Exit vom Brexit?

Von den Folgen des Brexits sind vor allem jene Abgehängten betroffen, die mehrheitlich für ihn gestimmt hatten. Ein Zurück wird es aber auch mit Labour nicht geben

Foto:  Illustration: Katja Gendikova

Von Sascha Zastiral

Man kann in Großbritannien in diesen Tagen in vergleichsweise kurzer Zeit etwas beobachten, das sich anderswo jahre- oder jahrzehntelang hinzieht: das Scheitern einer Utopie. Gemeint ist, wie sollte es anders sein: der Brexit.

Dabei ist der Brexit an sich, rein technisch betrachtet, eine unumstößliche Tatsache. Was derzeit jedoch zerplatzt, sind die Ideengebilde, die Brexit-Unterstützer um den EU-Austritt herum errichtet haben. Ein Stichwort wäre der fast schon vergessene Slogan „Global Britain“. Unter britischen Europaskeptikern herrschte lange die Vorstellung vor, dass ein „entfesseltes“ Großbritannien wieder gleichberechtigt am Tisch mit den Supermächten der Welt Platz nehmen würde, sobald es sich nur aus der für seine Verhältnisse viel zu kleinen und unwichtigen EU befreien würde. Hinter diesen Träumereien steckte oft nichts anderes als ­Empire-Nostalgie.


Eingetreten ist das Gegenteil. Der EU-Austritt hat Großbritanniens internationales Ansehen geschmälert und den Ruf des Landes ramponiert. Seit Jahren kann man auf internationalen Gipfeln beobachten, wie britische Regierungschefs mehr oder weniger erfolglos versuchen, sich als wichtige Ansprechpartner in Debatten einzubringen. Auf Fotos mit anderen Staats- und Regierungschefs, die oft einen Hinweis auf den internationalen Status von Staaten geben, muss man den Noch-Premier Rishi Sunak nicht nur deswegen bisweilen länger suchen, weil er relativ klein ist ist. Hätte er den Brexit nicht selbst seit vielen Jahren unterstützt, könnte er einem fast leidtun. So viel zum Thema Supermacht.

Britische Premiers verweisen seit dem Leave-­Votum besonders häufig darauf, dass Großbritannien einer der wenigen europäischen Staaten ist, die in der Lage sind, binnen kurzer Zeit interna­tio­nal militärisch aktiv zu werden. Doch das hat mit dem Brexit nichts zu tun. Auch als EU-Mitglied hat Großbritannien an Militäreinsätzen im Ausland teilgenommen, etwa im Irak, in Bosnien und in Afghanistan. Schaut man sich die Einsatzbereitschaft der britischen Streitkräfte genauer an, blättert schnell reichlich Lack ab.

Von den wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind heute tragischerweise viele der wirtschaftlich abgehängten Regionen besonders stark betroffen, in denen es beim EU-Referendum 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gab. Dass die Menschen dort für den Brexit gestimmt haben, hatte oft weniger mit einer Sehnsucht nach einem Status als Weltmacht zu tun als mit dem Willen, gehört zu werden.

Der damalige Premier David Cameron hatte nach seinem Amtsantritt 2010 die Rezession nach der Finanzkrise dazu genutzt, ein drakonisches und zutiefst ideologisches Austeritätsprogramm in Gang zu setzen. Das vordergründige Ziel, eine Beseitigung des Defizits, wurde nie erreicht. Stattdessen verlängerte der Sparkurs die Wirtschaftskrise um Jahre. Die öffentlichen Dienste, allen voran das Gesundheitssystem NHS, wurden schwer beschädigt. 2019 stellte die damalige Premierministerin Theresa May das Projekt klammheimlich ein. Doch die Folgen waren schon da verheerend: Eine 2022 im Journal of Epidemiology and ­Community Healthveröffentlichte Studie kam zu dem Schluss, das die Austerität zwischen 2012 und 2019 landesweit für rund 335.000 zusätzliche Todesfälle gesorgt haben könnte.

Wie schwer die Verwerfungen waren, die er in vielen Landesteilen mit seinem drakonischen Sparkurs angerichtet hat, war David Cameron offenbar gar nicht bewusst, als er im Februar 2016 das EU-Referendum für den 23. Juni desselben Jahres ausrief. Die zentrale Rolle beim wohl größten Akt na­tio­naler Selbstsabotage in jüngerer Zeit fällt jedoch einem anderen Protagonisten zu: Boris Johnson.

Wie kalkulierend der begnadete Opportunist und „Bullshitter“ Johnsonseinerzeit vorging, belegt ein einfacher Umstand: Johnson beschrieb damals in einer Kolumne im konservativen Daily ­Telegraph, warum er sich für einen EU-Austritt einsetzt. Später wurde bekannt, dass er zugleich auch eine alternative Kolumne geschrieben hatte. Und in der sprach er sich für einen Verbleib in der EU aus. In den Jahren zuvor hatte Johnson immer wieder erklärt, dass er kein „Outer“ sei. Offenbar traf er seine Entscheidung erst in letzter Minute. Von einer tiefen Überzeugung kündet das nicht.

Die „Vote Leave“-Kampagne erhielt durch Johnson jedoch einen bedeutenden Schub, er wurde schnell zum Aushängeschild der Brexit-Unterstützer. Mit seinem liberalen Image, das ihm als Bürgermeister der Weltmetropole London anhaftete, verlieh Johnson dem bis dahin verbitterten rechtspopulistischen Projekt einen moderaten Anstrich. Heute zweifelt kaum jemand daran, dass Johnson die Leave-Kampagne nur deswegen unterstützte, weil er sich davon einen politischen Vorteil erhofft hatte.

Offenbar glaubte Johnson auch gar nicht daran, dass Leave gewinnen würde. Als die Leave-Seite das Referendum dann überraschend doch gewann, war Johnson das Entsetzen anzusehen. Am Morgen nach dem Referendum verlas er mit versteinerter Miene eine Erklärung. Vom kumpelhaften Johnson-Elan fehlte jede Spur. Er blickte immer nur kurz vom Blatt auf, um seinen Blick sofort wieder zu senken, ganz so, als könne er es nicht ertragen, Leuten in die Augen zu schauen.

Bis Johnson sein erklärtes Lebensziel erreichte und Premierminister wurde, dauerte es noch einmal drei Jahre. Im Amt verstrickte sich Johnson aber, wie zu erwarten, dermaßen schnell in Lügen und Skandale, dass ihn sein eigenes Kabinett im September 2022 stürzte. Vielen Briten ging damals auf, dass sie einem politischen Trickbetrüger aufgesessen waren. Ihnen dämmerte, dass wohl auch Johnsons Brexit-Versprechen nicht viel mehr waren als heiße Luft.

Foto: weltreporter.net

Sascha Zastiral

war von 2007 bis 2010 Süd­asien­kor­res­pon­dent der taz. Seit Februar 2016 berichtet er für das Netzwerk Die Weltreporter aus London.

Nach Anzeichen für das Scheitern des Brexit-Projekts muss man heute nicht lange suchen. Von den viel gepriesenen neuen weltweiten Handelsabkommen, die der Brexit ermöglichen sollte, fehlt weiter jede Spur. Zwar hat London seit dem EU-Austritt 71 Freihandelsabkommen oder Handelsvereinbarungen unterzeichnet. 68 von ihnen sind aber sogenannte Roll-over-Abkommen, die noch aus der Zeit stammen, als das Land Teil des Europäischen Binnenmarkts war. Neue Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland, die London gerne als Brexit-Erfolge feiert, fallen wirtschaftlich kaum ins Gewicht.

Im Gegenzug wird die britische Landwirtschaft darunter leiden, wenn gemäß den aus Sicht von Experten stark einseitigen Abkommen in den kommenden Jahren immer mehr australisches und neuseeländisches Fleisch zollfrei nach Großbritannien exportiert werden kann. Zugleich fährt die Regierung die Landwirtschaftssubventionen aus EU-Zeiten rapide zurück. Geplante alternative Zahlungen, die Bauern stärker für Dinge wie Landschaftspflege entlohnen sollen, kommen nur langsam in Gang. Kein Wunder, dass laut einer Umfrage des Landwirtschaftsverbands ­National ­Farmers’ Union die Stimmung unter britischen Landwirten so schlecht ist wie lange nicht. Dabei war die Zahl der Brexit-Unterstützer unter den Landwirten besonders hoch.

Hoch ist auch der Preis, den das Land für die ­Brexit-Utopie zahlt: Die Ausgabenwächter vom Office for Budget Responsibility gehen davon aus, dass das britische Handelsvolumen seit dem EU-Referendum um 15 Prozent niedriger ausgefallen ist, als es bei einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft der Fall gewesen wäre. Die britische Wirtschaftsleistung wird dadurch vermutlich über einen Zeitraum von 15 Jahren um 4 Prozent niedriger ausfallen als ohne EU-Austritt.

Aber hat der EU-Austritt das Land nicht demokratischer gemacht? Auch hier ist das Gegenteil eingetreten. Wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Probleme, die der Brexit zweifellos verstärkt hat, wird die Regierung in London schon seit Johnsons Zeit als Premier zunehmend autoritärer. Das selbst aus Sicht der britischen Justiz illegale Vorhaben, Asylbewerber noch vor Abschluss ihrer Verfahren nach Ruanda zu deportieren, rückt Großbritannien international in Richtung eines Paria­staats. Mit den geplanten Abschiebungen, die noch aus Johnsons Zeit als Premierminister stammen, stemmt sich Sunak gegen einen weiteren Beleg dafür, dass der Brexit als ideologisches Konzept gescheitert ist. Denn die Nettoeinwanderung stieg im vergangenen Jahr trotz einer res­triktiven Einwanderungspolitik auf einen neuen Rekordwert von 745.000 Personen. Dabei haben die Vertreterinnen und Vertreter der Leave-Seite im Vorfeld des Referendums immer wieder angedeutet, dass ein EU-Austritt zu einem Rückgang der Einwanderung führen würde.

Unter den Menschen, die alltäglich mit den Folgen des gescheiterten Brexit-Projekts leben müssen, hält sich die Begeisterung über den EU-Austritt mittlerweile in Grenzen. Einer kürzlich Umfrage zufolge glaubt nur noch einer von zehn Briten, dass der Brexit ihre finanzielle Situation verbessert hat. Fast zwei Drittel glauben, dass der Brexit zur Inflation und zu den hohen Lebenshaltungskosten beigetragen hat. Nur noch 22 Prozent gaben an, dass der Brexit für das Land positiv gewesen ist. Für das Phänomen gibt es mittlerweile einen Namen: Bregret.

Nur noch 22 Prozent glauben, dass der Brexit positiv für das Land war. Für das Phänomen gibt es mittlerweile sogar einen Namen: Bregret.

Zeit also, über einen „Brejoin“ nachzudenken, einen erneuten Beitritt zur EU? Die Labour Party, die allen Umfragen zufolge nach den kommenden Parlamentswahlen die Regierung des glücklosen Brexit-Unterstützers Sunak ablösen wird, wiegelt ab. Unter Labour werde Großbritannien weder dem Europäischen Binnenmarkt beitreten noch der Zollunion, erklärte die Parteiführung schon vor einiger Zeit. Labour-Chef Keir Starmer möchte das Verhältnis zum größten und wichtigsten Handelspartner des Landes aber in jedem Fall „verbessern“.

Offensichtlich scheut sich die Labour-Führung davor, die gerade erst oberflächlich verheilten Wunden wieder aufzureißen, die der jahrelangen Brexit-Streit in die britische Gesellschaft gerissen hat. Auf eine Neuauflage der Brexit-Hickhacks hat sowohl in Großbritannien als auch in der EU derzeit wohl kaum jemand Lust.

Labour-Insider munkeln allerdings, dass sich diese aktuell recht starre Haltung in einigen Jahren ändern könnte. Wenn im Lauf der Zeit klar werde, dass sich ein eindeutiger Großteil der Menschen im Land ein Ende des Brexit-Experiments wünscht, so die Hoffnung, könnte eine zukünftige Labour-Regierung eine Debatte in Gang setzen, an deren Ende Großbritannien wieder deutlich näher an seine europäischen Nachbarn rückte. Gescheitert ist die rechtspopulistische Brexit-Utopie in jedem Fall schon heute.