Sachbuch „Deutschland der Extreme“: Thüringen extrem
Politik in Thüringen hat seit vielen Jahrzehnten ihre eigenen Gesetze. Ein neues Sachbuch fragt, was die Republik daraus lernen kann.
Björn Höcke beeinflusst die AfD in Deutschland wie kein Zweiter. Dabei bleibt er nur in Thüringen, dem aktuell einzigen Bundesland, wo eine Minderheitenkoalition regiert, die wiederum der einzige Ministerpräsident der Partei Die Linke, Bodo Ramelow, anführt. Der ist mittlerweile seit mehr als neun Jahren im Amt – nur 2020 für einen Monat unterbrochen von Thomas Kemmerich, der als wiederum einziger FDP-Ministerpräsident von der AfD gewählt worden war.
Politik in Thüringen läuft eben etwas anders. Und doch lassen sich „nahezu alle wichtigen Konflikte der Bundesrepublik nachvollziehen“, schreibt der Journalist Martin Debes in seinem neuen Buch „Deutschland der Extreme: Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“. Zeitlich gut geplant vor der anstehenden Landtagswahl im September erzählt Debes darin, wie sich die parlamentarische Politik Thüringens entwickelt hat.
Debes berichtet niederschwellig, reichert den Text mit Hintergrunddetails an und verknüpft Personen, Daten und Ereignisse. Den Ereignissen nähert er sich chronologisch. Mit Höcke eröffnet der Prolog, mit Ramelow beginnt das erste Kapitel: der Fokus ist klar gesetzt. Aber er bleibt nicht dabei. Debes geht zurück zu den Anfängen des Landes vor gut 1.500 Jahren, trifft Überbleibsel des Thüringer Adels oder berichtet augenzwinkernd vom „Thüringer Meer“.
Er beschreibt eindrücklich, wie sich die NSDAP trotz Verbots in Thüringen breitmachte, dort schließlich das erste Konzentrationslager errichtete und Adolf Hitler in einem Weimarer Hotel die „Führersuite“ bezog.
Martin Debes: „Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“. Ch. Links Verlag, Berlin 2024, 280 Seiten, 20 Euro
Kein homogenes Gebiet
Später legt Debes mit vielen Daten dar, wie das Leben für die Menschen in Thüringen nach der DDR aussah. Dabei wird auch deutlich, weshalb Debes betont: „Ostdeutschland ist kein homogenes Gebiet.“ Und wieder belebt er szenisch die Erzählung, etwa mit Helmut Kohls Rede 1992 auf dem Erfurter Domplatz vom anstehenden „blühenden Gemeinwesen“ Thüringens. So spannend dieser historische Abriss ist, die klare Stärke des Buchs liegt bei der aktuellen Politik.
Debes fächert auf, wie sich Politiker:innen in der CDU gegenseitig ausbooten, SPD-Genoss:innen zerstreiten oder ein Linker eine Christdemokratin im Parlament unterstützt. Dabei zeigt sich, weshalb Debes 2023 zum Regionalreporter des Jahres gekürt wurde. Der 1971 in Jena geborene Journalist zitiert nicht nur aus öffentlichen Quellen und eigens geführten Gesprächen, sondern auch mal aus SMS der Ministerpräsidenten.
Bemerkenswert ist auch seine Auseinandersetzung mit Björn Höcke und der AfD. Auch hier leitet er über die historische Entwicklung zu den aktuellen Ereignissen hin. So macht er deutlich, wie geschickt Höcke sich in die Thüringer Politik eingegliedert hat, und erklärt etwa, warum die Beobachtung durch den Verfassungsschutz Höcke nicht schadet. Das ist auch aufschlussreich für das Agieren der AfD in der Bundesrepublik.
Die Analyse des angekündigten Transfers von Thüringen auf die Bundesebene fällt etwas dünn aus. Zudem bleibt alles, was sich abseits der Parteien abspielt, weitestgehend außen vor.
Immer wieder überraschend
Am Ende steht „Deutschland der Extreme“ aber vor einem großen Problem. Die Politik in Thüringen folgt nicht nur ihren eigenen Regeln, sie ist auch unbeständig, immer für Überraschungen gut. Wie sich Thüringens CDU-Chef Mario Voigt gegen Höcke bei Welt TV geschlagen hat, warum der wiederum in einem neuen Wahlkreis antritt oder dass Bodo Ramelow eine Koalition mit CDU und BSW nicht ausschließt, steht zum Beispiel nicht mehr im Buch.
Hat das Buch also spätestens mit der Landtagswahl ein Verfallsdatum? Nein. Denn die von Debes verdichtete Geschichte seines Heimatlands hilft auch darüber hinaus, Thüringen, Höcke oder Ramelow zu verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen