Essaybuch der US-Autorin Leslie Jamison: Vermissen, was nicht war
Wie Elternschaft und Kunst vereinen und mit dem Beziehungs-Aus umgehen? Im Essaybuch „Splitter“ analysiert Leslie Jamison ihre vergangenen Jahre.
Jede Sprache hat Wörter, die in andere kaum übertragbar sind, nur umschrieben werden können. Im Walisischen gibt es den Begriff hiraeth, was in etwa bedeutet: „Heimweh nach einem Ort, der nicht mehr existiert oder vielleicht nie existiert hat“. Dieses Sehnsuchtsgefühl empfindet Leslie Jamison, wenn sie an ihre gescheiterte Ehe zurückdenkt. „Ich vermisste nicht das, was gewesen war, sondern das, was nicht gewesen war – ich hatte Heimweh nach dem, was wir uns beide erhofft hatten.“
Die US-amerikanische Essayistin widmet sich in ihrem neuen Buch „Splitter“ dieser gescheiterten Ehe, der Frage, wie man Mutterschaft mit dem Schreiben unter einen Hut bringt, und Reflexionen über die Einsamkeit, die sich mit dem Ausbruch der Pandemie vertieft. „Another Kind of Love Story“ lautet der Untertitel im Original – die Liebe, von der hier die Rede ist, gilt nicht den Männern, sondern umschreibt ihre völlige Hingabe zur neugeborenen Tochter, „meine Tochter. Unsere Tochter. Das Pluralpronomen vergaß ich immer.“
Das Memoir ist nicht so zersplittert wie der Titel andeutet. Es beginnt mit der zunächst noch glücklichen Beziehung mit ihrem späteren Ex-Mann C. (bei dem es sich um den hierzulande unbekannten Autor Charles Bock handelt) und einer überstürzten Hochzeit in Las Vegas. Doch schnell holt der Alltag sie ein; als das Kind geboren wird, sind beide schon lange in Paartherapie. Wie viele hoffen sie, „ein Baby würde uns dazu zwingen, zu einer neuen, besseren Version unserer Beziehung zu finden“. Doch natürlich geschieht das Gegenteil, die Trennung ist so alltäglich wie unschön.
Jamison changiert zwischen den Gefühlen, sieht in C. einerseits einen liebenden Vater, andererseits auch einen Mann voller Wut, der sie einmal mit den Worten „Warum isst du nichts, du magersüchtige Schlampe“ beschimpft. Seine Sicht auf die Trennung erfahren wir nicht. Immerhin: Er muss um seine Darstellung in „Splitter“ gewusst haben, an einer Stelle wird erwähnt, dass Jamison auf sein Bitten hin nicht über seine Tochter aus erster Ehe schreibt.
Leslie Jamison: „Splitter“. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Claassen, Berlin 2024. 304 Seiten, 24 Euro
Das zweite große Thema für Leslie Jamison ist ihre Doppelrolle als Mutter und als Schriftstellerin und Dozentin. Wieder und wieder betont sie, wie sehr sie ihre Tochter liebt, beschreibt aber auch die Monotonie und Schlaflosigkeit, die der Alltag mit einem Baby mit sich bringt. Und den nie enden wollenden Drang zu arbeiten, sowohl aus einem inneren Antrieb heraus, als auch um der Welt zu beweisen: Ich packe das. Als das Baby unmittelbar nach der Geburt zur Lichttherapie muss, klappt sie sofort ihren Laptop auf, um einen Artikel zu redigieren.
„Ich kann der reisende Vater und die fürsorgliche Mutter sein“, sagt sie sich auf einer Lesereise und weiß zugleich, „nur dank meiner Mutter konnte ich beides tun“, dank der Mutter, die ihr wiederholt das Kind abnimmt. Jamison ist nicht darauf aus, sich selbst in ein gutes Licht zu rücken. „Ich weiß nicht, ob ich [meine Tochter] deshalb jedes Mal mitnahm, weil ich so an ihr hing, oder weil ich mein Leben nicht ihretwegen umstellen wollte.“
„Splitter“ ist streckenweise ein wirklich gelungenes Buch, das Memoir besticht (von einigen arg blumigen Ausrutschern abgesehen) mit Leslie Jamisons klarer Prosa, interessanten Gedanken und diesen Momenten der Sehnsucht, hiraeth, die die Geschichte durchdringen. Allerdings offenbart das Essay bei all der Selbstreflexion und all ihrem Willen, sich ungeschönt darzustellen, zugleich auch Wahrnehmungslücken.
So bezeichnet sich Jamison mehrfach als alleinerziehend, dabei übernimmt C. die Tochter zweimal die Woche. Gewiss, die Hauptlast liegt immer noch auf ihr als Mutter (die teilweise von ihrer eigenen Mutter aufgefangen wird), doch alleinerziehend ist sie deswegen noch nicht – sie vergisst auch im übertragenden Sinn das Pluralpronomen, das „unsere“ Tochter.
Die tiefere Bedeutung des Alltags
Ein weiteres Problem von „Splitter“ ist, dass Jamison versucht, eine tiefere Bedeutung aus sämtlichen alltäglichen Situationen zu schälen. Ihren Studierenden gibt sie den (eigentlich sehr guten!) Tipp, „die anekdotischen Geschichten, die wir uns selbst und anderen über unser Leben erzählen“ aufzubrechen. „Wirf die Cocktailparty-Fassung raus […], damit ihr an die komplexere Geschichte darunter kommt: das Heimweh hinter der Wut, die Angst hinter dem Ehrgeiz.“
Jamison beherzigt ihren eigenen Ratschlag – keine Seite in „Splitter“ gleicht der Cocktailparty-Fassung. Aber: Nicht jedes Gefühl, nicht jedes Erlebnis ist so inhaltsschwer, wie sie stellenweise vorgibt. Ein wenig mehr bei der Normalität zu verbleiben und nicht alles als profundes Erlebnis zu framen, hätte dem Memoir gutgetan.
Die stärksten Passagen sind die, in denen Jamison das macht, wofür sie eigentlich bekannt ist: journalistische Arbeit mit Autofiktion verknüpfen. Etwa wenn sie im Brooklyn Museum darüber nachdenkt, dass sich Judy Chicago und Marina Abramović gegen Kinder entschieden haben, aus Angst, sonst keine Kunst mehr machen zu können.
Oder wenn sie Flavin Judd kontaktiert, den Sohn des alleinerziehenden Künstlers Donald Judd, um von ihm zu erfahren, ob Kinder und Kunst miteinander vereinbar sind, und frustriert ist, als er ihr nicht gibt, was sie hören will: „Er beharrte darauf, dass die Elternschaft die Kunst seines Vaters nicht geprägt hatte.“ Jamisons Memoir zumindest zeigt, dass es auch anders geht – denn ohne ihre Tochter hätte es dieses Buch wohl nicht gegeben.
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