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Situation in Gaza im NahostkriegKein Ort zum Leben

In Gaza kommen wieder mehr Hilfsgüter an. Sonst bleibt den Menschen kaum Hoffnung. Viele wollen ausreisen, müssen dafür aber sehr viel Geld zahlen.

Die israelischen Bodentruppen sind weg, die Stadt ist größtenteils zerstört: Ga­za­ne­r:in­nen in Chan Junis am 8. April Foto: Fatima Shbair/ap

Es gibt sie wieder. Bananen. Gurken. Hühnchen. Auf den Märkten in Gaza liegen frische Lebensmittel aus, zumindest vorläufig. Seit einigen Tagen kommen bedeutend mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen, und auch wenn die UN und Israel sich in den genauen Zahlen der einfahrenden Lastwagen nicht einig sind, steht fest: Der Effekt ist unter der Bevölkerung zu spüren.

Zwar liegen die Preise weiterhin bei einem Vielfachen des Vorkriegspreises, doch sie sinken wieder: Kostete ein Kilo Bananen in der vergangenen Woche noch mehr als umgerechnet 10 Euro, sind es nun rund 6 Euro.

„Ich hoffe, es geht so weiter“, sagt Bashir al-Ankah, der mit seiner Familie aus dem Norden Gazas nach Deir al-Balah geflohen ist, am Telefon. Chris Whitman von der Menschenrechtsorganisation Medico, der von Ramallah aus in Kontakt mit seinen Partnerorganisationen im Gazastreifen steht, betont, es sei zu früh für eine Entwarnung: „Noch immer hungern viele Menschen in Gaza“, so Whitman, „Was dort benötigt wird, ist ein beständiges und nachhaltiges Hilfsprogramm, das nicht von Israel behindert oder kontrolliert wird.“

Menschenrechts-NGOs warnen seit Monaten vor einer Hungersnot in Gaza. Die Zahlen des IPC, des international anerkannten Instruments zur Feststellung von Hungerkrisen, vom März 2024 sagen: 1,5 Millionen Menschen befinden sich in den höchsten zwei Stufen des Warnsystems für die Hungersnot – besonders viele sind es im Norden von Gaza, wohin Israel bis vor wenigen Tagen nur wenige Lastwagen mit humanitärer Hilfe passieren ließ. Vor allem unter kleineren Kindern gab es bereits einige Hungertote.

Der Umschwung in der israelischen Politik zur Versorgung des Gazastreifens mit Hilfslieferungen kam auf Druck aus dem Weißen Haus, nachdem sieben Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Hilfsorganisation World Central Kitchen durch israelisches Feuer getötet wurden. In einem angespannten Telefongespräch erklärte US-Präsident Joe Biden dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, dass Israel sofortige Maßnahmen ergreifen müsse, um das Leben von Zi­vi­lis­t*in­nen zu schützen und die Einfuhr von Lebensmitteln in den Gazastreifen zu ermöglichen.

Seitdem rollen also die Lastwagen, 95 Prozent kommen über den südlichen Grenzübergang. Der erste Halt ist damit die Stadt Rafah, in der rund eineinhalb Millionen Menschen, drei Viertel der Bevölkerung von Gaza, Zuflucht suchen und auf engstem Raum gedrängt leben.

Viele der Hilfslieferungen, die für den nördlichen Gazastreifen bestimmt waren, hat das israelische Militär in den vergangenen Wochen nicht passieren lassen. Seit einigen Tagen kommen jedoch auch Hilfslieferungen von einem neu eingerichteten Übergang aus in den Norden Gazas. Chris Whitman von Medico fürchtet jedoch, dass die Lieferungen schleichend wieder verringert werden könnten und in einigen Wochen der gleiche Zustand herrschen könnte wie im März.

Deal über eine Feuerpause

Die größte Unsicherheit, die die Menschen in Gaza derzeit umtreibt, ist die Frage, ob es zu einer israelischen Militäroffensive in Rafah kommen wird oder nicht. Der Rückzug eines großen Teiles der Bodentruppen hat einerseits Hoffnungen geweckt, dass ein Ende des Krieges bevorsteht oder zumindest ein Deal über eine Feuerpause, die in einen Waffenstillstand übergehen könnte. Andererseits wissen die Ga­za­ne­r:in­nen um Israels Versicherung, dass der Rückzug lediglich einer Neuorganisierung der Truppen diene.

Seitdem kommen widersprüchliche Nachrichten: Benjamin Netanjahu verkündete in einer Videobotschaft, der Termin für eine Offensive in Rafah stehe fest. Das israelische Militär vermutet, dass vier Bataillone der Hamas in der südlichen Stadt stationiert sind und sich Hamas-Anführer dort versteckt halten.

Möglicherweise werden auch einige der israelischen Geiseln dort festgehalten. Doch kurz nach Netanjahus Ankündigung widersprach Verteidigungsminister Joaw Gallant: Ein Termin stehe nicht fest.

International werden die Warnungen vor einer Offensive in Rafah immer lauter. Besonders bedeutend für den weiteren Verlauf des Krieges dürfte der Konflikt zwischen US-Präsident Biden und Netanjahu sein, der zunehmend öffentlich ausgetragen wird. Das Weiße Haus ist entschieden gegen eine breite Offensive in Rafah. Der israelische Evakuierungsplan sei nicht durchführbar.

Währenddessen zogen kurz nach dem israelischen Abzug Tausende von Rafah zurück in ihre Heimatstadt Chan Junis. Denn aus der südlich gelegenen Stadt zog das israelische Militär komplett ab. Die Truppen, die noch im Gazastreifen verbleiben, sichern nun vor allem die Trennung des Gazastreifens in ein nördliches und ein südliches Gebiet ab.

Die Rückkehr nach Chan Junis diente den meisten Menschen dazu, nach ihren Häusern zu sehen. Für viele war das, was sie sahen, ein Schock: Rund 55 Prozent der Gebäude – insgesamt rund 45.000 – sollen entweder schwer beschädigt oder völlig zerstört sein, so zeigen es nach Angaben der Kar­tie­rungs­ex­per­t:in­nen Corey Scher und Jamon Van Den Hoek Satellitenbilder, mit denen die beiden die Zerstörung seit Beginn des Krieges nachverfolgen.

Das Geschäft mit der Flucht

Auch Teile von ziviler Infrastruktur wie Wasserleitungen sind demnach unbrauchbar gemacht. „Auf der Suche nach einem Unterschlupf ziehen einige, die ihr Haus verloren haben, vorläufig in derzeit unbewohnte Häuser ein, die nicht ihnen gehören“, berichtet Whitman. Ob die Situation in Chan Junis so ist, dass die Rück­keh­re­r*in­nen in ihrer Heimatstadt bleiben und dort leben können, bleibe abzuwarten.

Nach wie vor ist das erklärte Ziel der allermeisten Gazaner:innen, das Kriegsgebiet so schnell wie irgend möglich zu verlassen. Zwar sind die Grenzübergänge sowohl nach Israel als auch nach Ägypten geschlossen, aber wer genug Geld auftreiben kann, den setzt verschiedenen Medienberichten zufolge eine Reiseagentur aus Kairo – Anbieter ist die Reiseagentur Hala Consulting and Tourism Service – auf eine Liste und ermöglicht so am Ende allen geschlossenen Grenzen zum Trotz doch die Ausreise nach Ägypten.

„Koordinationsgebühren“ heißen die zu zahlenden Gelder in der ägyptischen Bürokratie. Und die sind horrend. Pro Person sind es zwischen 5.000 und 6.000 Dollar, die die Menschen aufbringen müssen, um auf die Liste zu kommen. Wenn es besonders schnell gehen soll, kommen noch einige tausend Dollar hinzu.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Viele derjenigen, die den Gazastreifen verlassen wollen, versuchen über Crowdfunding-Plattformen an das benötigte Geld zu kommen. Meist geschieht das über die amerikanische Crowdfunding-Plattform gofundme. An sie fließen pro Spende jeweils 2,9 Prozent des Betrags.

Wer das Geld nicht zusammentreiben kann, harrt in Rafah aus, so wie beispielsweise Mohammed Mousa. Seine Frau und seine vier Kinder sind mittlerweile in Kairo. Für ihn hat das Geld vorerst nicht gereicht. „Ich bete jeden Tag, dass ich hier vor einer Militäroffensive herauskomme und zu meiner Familie kann“, schreibt er und fügt hinzu: „Ich kann nicht aufhören zu weinen.“

Nach wie vor können internationale Jour­na­lis­t:in­nen nicht nach Gaza reisen, um sich selbst ein Bild von der Situation dort zu machen – abgesehen von einzelnen vom israelischen Militär organisierten Fahrten in das Kriegsgebiet. In unserer Kolumne „Gaza-Tagebuch“ holen wir deswegen Stimmen aus dem Gazastreifen ein, um dennoch möglichst nah heranzukommen. Teils schreiben die Au­to­r:in­nen ihre Geschichten selbst, teils entstehen die Protokolle auf der Basis von Telefoninterviews.

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5 Kommentare

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  • Ägypten könnte jederzeit seine Grenzen für Palästinensische Kriegesflüchtende öffnen. Das UNHCR hätte schon vor Monaten Zeltstätte im Sinai errichten können. Hilfsorganisationen hätten überhaupt kein Problem damit Nahrung und Medizinische Hilfsgüter dorthin zu bringen, per Flugzeug, über Ägyptische Häfen oder auch über den Landweg. Ganz ohne israelische Kontrollen, Schikanen und Bedingungen. Die palästinensischen Zivilist*innen könnten aus der Kampfzone fliehen, würden von der Hamas nicht mehr als Schutzschild missbraucht werden können, nicht mehr Opfer israelischer Luftschläge werden, ihre Versorgung könnte sicher gestellt werden. Aus humanitärer Sicht wäre das die einfachste, sinnigste und auch nah liegenste Lösung.

    In jedem Krieg fliehen Menschen in sichere Nachbarländer, während des Syrien-Krieges hat das Nachbarland Türkei 3,5 Millionen Kriegsflüchtende aufgenommen, die ukrainischen Nachbarländer haben Millionen Geflüchtete aufgenommen usw. Nur in diesem speziellen Konflikt werden Zivilist*innen aktiv daran gehindert zu flüchten.

    Und das liegt nicht nicht einmal daran, das Ägypten sich grundsätzlich weigern würde geflüchtete Menschen aufzunehmen, das Land hat gerade aktuell seine Grenze für Kriegsflüchtende aus dem Sudan geöffnet — einzig für die Palästinenser*innen bleibt sie geschlossen.

    Denn das Leid und das Elend der Palästinenser*innen ist politisch gewollt, die Empörung darüber ist die beste Waffe im Kampf gegen Israel. In der Region, unter Israels Feinden, aber auch bei den Vereinten Nationen gibt es deshalb ein enormes Interesse daran den Status Quo zu erhalten -- das Leid und Elend der palästinensischen Zivilbevölkerung eingeschlossen.

    Würde Israel die letzen beiden Bataillone der Hamas in Rafha zerschlagen, den Krieg beenden und die Auflösung von UNWRA durchsetzen wäre genau dieser Status Quo gefährdet. Und das Hauptargument dagegen ist nunmal das Leid der Zivilbevölkerung, deswegen muss es weiter gehen.

  • Bezüglich der Menschlichen Schutzschilde.



    Es scheint so, als hätten Zivilisten versucht aus Rafah zu fliehen, wegen dem geplanten Streik.

    IDF sammelte sie ein und zwang sie zurück nach Rafah.

    Denkt darüber nach.

  • "Der Rückzug eines großen Teiles der Bodentruppen hat einerseits Hoffnungen geweckt, dass ein Ende des Krieges bevorsteht ..."

    Wie bereits mehrfach erwähnt bezweifle ich, dass es (auch für die Nicht-Hamas-Gaza-Bürger) ein friedliches Leben, in Sicherheit und Wohlstand geben kann, wenn die jüdische/Israel-Seite die verbliebenen ca. vier Bataillone in Rafah und vor allem die Anführer/des 07.10.23 nicht festsetzt. Dann würde es so weitergehen wie bisher und das nächste Pogrom erfolgen. Zwar gehe ich davon aus, dass es nach den nächsten Wahlen in Israel eine andere Regierung geben wird, aber auch in Gaza müsste sich etwas ändern, wenn Frieden erreicht werden soll.

    Was mich interessieren würde, ist, ob jetzt, wo ein Großteil der jüdisch/israelischen Bodentruppen abgezogen sind, ein paar der prominenten Anführer/Planer in Rafah bereits oberirdisch gesehen wurden.

  • "„Was dort benötigt wird, ist ein beständiges und nachhaltiges Hilfsprogramm, das nicht von Israel behindert oder kontrolliert wird.“"

    Wie die unkontrollierten Schulbücher, die zu Hass, Gewalt und Morden an jüdischen/israelischen Menschen aufrufen? Die Kontrolle der Hilfslieferungen durch Israel wäre nicht notwendig, wenn sich die jüdische/israelische Seite darauf verlassen könnte, dass die Hilfsorganisationen keine Waffen, waffenfähiges Material oder Kämpfer in das Kriegsgebiet bringen.



    Ich hielt das immer für selbstverständlich und habe erst anlässlich dieses Krieges gelernt, dass dem nicht so ist.

    "... besonders viele sind es im Norden von Gaza, wohin Israel bis vor wenigen Tagen nur wenige Lastwagen mit humanitärer Hilfe passieren ließ."

    Die nicht-kämpfenden Bürger im Norden von Gaza wurden wochenlang dazu aufgefordert den Norden zu verlassen. Meiner Einschätzung nach dürften sich dort nur noch Kämpfer und deren Anhänger aufhalten. Ob der Krieg beendet bzw. verkürzt werden kann, wenn man die Kampftruppe und deren Unterstützer lebensmitteltechnisch und medizinisch versorgt, kann und darf offen diskutiert werden.



    Ich selbst kann es nicht einschätzen, würde als Nicht-Fachfrau aber annehmen, dass es dem Ziel, den Krieg zu verkürzen oder zu beenden entgegensteht. Ich wiederhole: Nur meine Einschätzung als Nicht-Fachfrau. Es kann durchaus sein, dass Militärstrategen das anders sehen.

    "Seitdem rollen also die Lastwagen, ..."

    Sie rollten auch vorher, das ist belegt. Dass die Lebens- und Hilfsmittel nicht bei den Bedürftigen ankamen, sondern auf dem Schwarzmarkt verkauft werden, kann nicht der jüdisch/israelischen Seite angelastet werden. Ich wage die Behauptung, es sind keine jüdischen/israelischen Menschen, die die kostenlosen Lebensmittel auf den Märkten in Gaza verkaufen. Auch nicht die jüdischen/israelischen Soldaten in Gaza.

    • @*Sabine*:

      "Sie rollten auch vorher, das ist belegt." -von wem soll das bitte belegt worden sein? Den Israelis? Denn alle Staaten mit den jeweiligen Regierungschefs und Außenministern und alle Hilfsorganisationen haben genau das Gegenteil gesagt. Haben die jetzt alle gelogen? Selbst die Amerikaner, Briten und unsere eigene Regierung? Im Februar hatte sich die Zahl der Hilfslieferungen zum Vormonat sogar fast noch halbiert und der März sah nur zum Ende besser aus. Und alle haben dafür einen Schuldigen gesehen: Israel.



      Und man ist nicht dazu verpflichtet einer Evakuierung nachzukommen und verliert auch dadurch nicht seinen Schutz nach den Genfer Konventionen. Bitte informieren sie sich. Das ICRC gibt eindeutige Informationen dazu. Es waren viele Kranke, Alte, Menschen mit Behinderungen etc unter denen die nicht der Evakuierungsaufforderung gefolgt sind. Zudem haben gerade am Anfang nicht viele damit gerechnet, das die Kämpfe so lange dauern. In den ersten 6 Tagen gingen über 6000 Bomben auf den Norden runter, was nicht nur für viele Tote sondern auch Verletzte gesorgt hat, was wiederum eine Evakuierung erschwert hat. Dann haben viele versucht ihre Verwandte/ Freunde/ Nachbarn unter den Trümmern zu finden und es sind auch viele nach den ersten Wochen zurück gekehrt. Das ist alles dokumentiert auch das extrem gefährlich war, aus dem Norden zu fliehen als die Israelis mit der Bodenoffensive begonnen hatten. Und nochmal Zivilisten verlieren nicht ihren Schutzstatus nur weil sie nicht evakuieren. Sie dann als Kämpfer einzustufen ist gegen das humanitäre Völkerrecht.