Die Wahrheit: Rauchende Zimtschnecken
Von schwedischen Gardinen und dem gemütlichen Einzug der Genre-Fiktion in die Realität – so ermittelt jetzt Deutschlands Polizei.
Gemächlich radelt Lykke Lindquist auf dem Damenrad zum Einsatz. Ihr helles Sommerkleid bauscht sich in der frischen Brise, die von den nahen Schären herüber weht. Mit einer Hand hält Lindquist ihren Strohhut fest, der ebenso zur Polizeiuniform gehört wie der Weidenkorb mit den stets ofenfrischen Zimtschnecken.
Lindquist ist Chefermittlerin bei der „Cosy Crime Unit“, einer neu gegründeten Spezialeinheit der Duisburger Polizei. Bis zum letzten Jahr hat Lykke Lindquist noch als PK Hannelore Schybulski im Revier Dienst getan und ganz normale Kapitalverbrechen aufgeklärt.
„Aber Verfolgungsjagden, Schießereien und Action haben mich einfach nicht mehr interessiert“, erklärt Lindquist mit charmant schwedischem Akzent, den ihr ein Sprachlehrer antrainiert hat. Im TV und auf dem Buchmarkt ist das „Cosy Crime“-Segment, in dem sympathische Ermittlerinnen und Ermittler ihre Fälle mit viel Humor vor stets idyllischer Kulisse lösen, extrem erfolgreich. Nun soll diese sanfte Arbeitsmethode auch in der Realität Einzug halten.
„Wir müssen als Arbeitgeber attraktiv bleiben“, erklärt Roger Mierschel, Pressesprecher der Duisburger Polizei. „Und dazu müssen wir die Interessen unserer Mitarbeiter*innen berücksichtigen.“
Cosy Cops
Hannelore Schybulski gefällt die Arbeit als Cosy-Kommissarin. Besonders das geruhsame Erzähltempo ihrer neuen Fälle kommt der altgedienten Ermittlerin entgegen. Nachdem sie eine vermisste Katze zurück zu ihrem Besitzer gebracht und der Spurensicherung einen Apfelkuchen gebacken hat, trifft die Ermittlerin am Tatort ein.
„Ich übernehme“, klärt Lindquist die uniformierten Kollegen auf, die dort bereits seit drei Stunden warten. „Das ist ab sofort eine Cosy-Crime-Scene. Ihr wisst, was das bedeutet?“
Die Polizisten nicken seufzend. Ab sofort müssen sie so tun, als ob sie sich nicht mehr am Rheinufer in der Nähe des wenig pittoresken Duisburger Hafens, sondern in einer skandinavischen Sehnsuchtslandschaft befinden. „Die Destinationen wechseln allerdings“, klärt uns die vielseitige Kriminalistin auf. „Im letzten Monat habe ich als Mortimer Summerfield im ländlichen Südengland ermittelt, bald geht es in die Toskana.“
Lindquist weist die Beamten an, sich als herrlich skurrile Nebenfiguren nützlich zu machen, und wirft einen flüchtigen Blick auf die Leiche. „Wichtiger als die Ermittlungen sind aber Atmosphäre und Lokalkolorit“, gibt Lindquist zu.
Unterhaltsame Untersuchung
Deswegen wird nach dem Mord auch nicht das triste und deprimierende soziale Umfeld des Opfers untersucht, vielmehr wird ein schnuckeliges Café unter die Lupe genommen, in dem auch Backkurse gegeben werden. Lindquist hat sich vertraglich dazu verpflichtet, bei jedem Fall mindestens ein neues Plätzchenrezept zu ermitteln.
Der Pathologe, der routiniert den herrlich kauzigen Akademiker gibt, attestiert wunschgemäß als Todesursache eine „allergische Reaktion auf selbst gebackene Kekse“, obwohl die Leiche ganz offensichtlich von Projektilen durchsiebt ist.
„In der Unterwelt stößt der neue Ansatz noch nicht überall auf Akzeptanz“, gibt Pressesprecher Mierschel zu. „Da ist noch Überzeugungsarbeit zu leisten.“
Bei Herbert „Die Klöte“ Kaschinski ist das bereits gelungen. In einem von der Arbeitsagentur finanzierten Kurs wurde der Gewaltverbrecher auf „Cosy Crime“ umgeschult, während er eine Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung verbüßte.
„Es hat mir viel Spaß gemacht, Küchenuntensilien wie Bratspieße oder Waffeleisen auch mal als potenzielle Tatwaffen kennenzulernen“, freut sich der herrlich verrückte Psychopath.
„Jetzt möchte ich das Täterwissen natürlich schnell in die Straftat umsetzen. Außerdem werde ich ja auch nicht jünger. Wer weiß, wie lange meine Knochen das Knochenbrechen noch mitmachen.“
Rosamunde Pichler
Auch für die kriminelle Community, die wie viele andere Branchen an Überalterung und Fachkräftemangel leidet, könnten altersgerechte Straftaten eine Bereicherung sein.
Kaschinski, dem der physische Kontakt zum Kunden immer größtes Anliegen war, sieht im Cosy Crime außerdem eine Alternative zur unpersönlichen Cyberkriminalität.
Kürzlich ist ein Kassiber mit launigen Geständnissen aufgetaucht. Die originellen Taten wurden der Polizei anonym als gemütliche Verbrechen zur gemächlichen Aufklärung angeboten. Autor des Leitfadens mit dem Titel „111 Morde mit der Stricknadel“ soll ein Mafioso im Rentenalter sein, der das Handarbeiten für sich entdeckt hat.
Am Tatort im Duisburger Schärengarten gehen die Dinge derweil ihren routinierten Gang.
Lykke Lindquist lässt Anwohner befragen, doch niemand kann ein sachdienliches Plätzchenrezept beisteuern. Die Augenzeugen wollen bloß übereinstimmend einen Schützen gesehen, der aus nächster Nähe drei Schüsse abgegeben hat. Auch das Material der Überwachungskamera bringt Lindquist nicht weiter, es zeigt bloß die Tat. Doch ihre Frustration lässt sich die humorvolle Spürnase nicht anmerken.
„Für heute machen wir Schluss, ihr Lieben“, klatscht Lindquist fröhlich in die Hände, doch in den Feierabend entlässt die Chefin ihre Mitarbeiter deswegen längst nicht.
Ein Mittsommernachtskrimi
Die Ermittlerin lässt am Tatort eine große Kaffeetafel aufbauen, aus einem Peterwagen wird das gute Geschirr aufgetragen. Mild leuchtet das Abendlicht auf harten Bullengesichtern. Die meisten Kolleginnen und Kollegen würden sich lieber in einen Kugelhagel stürzen oder sich bereitwillig als Austauschgeisel bei einer Entführung zur Verfügung stellen, doch Lindquist lässt keine Ausflüchte gelten. Erst muss gesungen und um eine blumengeschmückte „Midsommarstång“ getanzt werden.
„Sollten wir vorher nicht das Mordopfer wegräumen?“, wendet eine Streifenpolizistin ein.
Widerstrebend muss die Chefermittlerin der humorlosen Untergebenen recht geben. Immerhin soll der Verblichene gleich morgen früh in der Gerichtsmedizin vom herrlich zerstreuten Pathologen mit einem anderen Leichnam verwechselt werden. „Das gibt immer ein großes Hallo“, freut sich Lykke Lindquist auf turbulente Verstrickungen.
Doch plötzlich schiebt sich eine dunkle Wolke vor die Sonne und saugt alle Farbe aus der Welt. Aus dem Nebel taucht ein melancholisch blickender Mann im Trenchcoat auf und bedenkt den Toten mit einem Blick, der um die Vergeblichkeit aller Aufklärung in einer Welt voll moralischer Abgründe weiß.
„Verpissen Sie sich“, ranzt der Schwarz-Weiße die Chefin der „Cosy Crime Unit“ an und zückt die Dienstmarke einer literarisch angeblich höher stehenden Behörde. „Das hier ist ab jetzt alles hardboiled.“
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