke hätten ein solches Ziel hingegen nicht.
Das ändert sich jedoch langsam. Im Frühjahr initiierten Personen aus dem Umfeld von Fridays for Future etwa die #reclaimTikTok“-Bewegung. Diese möchte Tiktok von den Rechtsextremen zurückerobern. Auch Anthony Moriss blendet am Ende seiner Videos den Hashtag ein. Es soll damit eine Art Sammelbecken für eine Anti-rechts-Gegenbewegung geschaffen werden.
Zudem wurde Anthony Moriss in den vergangenen Wochen zu einem kleinen Medienphänomen. Er musste viel erzählen, wie er und die anderen die Demokratie auf Tiktok zu retten gedenken. Als Autor beim Spiegel schrieb er darüber im März einen Artikel. Noch am Tag der Veröffentlichung rief das ZDF bei Moriss für ein Interview an, ein paar Tage später saß er bei „hart aber fair“ mit Karl Lauterbach und Sascha Lobo. Bevor er einwilligte, sich für den Artikel in seiner Wohnung zu treffen, hatte Moriss bei der taz angerufen, um zu fragen, ob der Reporter auch wirklich dort arbeite. Es gebe genug Leute, die einfach nur seine Adresse herausfinden wollen, auch Morddrohungen von Rechten erhalte er regelmäßig über Tiktok. Das „Anthony Moriss“ in Wirklichkeit ein Künstlername ist, erfährt man zufällig später im Gespräch.
Genug zu tun hat Moriss eigentlich auch. 30 Stunden in der Woche arbeitet er als Pfleger in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, nebenher jobbt er noch an einer Tankstelle. Er ist Mitglied von zwei Metalcore-Bands, spielt regelmäßg Konzerte. Und trotzdem kann man das Gefühl haben, dass die Hauptrolle seines Lebens gerade die des Tiktokers „Anthony“ ist. „Ich wollte die Leute ärgern“, beschreibt Moriss seine Motivation, als er im vergangenen Oktober mit den ersten Videos und Livestreams anfing.
Er kannte das ja schon aus der Coronazeit, als er sich im Kittel von der Arbeit vor die Handykamera setzte und sich mit Schwurblern auf Tiktok anlegte. Auch damals habe er fast 10.000 Follower gehabt, allerdings sei der Account von Gegnern „totgemeldet“, also so oft bei Tiktok etwa wegen angeblich anstößiger Inhalte angezeigt worden, bis er gesperrt wurde. Derlei konzertierte Meldeschlachten sind auch heute ein gerne genutztes Mittel, um politisch unliebsame Nutzer lahmzulegen.
Livestreams in der Nachtschicht
Erst am Tag zuvor, so erzählt Moriss, seien wieder zwei seiner Videos wegen Verstößen gegen die Plattformregeln gesperrt worden. „AfDler haben natürlich Schiss davor, dass Content, wie ich ihn mache, eine größere Reichtweite bekommt.“ Auch deswegen sei es nach Ansicht von Moriss schwer, andere große Tiktok-Accounts gegen rechts zu finden. Gerade ist er auf der Suche nach einer Agentur, die derlei Probleme mit willkürlichen Sperrungen für ihn löst. Mit seinen Einnahmen von der Plattform würde er diese finanzieren.
Um Job und Aktivismus unter einen Hut zu bekommen, nutzt Moriss auch seine Nachtschichten. Einmal in der Stunde schaut er in die Zimmer der kleinen Patientinnen und Patienten, ob alles okay ist. Danach zieht er sich in den Pausenraum zurück und macht Livestreams, um sich mit seiner Community über die AfD auszukotzen. „Nachts laufen auch ganz viele Pro-AfD-Livestreams. Die sind richtig wild, mit Beleidigungen, Reichsflaggen, dem N-Wort.“ Für Menschen, die ihm folgen oder seinen Kanal in der Suchmaske eingeben und vielleicht auch für diejenigen, die seinen Livestream beim Durchscrollen vom Algorithmus vorgeschlagen bekommen, biete er eine Art Safespace.
Oder er bereitet Videos vor, die er am nächsten Tag posten will. Das ist oft ein Friemelwerk, denn erfolgreiche Tiktok-Clips leben davon, dass in ihnen in kurzer Zeit viel passiert. Gut eignen sich dafür fremde Videoausschnitte, diese kann man in der App ohne Weiteres in die eigenen Clips einbetten und hämisch kommentieren. In einer seiner erfolgreichsten Videos knüpft sich Moriss die letzte Neujahrsansprache von Alice Weidel vor. In Zwischenschnitten blendet er Grafiken ein, die ihre Aussagen über den angeblich dahinsiechenden Zustand Deutschlands konterkarieren sollen. Immer wieder verspottet er Weidel, fragt, wenn sie keine konkreten Beispiele nennt, ob sie so auch ihre Doktorarbeit geschrieben habe.
Ohne ein bisschen Provokation funktioniert es nicht. Wenn Moriss beschreibt, wie seine Gegner ihn auf Tiktok sehen, spricht er immer selbstironisch von dem „kleinen Jungen“, der mal wieder die Politik erklären wolle. Da schwinge schon mit, was er mit seiner Präsenz auf der Plattform eigentlich erreichen will, nämlich den Rechten das Leben dort möglichst schwer zu machen. In seinen Livestreams fordert Moriss AfD-Sympathisanten auf, ihm einen guten Grund zu nennen, warum man die Partei wählen sollte. 161 Tage hat er ihnen dafür Zeit gegeben. Eine durchaus symbolische Zahl, denn 161 ist auch der Code der Antifa, „@anthony161_“ heißt auch sein Tiktok-Kanal.
„Bisher“, sagt Moriss am Tag 118, „habe ich noch keinen guten Grund bekommen.“ Wobei er in den Gesprächen schon aufpasst, sich auf keinen Fall in eine diffuse, bauchgefühlige Ecke quatschen zu lassen. Irgendwann am Nachmittag meldet sich im Livestream auf Moriss’ Kanal der User „@djhotte“ zu Wort. Er finde es unfair, wie mit dem ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister in Raguhn-Jeßnitz, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, umgegangen wird. Dass dieser seine Wahlversprechen nicht einhalten kann, hänge doch mit der fehlenden Unterstützung zusammen. Überall werde nur noch gehetzt, egal ob links oder rechts. Das sei das Problem.
Moriss: „Du sagst, du hast das AfD-Programm studiert, dann kannst du mir ja sicher sagen, was auf Seite 23 im unteren Absatz steht. Da steht, dass die AfD das AGG (Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, d. Red.) abschaffen möchte. Wie du weißt, werden Leute in Deutschland diskriminiert, weil sie schwul, lesbisch, jünger sind. Es gibt Gesetze, die dich schützen. Warum möchte die AfD das machen? Und warum findest du das gut?“
@djhotte: „Das ist in jeder Partei so.“
Moriss: „Ich hab das nur von der AfD gelesen.“
@djhotte: „Und die anderen Parteien dürfen uns in den Ruin treiben?“
Moriss: „Es geht ja gerade um Diskriminierung, nicht um in den Ruin treiben.“
@djhotte: „Ich sag mal, soll jeder für sich selber entscheiden.“
Moriss: „Ja schon, aber dann kannst du es nicht mehr.“
@djhotte: „Ich habe das Gefühl, dass sich in den letzten 10 Jahren viel verändert hat.“
Moriss: „Ja, weißt du, welche Partei es seit 10 Jahren gibt?“
@djhotte: „Ja gut, äh, aber 2015 hatte sie doch kein Einfluss gehabt, wo das losging. Hätte man ja auch alles kontrollierter machen können. Ich möchte nicht Vater oder Mutter sein und meine Tochter muss ihr Leben lassen, weil so ein paar durchgeknallt sind auf der Straße.“
Moriss: „Das hat ja nichts mit Flüchtlingen zu tun, das machen ja Deutsche genauso. (Er nimmt das Handy aus dem Stativ und filmt seinen Laptop ab.) Ich kann dir die Statistiken zeigen, zu 92 Prozent sind das nicht Zuwanderer, die das machen.
@djhotte: „Na ja gut, ich kann dir das jetzt nicht gegenteilig beweisen. Du darfst den nächsten reinholen.“
Geht man von der Stimme aus, müsste DJ Hotte um die 50 Jahre alt gewesen sein, eine Altersgruppe, die scheinbar gar nicht so selten auf Tiktok vertreten ist – besonders in den Kommentarbereichen der AfD-Accounts. „Aber sie sind auch die leichtesten Gegner“, sagt Moriss. Menschen mittleren Alters auf Tiktok in Gesprächen zu beeinflussen, sei am einfachsten: „Sie sind nicht jung genug, um sich schnell weitere Informationen in ihrem Sinne zu beschaffen, und auch nicht alt genug, dass ihnen alles egal wäre, was ich sage.“
Letztlich enden die Gespräche sowieso immer bei den gleichen Themen. Atomstrom, angeblich aggressive Flüchtlinge, Frauen mit Kopftuch, für Moriss hat sich da mittlerweile eine gewisse Redundanz eingestellt. Er fühlt sich wie ein Schachspieler, immer weiß er eigentlich schon, wie wohl die nächsten fünf Züge des Gegners aussehen werden. Wichtig bleibt aber: Niemals selbst zu viel mit eigenen Behauptungen angreifen, so dass „die oder der dich im Würgegriff bekommen könnte“. Stattdessen lieber immer nur Nachfragen stellen, das bringt die Gegenseite wieder in Zugzwang.
„Ich weiß“, sagt Moriss aber auch nach der Diskussion mit @djhotte, „das war jetzt auch nicht die feine Art von mir.“ Auf zwei von drei Aussagen sei er gar direkt eingegangen, „aber das machen die ja auch nicht“. Klar könne man ihn dafür kritisieren, aber er spiegele nur das Verhalten der Rechten, um ihnen zu zeigen, wie unfair sie sich in Diskussionen verhalten. Die App sei zwar für viele Menschen mittlerweile so etwas wie eine Suchmaschine. „Allerdings“, sagt Moriss, „guckt sich ein normaler AfDler kein 5-Minuten-Infovideo an.“ Nur mit demokratischem Diskurs ist heute auch nicht mehr getan, so muss man ihn da wohl verstehen.
Möchte Anthony Moriss also wirklich Rechte auf Tiktok überzeugen, etwas weniger rechts zu sein, hat er eine schwierige Aufgabe zu lösen: er muss mit kurzen, zuspitzenden Statements auf sich aufmerksam machen, zugleich aber der Komplexität der politischen Wirklichkeit irgendwie noch gerecht werden. Deswegen kommt für ihn vor dem Informieren immer auch das Provozieren.
Mehr noch als bei den anderen sozialen Netzwerken zeigt der Algorithmus bei Tiktok den Nutzerinnen und Nutzern gezielt Videos an, die auf ihrem bisherigen Sehverhalten basieren. Wer da einmal Videos, in denen gegen Geflüchtete oder queere Menschen gehetzt wird, in voller Länge angeschaut hat, kommt so schnell aus der Blase nicht mehr raus. Hinzu kommt, dass besonders solche Clips nach vorne gespult werden, die der Algorithmus für besonders erfolgversprechend hält. Deswegen hat das viele Herzchen- und Geschenkeverteilen nicht nur eine symbolische Funktion.
Von einem Verbot großer rechter Accounts oder einer Reichweiteneinschränkung, wie das Tiktok neulich beim AfD-Europaspitzenkandidaten Maximilian Krah gemacht hat, hält Anthony Moriss nichts. „An Reichweite verlieren die dadurch nichts, weil es dann eben 200 neue Accounts gibt, die das Zeug veröffentlichen.“ Außerdem würden die Rechten so wieder nur in ihre Opferrolle schlüpfen können. Effektiver sei es, wenn sich noch mehr Leute wie er auf Tiktok demokratisch positionieren würden. Ein rechter Account, erklärt er pragmatisch, könne sich niemals die Reichweite von einem linken Account klauen, weil dieser im Vergleich viel zu wenig habe. Aber ein linker Account könne sich umgekehrt immer was von der Reichweite der Rechten abgreifen. Deswegen finde er es grundsätzlich auch gut, wenn immer mehr Politikerinnen und Politiker, trotz all der Sicherheitsbedenken, jetzt zu Tiktok kommen.
Vor der Liveschalte mit Ricarda Lang hat Moriss in einer Art Warm-up-Show auf seinem eigenen Kanal dazu aufgerufen, doch bitte teilzunehmen, wenn man der Meinung sei, dass die Grünen das Land kaputt machen. Das solle man der Parteivorsitzenden ruhig an den Kopf werfen. „Sagt ihr, dass sie in einer Sekte ist, vielleicht antwortet sie drauf.“ Nichts von alledem wird tatsächlich im Gespräch zu Lang durchdringen, dafür sorgen Moriss und die Community.
Im Livestream bekommt die Grünen-Vorsitzende nur Fragen von ausgewählten Leuten gestellt. Man erfährt, dass die Partei das Fleischessen nicht verbieten wolle, dass man weiter mit Mopeds im Straßenverkehr fahren dürfe und dass es übrigens schon Langs zweiter Livestream auf Tiktok war. Nach einer halben Stunde verabschiedet sie sich zum nächsten Termin. „Haben sie gut gemacht“, meint Moriss über seine Community. Klar, einige rechte Botschaften und herablassende Kommentare über Langs Körper musste er während des Gesprächs löschen, aber gekapert wurde der Livestream nicht – ein kleiner Erfolg im mühsamen Kampf gegen rechts auf Tiktok.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Demokratie unter Beschuss
Dialektik des Widerstandes