Schach-Weltmeister Ding Liren: „Ich möchte ein netter Mensch sein“

Ding Liren ist nach dem WM-Triumph in ein tiefes Loch gefallen. Bald steht die Titelverteidigung an, in die er mit einem neuen Spielstil gehen will.

Ding Liren mit geschlossenen Augen vor dem Schachbrett

Grübelnder Genius: Ding Liren bei einer Partie Chess 960 Foto: Marcus Brandt/dpa

taz: Herr Ding, vor mehr als einem Jahr haben Sie gesagt, dass Sie nicht berühmt werden wollen. Dann sind Sie Schach-Weltmeister geworden.

Ding Liren: Die Berühmtheit hält sich in Grenzen. Am Flughafen bei der Abflugkontrolle bat mich allerdings ein ausländischer Fan um ein Foto mit mir.

Sie sind weltweit eher bekannt als in China.

Ja, das kann gut sein. Bei uns ist Go und chinesisches Schach Xiangqi beliebter als das westliche Schach.

Der Denker: Der Chinese erlernte das Schachspiel im Alter von vier Jahren in seiner Heimatstadt Wenzhou. Seit 2015 ist er der beste Spieler Chinas. Beim Kandidatenturnier in Madrid im Jahr 2022 belegte er den zweiten Platz hinter Jan Nepomnjaschtschi aus Russland. Da sich Weltmeister Magnus Carlsen entschied, seinen WM-Titel nicht zu verteidigen, spielten Nepo­mnjaschtschi und Ding in der Schach-WM 2023 um den Titel. Ding gewann und ist damit der 17. Schachweltmeister und der erste chinesische.

Das Turnier: Aktuell wird in Toronto der Herausforderer des Titelverteidigers Ding Liren bei der Schach-WM 2024 ermittelt. Es nehmen acht Spieler daran teil, darunter drei Inder, zwei US-Amerikaner und je ein Spieler aus Frankreich, Aserbaidschan und Russland. Die ersten Plätze belegen derzeit Nepomnjaschtschi, der Inder Dommaraju Gukesh und der US-Amerikaner Hikaru Nakamura. Ort und exakter Termin der WM stehen noch nicht fest.

Sie können also anders als etwa die Tischtennis-Asse Ma Long oder Fan Zhendong unbehelligt über die Straße laufen?

Mit Sicherheit. Das sieht man auch in den sozialen Medien. Ich habe dort nur rund 20.000 Follower, das ist nicht allzu viel für ein Milliardenvolk.

Normalerweise plustert so ein Titel doch das Ego auf. Man fühlt sich großartig. Bei Ihnen war das anders. Sie fielen in ein tiefes Loch und waren monatelang weg.

Ich hatte einige Probleme, das ist richtig. Ich war erschöpft, konnte aber trotzdem nicht besonders gut schlafen. Das führte zu einer Depression. Ich wurde zweimal in einer Klinik behandelt. Glücklicherweise wird es langsam wieder besser. Schach ist psychisch anstrengend – und wenn man nicht gut schlafen kann, ist das fatal. Immerhin konnte ich meine Tabletten von einst vier am Tag reduzieren auf derzeit eine.

Sind Sie ein sensibler Typ? Es hieß auch, Sie hätten nach dem Titelgewinn geweint.

Ja, der Weltmeisterschaftszweikampf dauerte so lange und war so anstrengend. Ich habe mein Bestes gegeben und dachte nach dem Titelgewinn an die viele Arbeit vor dem Wettkampf. Die Gefühle und die Erinnerungen übermannten mich. Deshalb musste ich weinen.

Sie gehen erstaunlich offen mit Ihren Gefühlen um. Muss ein Profisportler nicht hart zu sich selbst und anderen sein?

Ich war wohl so taff, bevor ich meine mentalen Probleme bekam. Deshalb zeigte ich plötzlich Emotionen. Nun versuche ich wieder ausgeglichener zu werden. Ich habe nun auch einen Arzt, der mir mental hilft. Mit dem bespreche ich allerlei. Einen Mentalcoach wie die Tischtennisspieler, der einen für die spielrelevanten Dinge wappnet, habe ich nicht.

Sie setzen gern auf wenige Kräfte, scheint mir. Auch Ihr Sekundantenteam war mit Ihrem ungarischen Freund Richard Rapport sehr schmal besetzt. Magnus Carlsen leistet sich dagegen einen ganzen Stab an Helfern, die ihm Eröffnungsideen zutragen.

Ich mag es nicht, wenn zu viele Leute um mich herum sind. Ich hatte aber neben Richard schon Sekundanten im Hintergrund, die mir zusätzlich bei der Eröffnungsvorbereitung halfen.

Sind Sie vielleicht zu empfindsam für einen großen Spieler? Die Legenden der Schachszene waren Egomanen und restlos von sich überzeugt, allen voran der US-Amerikaner Bobby Fischer, aber auch der Russe Garri Kasparow.

Ich versuche, ein netter, freundlicher Mensch zu sein. Ich pflege auch andere Hobbys wie Fußball, Basketball oder Tischtennis.

Wen halten Sie als berufener Mann vom Fach für den besten Schachspieler aller Zeiten?

Carlsen und Kasparow liegen eng beieinander. Nimmt man die Zahl der gewonnenen Weltmeisterschaftstitel als Maßstab, liegt Kasparow um einen Titel vorn. Er hat die Szene damals über alle Zeitkontrollen hinweg beherrscht – von Blitzschach über Schnellschach bis zum klassischen Turnierschach. Nichtsdestotrotz denke ich, dass Carlsen der stärkste Spieler aller Zeiten ist.

Sie haben ja auch schon mit ihm zusammengearbeitet.

Ja, 2015 gehörte ich zu seinem Team in Katar. Wir spielten ein paar Schnellschachpartien und ziemlich viel Basketball. Im Basketball waren wir ähnlich gut, im Fußball ist er deutlich besser. Wir sind aber beide keine großen Redner, weshalb wir uns nicht sonderlich ausgetauscht haben.

Nervt es, dauernd auf Carlsen angesprochen zu werden? Sie sind doch der Weltmeister.

Es ist okay für mich, weil er der stärkste Spieler ist. Außerdem hat er den größten Einfluss auf die Schachwelt und auch außerhalb. Ohne ihn würde weniger passieren. Er ist ein charismatisches Vorbild.

Sehen Sie den WM-Titel als Geschenk von ihm an Sie an?

Seine Entscheidung, nicht mehr anzutreten, hat mich wirklich überrascht! Den Titel kampflos abzugeben, ist eine wirklich harte Entscheidung. Wir erfuhren aber auch als Grund, dass er kein Interesse mehr hat an Schach mit klassischer Zeitkontrolle. Er spielt lieber mit kurzer Bedenkzeit Blitz- oder Schnellschach. Er setzt außerdem verstärkt auf Chess 960.

Das ist die Schachvariante, bei der die Grundstellung vor der Partie unter 960 Möglichkeiten ausgelost wird. Was halten Sie davon?

Ich mochte es, auch wenn ich beim ersten Mal nicht so gut war. Das Spiel frei von Eröffnungsvarianten war wie frische Luft, die in ein Zimmer strömt. Ohne all das Eröffnungswissen ist es allerdings für mich eben schwieriger zu spielen. Vom ersten Zug an denken zu müssen, ist ungewohnt und schwierig.

Könnten Sie sich nach der Erfahrung mit Ihrer Depression vorstellen, wie Carlsen auf eine Titelverteidigung zu verzichten, weil die möglicherweise zu anstrengend wäre?

Nein, sich zu solch einer weitreichenden Entscheidung durchzuringen, scheint mir unvorstellbar. Richard Rapport hat mir als guter Freund geholfen, besonders im mentalen Bereich, damit ich während der WM mit dem Druck klarkomme.

Rapport gilt als sehr origineller Spieler, der verrückte Ideen hat. Er ergänzt sich mit Ihnen vermutlich, weil er ein anderes Denken als Sie hat.

Ja, wir haben unterschiedliche Herangehensweisen. Am Anfang der Zusammenarbeit war es deshalb schwierig mit uns. Er spielt anders als die meisten. Aber nachdem wir zusammen alle Partien analysiert hatten, erweiterte das meinen Horizont und verbesserte mein Spielverständnis. Bei der WM hat er mich auch immer mit Witzen aufgeheitert.

Beim Turnier aktuell in Karlsruhe haben Sie nur das Spiel um Platz fünf gegen den Qualifikanten Daniel Fridman gewonnen. Haben Sie sich nicht mehr erwartet?

Ich wollte nicht Letzter werden. Das habe ich geschafft. Beim letzten Turnier in Deutschland wurde ich Letzter. Das wollte ich vermeiden.

Ein bescheidenes Ziel für den Weltmeister.

Ich dachte auch erst, dass ich nach dem WM-Sieg einige Turniere gewinnen sollte. Inzwischen denke ich zwangsläufig anders: Meine Bilanz ist seitdem wirklich mies.

Einst haben Sie die Fans mit einer Serie von mehr als 100 Partien, in denen Sie ungeschlagen geblieben sind, begeistert.

Ja, das stimmt, ist aber vier Jahre her. Mein Stil hat sich verändert. Früher habe ich solider gespielt und war kaum zu schlagen, jetzt gehe ich aggressiver heran. Dadurch wurde ich verletzlich und verliere zuweilen.

Was halten Sie von dem 19-jährigen Vincent Keymer? Kann der deutsche Großmeister mal Ihr Nachfolger werden?

Er spielt sehr gutes Schach. Er hat mich vor Karlsruhe schon zweimal geschlagen (überlegt kurz). Nein, Entschuldigung, sogar dreimal!

Dann fürchten Sie ihn mehr als Magnus Carlsen?

Der Bilanz nach schon. Ich habe ihn nur einmal bezwingen können – bei einem On­line­wettbewerb.

Lassen Sie uns über Tischtennis reden, den chinesischen Nationalsport. Spielen Sie öfter?

Ja, eigentlich täglich, wenn ich zu Hause bin.

Mit wem?

Mit meinem Vater Ding Wenjun.

Wer gewinnt?

Ich gewinne meistens, aber es ist meist äußerst knapp. Oft geht es in den engen Sätzen 4:3 für mich aus. Ich spiele mit Shakehand-Griff, mein Vater spielt wie die meisten Chinesen Penholder.

Ihr Freund Wei Yi, der einst im Alter von 11 Jahren jüngster Großmeister aller Zeiten wurde, hat Ihnen zur Weltmeisterschaft ein Gedicht gewidmet. Er soll auch gern Tischtennis spielen. Zeigt er an der Platte auch seine Künste?

Das Gedicht hat mich damals sehr bewegt. Aber an der Platte ist er schlechter (schmunzelt). Da spielt er nicht so gut.

Spielen Sie lieber Schach oder Tischtennis mit ihm?

Tischtennis mit ihm macht mehr Spaß.

Welche Ziele haben Sie noch im Schach? Vielleicht Magnus Carlsen in der Elo-Weltrangliste überflügeln, um endlich die Fragen nach ihm loszuwerden?

Ich bin schon froh, wenn ich bei den Turnieren gut spiele.

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